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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 28.02.2003
Aktenzeichen: 3 Ausl. 116/01
Rechtsgebiete: EuAlÜbk, IRG
Vorschriften:
EuAlÜbk Art. 2 | |
IRG § 73 |
Tatbestand:
Das Ministerium für Justiz der Republik Bulgarien ersucht um Auslieferung der Verfolgten zum Zweck der Vollstreckung einer restlichen Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 23 Tagen. Dem Ersuchen liegt ein rechtskräftiges Urteil des Bezirksgerichts G. (Republik Bulgarien) vom 02. Februar 1989 zugrunde, durch das die Verfolgte wegen besonders schwerer Amtsunterschlagung (Art. 203 Abs. 1 bulg. StGB) zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt worden ist. Hiervon hat die Verfolgte knapp 2 Jahre in bulgarischer Haft verbüßt; weitere 5 Jahre sind ihr durch Amnestie- bzw. Begnadigungsgesetze erlassen. Der Senat hat die Auslieferung für unzulässig erklärt.
Gründe:
II. 1. Der Auslieferungsverkehr mit der Republik Bulgarien richtet sich seit dem 15. September 1994 nach dem EuAlÜbk und dem Zweiten Zusatzprotokoll hierzu, und zwar auch für Altfälle, die vor dem bilateralen Inkrafttreten abgeurteilt worden sind (s. nur Senat, Beschl. v. 25. April 2002 - 3 Ausl. 8/02 = Justiz 2002, 567 zum US-AuslÜbk).
2. Nachdem die Republik Bulgarien die Gelegenheit wahrgenommen hat, die Auslieferungsunterlagen zu ergänzen, lässt sich aus der Gesamtheit der Urteilsgründe und der sonstigen dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen, namentlich der Einlassung der Verfolgten im bulgarischen Verfahren und im hiesigen Auslieferungsverfahren, ein - auch bei der Auslieferung zur Strafvollstreckung genügender (BGHSt 27, 168 [173 f.]) - dringender Tatverdacht für folgendes Geschehen herleiten: Frau P. war als Arbeitnehmerin und Amtsperson i.S. des bulgarischen Rechts bei dem Brotkombinat "E. A." der Stadt G. beschäftigt und im Lagerhaus tätig. Dort hatte sie Zugang zu Erzeugnissen des Brotkombinats, u.a. Eispulver, Kekse und Erdnüsse. Diese Erzeugnisse gab sie mit manipulierten Belegen für eigene Rechnung ab. In der Zeit vom Juni 1986 bis 04.11.1987, insbesondere in den Sommern 1986 und 1987, kaufte ihr die Verfolgte nach vorheriger Absprache in mindestens zwei bis drei zeitlich nicht bestimmbaren Fällen Eispulver und Kekse in nicht bestimmbarer Menge im Wert von mindestens jeweils 600,- bis 700,- Lewa ab. Zur Bezahlung der Frau P. verwendete die Verfolgte u.a. Goldschmuck, auch einen Kassettenrecorder. Das mit dem Eispulver gemachte Eis und die Kekse verkaufte die Verfolgte, wie von Anfang an geplant, für eigene Rechnung in einem Kiosk, den sie als Amtsperson i.S. des bulgarischen Rechts und angestellte Verkäuferin bei der Bezirksproduktionsgenossenschaft "S. P." in T. für deren Rechnung betrieb.
3. Die Auslieferung ist nicht schon deshalb unzulässig, weil es an der beidseitigen Strafbarkeit fehlen würde (Art. 2 Abs. 1 EuAlÜbk) (wird ausgeführt).
5. Jedoch führt eine Gesamtschau dazu, dass es als unerträglich hart und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen angesehen werden muss, die Restfreiheitsstrafe von 5 Jahren und 23 Tagen zu vollstrecken.
a) Um ein Auslieferungshindernis wegen übermäßiger Strafhöhe anzunehmen, genügt es allerdings nicht, dass die Strafe lediglich als in hohem Maße hart bzw. unter Anlegung der Maßstäbe der deutschen Rechtsordnung als zu hart anzusehen ist. Sie muss vielmehr als unerträglich hart und als unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheinen (BVerfG NJW 1994, 2884 mit weit. Nachw.; Senat Justiz 2002, 250 = NStZ-RR 2002, 180). Dabei kommt es stets auf den Einzelfall an (BGH NStZ 1993, 547). Erforderlich ist eine Gesamtschau, die ebenso das materielle Strafrecht wie auch den strafverfahrensrechtlichen Hintergrund berücksichtigen muss.
b) Bei dieser Gesamtschau kommt der Senat im Ergebnis zu einem Auslieferungshindernis.
aa) Die Strafrahmenwahl durch das Bezirksgericht G. lässt sich nicht nachvollziehen. Zwar mag auch in der Person der Verfolgten Art. 202 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 bulg. StGB erfüllt sein. Warum aber der Schaden ein besonders großes Ausmaß haben und zugleich ein besonders schwerer Fall i.S. von Art. 203 bulg. StGB vorliegen soll, wird nicht begründet und erhellt auch nicht aus den Auslieferungsunterlagen.
