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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 29.06.2009
Aktenzeichen: 3 Ausl. 175/08
Rechtsgebiete: RbEuHb, IRG, GG, ital. StPO, ital. BtMG
Vorschriften:
RbEuHb Art. 3 Nr. 2 | |
IRG § 83 Nr. 1 | |
GG Art. 103 Abs. 3 | |
ital. StPO Art. 649 | |
ital. BtMG Art. 73 | |
ital. BtMG Art. 74 |
Oberlandesgericht Stuttgart - 3. Strafsenat -
Geschäftsnummer: 3 Ausl. 175/08
Beschluss vom 29. Juni 2009
in der Auslieferungssache des italienischen Staatsangehörigen G. M ., geboren am
Tenor:
Das Verfahren wird ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Beurteilt sich die Frage, ob "dieselbe Handlung" im Sinne von Art. 3 Nr. 2 Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 v. 18.07.2002 S. 1 - RbEuHb) vorliegt,
a) nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats,
b) nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats oder
c) nach einer autonomen unionsrechtlichen Auslegung des Begriffs "dieselbe Handlung"?
2. Ist eine unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln "dieselbe Handlung" im Sinne des Art. 3 Nr. 2 RbEuHb wie die Mitgliedschaft in einer Vereinigung mit dem Zweck unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln, sofern die Ermittlungsbehörden zum Zeitpunkt der Aburteilung der Einfuhr Informationen und Beweis hatten, wonach der dringende Verdacht einer Mitgliedschaft bestand, es aber aus ermittlungstaktischen Gründen unterließen, dem Gericht die diesbezüglichen Informationen und Beweise zu unterbreiten und deswegen Anklage zu erheben?
Gründe:
1. Das Vorabentscheidungsersuchen stützt sich auf Art. 35 Vertrag über die Europäische Union (EUV) in Verbindung mit § 1 des deutschen Gesetzes vom 06. August 1998 betreffend die Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens auf dem Gebiet der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach Artikel 35 des EU-Vertrages (EuGH-Gesetz - EuGHG, BGBl. 1998 I S. 2035).
2. Das Ersuchen betrifft die Auslegung des Art. 3 Nr. 2 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 v. 18.07.2002 S. 1 - RbEuHb)
3. Es ergeht im Rahmen eines vor dem Oberlandesgericht anhängigen, schwebenden Auslieferungsverfahrens aufgrund eines italienischen Europäischen Haftbefehls gegen Herrn M..
Europäischer und nationaler rechtlicher Rahmen
4. Art. 3 Nr. 2 RbEuHb lautet:
Artikel 3. Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist
Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats (nachstehend "vollstreckende Justizbehörde" genannt) lehnt die Vollstreckung des Europäischen Haftbe fehls ab,
(...)
2. wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedsstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Falle einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann (...).
Sinn und Zweck der Vorschrift ist es, die Beachtung des Verbots der mehrfachen Strafverfolgung wegen derselben Tat ("ne bis in idem") auch im Rahmen der gegenseitigen Anerkennung Europäischer Haftbefehle zu gewährleisten.
5. Der deutsche Gesetzgeber hat Art. 3 Nr. 2 RbEuHb in § 83 Nr. 1 Gesetz vom 23. Dezember 1982 über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) in der Fassung des Europäischen Haftbefehlsgesetzes vom 20. Juli 2006 (BGBl. 2006 I S. 1721 - EuHbG) umgesetzt. Die Vorschrift lautet:
§ 83. Ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzungen
Die Auslieferung ist nicht zulässig, wenn
1. der Verfolgte wegen derselben Tat, die dem Ersuchen zugrunde liegt, bereits von einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall der Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann, (...).
6. Der Grundsatz "ne bis in idem" ist im deutsche, italienischen und europäischen Recht vielfach abgesichert und gehört zu den Justizgrundrechten und allgemeinen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 6 Abs. 2 EUV. Im deutschen Recht bestimmt Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949:
Artikel 103 [Grundrechte vor Gericht] (3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.
Im italienischen Recht bestimmt Art. 649 Codice di procedura penale (im Folgenden: C.p.p.):
Articulo 649. Divieto di un secondo giudizio 1. L'imputato prosciolto o condannato con sentenza o decreto penale divenuti irrevocabili non può essere di nuovo sottoposto a procedimento penale per il medesimo fatto, neppure se questo viene diversamente consideato per il tito- lo, per il grado o per le circostanze, salvo quanto disposto dagli articoli 69 comma 2 e 345.
2. Se ciò nonostante viene di nuovo iniziato procedimento penale, il giudice in ogni stato e grado del processo pronuncia sentenza di proscioglimento o di non luogo a procedere, enunciandone la causa nel dispositivo.
Im europäischen Recht bestimmt Art. 50 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. EU Nr. C 306 vom 17. Dezember 2007 S. 1):
Artikel 50. Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden
Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.
Auch Art. 4 des Protokolls Nr. 7 vom 22. November 1984 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert den Grundsatz "ne bis in idem".
7. Im transnationalen Kontext sind weiterhin Art. 54 ff. Übereinkommen vom 19. Juni 1990 zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen und die bekannte diesbezügliche Rechtsprechung des Gerichtshofs zu erwähnen (s. noch unten Nr. 19 ff.). Allerdings betrifft der vorliegende Fall nicht die Konstellation des transnationalen "ne bis in idem", da der Urteilsstaat selbst die möglicherweise selbe Tat nochmals verfolgen will.
8. Im einzelnen betrifft der vorliegende Fall vor allem die Frage, wie sich sogenannte "Organisationsdelikte" zu im Rahmen der Organisation begangenen Einzeltaten unter dem Gesichtspunkt des "ne bis in idem" verhalten. Deshalb ist vorliegend auch das anwendbare nationale italienische Strafrecht von Bedeutung, namentlich Art. 73 und 74 Decreto del Presidente della Repubblica 9 ottobre 1990 n. 309 "Testo unico delle leggi in materia di disciplina degli stupefacenti e sostanze psicotrope (...)" (im Folgenden: D.P.R. n. 309/90). Die Vorschriften lauten in den hier interessierenden Teilen:
Art. 73. Produzione, traffico e detenzione illeciti di sostanze stupefacenti o psicotrope
1. Chiunque, senza l'autorizzazione di cui all'articolo 17, coltiva, produce, fabbrica, estrae, raffina, vende, offre o mette in vendita, cede, distribuisce, commercia, transporta, procura ad altri, invia, passa o spedisce in transito, consegna per qualunque scopo sostanze stupefacenti o psicotrope di cui alla tabella l prevista dall'articolo 14, è punito con la reclusione da sei a venti anni e con la multa da euro 26.000 a euro 260.000.
(...)
6. Se il fatto è commesso da tre o plù persone in concorso tra loro, la pena è aumentata.
Art. 74. Associazione finalizzata al traffico illecito di sostanze stupefacenti o psicotrope
1. Quando tre o più persone si associano allo scopo di commettere più delitti tra quelli previsti dall'articolo 73, chi promuove, constituisce, dirige, organizza o finanzia l'associazione è punito per ciò solo con la reclusione non inferiore a venti anni.
2. Chi partecipia all'associazione è punito con la reclusione non infe riore a dieci anni.
3. La pena è aumentata se il numero degli associati è di dieci (...).
Ausgangsverfahren
9. Mit Europäischem Haftbefehl des T. d. C., S. d. G. p. l. I. P., Aktenzeichen 1905/04 (R.G.G.I.P.), vom 07. November 2008 beantragt dieses Gericht, Herrn M. zum Zwecke der Strafverfolgung festzunehmen und zu übergeben. Dem Europäischen Haftbefehl liegt ein nationaler Haftbefehl des T. di C. vom 05. September 2008, Aktenzeichen 2520/03 oder 2523/03 (R.G.N.R.), 1904/04 (R.G.G.I.P.), 567/08 gegen Herrn M. und 76 Mitbeschuldigte zugrunde. Ihm werden zwei Straftaten ("A" und "B") vorgeworfen:
(A) Er habe sich in der Zeit kurz vor Januar 2004 bis nach November 2005 handelnd in V./I. R., anderen i. Orten und auch in der B. D. , mit über zehn weiteren Personen zu einer kriminellen Vereinigung mit dem Ziel des unerlaubten Handels mit dem Betäubungsmittel Kokain zusammengeschlossen und die Rolle eines Kuriers, Zuständigen für die Beschaffung des Kokains, Händlers und Mittelsmannes von Händlern übernommen. Die Tat sei gemäß Art. 74 Abs. 1-3 D.P.R. n. 309/90 mit Freiheitsstrafe nicht unter zwanzig Jahren, diese geschärft, bedroht.