bb) Nicht nachvollziehen lässt sich weiterhin die Schadensberechnung. Ohne Individualisierung und Konkretisierung der Einzeltaten und der hierdurch verursachten Einzelschäden (hierzu Senat, Beschl. v. 14. Februar 2003 - 3 Ausl. 86/02) kommt das Bezirksgericht G. zur Feststellung eines Gesamtschadens von 15.678,28 Lewa. Dieser Gesamtschaden - nach heutigem Kurs ca. 7.900,- € - ist zwar gemessen an dem bulgarischen Durchschnittsjahreseinkommen - heute ca. 1.250,- € - sehr erheblich, zumal in einer Mangelwirtschaft, und würde bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts auch nach deutschem Recht eine Freiheitsstrafe - nicht freilich 12 bzw. 7 Jahre - rechtfertigen. Dem Senat drängen sich aber Zweifel an der Schadensfeststellung auf (vgl. § 10 Abs. 2 IRG). Der Goldschmuck, den Frau P. erhielt, hat unstreitig einen Wert von nur 1.114,94 Lewa - nach heutigem Kurs ca. 570,- €. Die Verfolgte gab zwar ausweislich des Protokolls zunächst einen Gesamtschaden von 9.500,- Lewa zu - nach heutigem Kurs ca. 4.800,- €. Das steht aber im Widerspruch zu ihrer späteren detailreicheren Angabe, sie habe insgesamt nur zwei- bis dreimal das Lagerhaus besucht und jeweils Waren für 600,- bis 700,- Lewa - nach heutigem Kurs ca. 305,- bis 360,- € - mitgenommen. Wird hiernach von einem Gesamtschaden von ca. 1.000,- € ausgegangen, so erscheint eine Bestrafung der Verfolgten mit einer Freiheitsstrafe von 12 - unter Berücksichtigung von Amnestie und Begnadigung 7 - Jahren auch dann als schlechthin unangemessen, wenn die Verhältnisse einer Plan- und Mangelwirtschaft berücksichtigt werden.
cc) Hinzu kommt, dass das Verfahren der Schadensfeststellung erhebliche rechtsstaatlich bedenkliche Mängel aufweist. Nachdem die Verfolgte die strafzumessungsentscheidende Höhe des ihr zur Last gelegten Schadens detailliert bestritten hatte, drängte sich eine diesbezügliche Beweisaufnahme mit detaillierter Beweiswürdigung auf. Beides ist nach den dem Senat vorliegenden Unterlagen nicht erfolgt. Insgesamt wurde die Verteidigung dadurch erschwert, dass es sich um ein Massenverfahren mit insgesamt 28 Angeklagten handelte, die teils durch dieselben Anwälte (teils Pflichtverteidiger) mehrfach verteidigt wurden. Dass ein solches Verfahren in den aus den Auslieferungsunterlagen allein ersichtlichen zwei Sitzungstagen im Abstand von über zwei Monaten (14. November 1988 und 23. Januar 1989) in rechtsstaatlich angemessener Weise erledigt werden konnte, unterliegt erheblichen Zweifeln.
6. Der Senat verkennt nicht, dass die Republik Bulgarien, ein Beitrittskandidat der Europäischen Union, beträchtliche Fortschritte bei der Durchführung ihrer Strategie zur Reform des Justizsystems erzielt hat (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Regelmäßiger Bericht 2001 bzw. 2002 über die Fortschritte Bulgariens auf dem Weg zum Beitritt, SEK[2001]1744 v. 13.11.2001 S. 18-20 bzw. SEK[2002]1400 v. 09.10.2002 S. 27-30; dies., Mitteilung an den Rat und das Parlament: Fahrpläne für Bulgarien und Rumänien, KOM[2002]624 v.13.11.2002 S. 8). Auch geht der Senat davon aus, dass die Verfolgte zwar systembedingtes, jedoch systemübergreifend strafwürdiges Unrecht zum Nachteil öffentlichen Eigentums bzw. Vermögens verwirklicht hat. Dieses Unrecht hat die Verfolgte aber durch die insgesamt für knapp 2 Jahre in Bulgarien vollzogene Untersuchungs- und Strafhaft gesühnt. Einer weitergehenden Anerkennung des Urteils des Bezirksgerichts G. vom 02. Februar 1989 steht entgegen, dass dieses Urteil seinem Wesen nach kein rechtsstaatliches Erkenntnis war, sondern eine drakonische Maßnahme der bereits wankenden, im November 1989 gestürzten kommunistischen Herrschaft gegen die für Plan- und Mangelwirtschaften typische Schattenwirtschaft.
III. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 77 IRG i. V. mit sinngemäßer Anwendung von § 467 StPO (Schomburg/Lagodny a.a.O. § 40 Rdnr. 35; § 77 Rdnr. 10).
Ende der Entscheidung
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