(B) Er habe in dieser Zeit an diesen Orten einzeln und manchmal gemeinschaftlich handelnd als Mittäter Kokain unerlaubt erworben oder jedenfalls entgegengenommen, befördert, besessen, verkauft oder an Dritte veräußert. Die Tat sei gemäß Art. 73 Abs. 1, 6 D.P.R. n. 309/90 mit Freiheitsstrafe von acht bis zwanzig Jahren, diese geschärft, bedroht.
Weiterhin wird Herrn M. der Strafschärfungsgrund des Art. 80 Abs. 1 Buchstabe a) D.P.R. n. 309/90 zur Last gelegt, da sich die Vereinigung eines Minderjährigen bedient hab bzw. an diesen Kokain geliefert habe.
10. Dem nationalen Haftbefehl lässt sich das folgende wesentliche Ermittlungsergebnis entnehmen: Spätestens seit Januar 2004 ermittelten verschiedene i. Ermittlungsbehörden wegen unerlaubten Betäubungsmittelhandels im Gebiet von V./I. R. . Wesentliche Ermittlungsmaßnahme waren umfangreiche Telekommunikationsüberwachungen. Bereits im Laufe des Jahres 2004 war den Ermittlungsbehörden klar geworden, dass es sich um organisierten Betäubungsmittelhandel handelte und zwei kriminelle Vereinigungen bestanden, weshalb neben Art. 73 auch Art. 74 D.P.R. n. 309/90 in Betracht kam. Die Erkenntnisse gegen Herrn M. beruhen auf der Überwachung von 62 Telefongesprächen in der Zeit vom 19. Januar bis zum 13. September 2005. In einem Telefongespräch am 27. Februar 2005 sprach Herr M. mit einem Mann über Betäubungsmittel. Nach der Verhaftung zweier Mitbeschuldigter am 13. Mai 2005 soll Herr M. die Rolle eines Drogenkuriers des Anführers einer der beiden kriminellen Vereinigungen übernommen haben und am 28. Juli 2005 sowie am 12. August 2005 von S. nach M./I. R. gereist sein, um Betäubungsmittel zu beschaffen. Eine weitere Reise des Verfolgten am 12. September 2005 von S. nach E./B. D. und zurück nach C./I. R. wurde vollständig überwacht. In E. . kaufte der Verfolgte rund 150 Gramm Kokain. Als er am späten Abend des 13. September 2005 mit dem Zug am Bahnhof von C. eintraf, wurde er auf Veranlassung der Ermittlungsbehörden von der Bahnpolizei festgenommen und durchsucht. In seiner Unterhose wurden zwei Hüllen mit 9,5 und 145,96 Gramm Kokain entsprechend 599 bis 719 Verkaufsdosen gefunden.
11. Mit Urteil des T. d. C., S. d. G. p. l. I. P. vom 30. Novembre 2005, Aktenzeichen 10810/05 (R.G.N.R.), 10595/05 (R.G.G.I.P.), 954/05 wurde Herr M. wegen einer Straftat nach Art. 73 Abs. 1 D.P.R. n. 309/90 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren, sechs Monaten und zwanzig Tagen und zu einer Geldstrafe in Höhe von 13.000 Euro verurteilt. In der Anklage warf die Staatsanwaltschaft C. ihm vor, er habe am 13. September 2005 in C. unerlaubt insgesamt 155,46 Gramm Kokain, aufgrund des Wirkstoffgehalts 599 bis 719 Verkaufsdosen, in seiner Unterhose versteckt befördert und zum weiteren Verkauf besessen, was das Gericht für erwiesen hielt. Das Urteil erging im abgekürzten Verfahren (giudizio abbreviato) nach Buch VI, Titel I, Art. 438-443 C.p.p. Dieses Verfahren wird nur auf Antrag des Beschuldigten eingeleitet (Art. 438 C.p.p.); viele Beschuldigte stellen einen solchen Antrag, weil die Strafe dann um ein Drittel gemildert wird (Art. 442 Abs. 2 Satz 1 C.p.p.), wie es auch im vorliegenden Fall geschah. Die C. d'A. d. C. bestätigte mit Urteil vom 18. April 2006 die Verurteilung, die am 11. Juni 2006 rechtskräftig wurde. Aufgrund Art. 174 Codice penale (im Folgenden: C.p.) in Verbindung mit Art. 672 C.p.p. und mit dem Gestz Nr. 241 vom 31. Juli 2006 "Gewährung eines Straferlasses" (Gazetta Ufficiale Nr. 176 vom 31. Juli 2006) beschloss das T. d. C., S. d. G. p. l. I. P. , am 09. Januar 2007, Herrn M. die noch zu verbüßende Freiheitsstrafe von zwei Jahren, sieben Monaten und dreißig Tagen sowie einen Teil der Geldstrafe in Höhe von 10.000 Euro zu erlassen. Hiernach hat Herr M. zehn Monate und zwanzig Tage Freiheitsstrafe tatsächlich verbüßt; der Rest ist ihm erlassen worden.
12. Das Oberlandesgericht ist der Frage nachgegangen, warum Herrn M. nicht bereits in diesem Strafverfahren (im Folgenden: Erstverfahren) der nunmehr dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegende Vorwurf - vor allem einer Straftat nach Art. 74 D.P.R. n. 309/90 - gemacht wurde. Hierzu heißt es in dem nationalen Haftbefehl:
"Erweitert werden konnte der Rahmen der Indizien (...) auch aufgrund [einer Reihe) von Festnahmen auf frischer Tat, die zwar zufällig erschienen, tatsächlich aber eng mit den laufenden Überwachungen verbunden waren, da nämlich die taktische Entscheidung, wann und wo festgenommen werden (...) soll te, Ergebnis sorgfältiger Ermittlungsentscheidungen war.
Hierunter fallen: (...) [2] die Festnahme von G. M. (...)."
Weiterhin heißt es dort, dass
"es für opportun gehalten wurde, keine vollständige discovery vorzunehmen, als bei M.s Festnahme auf frischer Tat durch die Staatspolizei am 13. September 2005 am Bahnhof von C. eine Ladung Kokain von ca. 150 Gramm bei ihm aufgefunden wurden. Unter diesen Umständen hätte die gleichzeitige Festnahme von M.' (scil. einem Mitbeschuldigten) zwingend zur Aufdeckung der Durchführung von Überwachungsmaßnahmen geführt und somit die weitere Entwicklung der Ermittlungen gefährdet."
Schließlich wird dort ausgeführt:
"Die gegenständliche Verhaftung (scil. M.) führte nicht nur zur Verurteilung des Vorgenannten (...), sondern hat es auch ermöglicht, C.-L.Fähigkeit, Beschaffungskanäle - im vorliegenden Fall in Deutschland - zu diversifizieren, besser zu verstehen und auch die Art und Weise, auf die er die Droge nach V. kommen lässt. (...)
Tatsächlich ermöglichte M. Verhaftung jedoch aus offensichtlichen Zweckmäßigkeitserwägungen bzw. um weitere Untersuchungsfortschritte nicht zu gefährden, keine darüber hinaus gehende (Fort-)Entwicklung (...)".
Deshalb ist das Oberlandesgericht zu dem Schluss gekommen, dass die i. Ermittlungsbehörden bereits im Erstverfahren Informationen und Beweise hatten, wonach der Verfolgte dringend verdächtig war, diejenigen Straftaten begangen zu haben, die nunmehr Gegenstand des Europäischen Haftbefehls sind, dass sie aber aus ermittlungstaktischen Gründen diese Informationen und Beweise der Untersuchungsrichterin vorenthielten und nur einen auch ohne Offenlegung dieser Informationen und Beweise nachweisbaren Einzelfall anklagten sowie nach Art. 73 ital. BtMG aburteilen ließen.
13. Über eine Ausschreibung im Schengener Informationssystem erhielt die Generalstaatsanwaltschaft S. am 03. Dezember 2008 Kenntnis von dem Europäischen Haftbefehl. Am 29. Dezember 2008 wurde Herr M. in seiner S. Wohnung festgenommen und dem Richter des Amtsgerichts S. vorgeführt. In der Vernehmung wies Herr M. auf das Erstverfahren hin, erklärte sich mit einer vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden und verzichtete nicht auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes. Auf Antrag der Genaralstaatsanwaltschaft S. erließ das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 22. Januar 2009 Auslieferungshaftbefehl und ersuchte die i. Stellen um Unterlagen, um prüfen zu können, ob die Rechtskraft des Urteils vom 30. November 2005 der Auslieferung entgegenstehe. Als diese Unterlagen nach zwei Monaten noch nicht vorlagen, sette das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 20. März 2009 den Auslieferungshaftbefehl außer Vollzug und bestellte Herrn M. wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage einen Beistand. Am 04. April 2009 erklärte die zuständige Untersuchungsrichterin des T. d. C., es handele sich nicht um einen Fall von doppelter Strafverfolgung oder von "ne bis in idem". Daraufhin hat die Generalstaatsanwaltschaft S. beantragt, den Auslieferungshaftbefehl wieder in Vollzug zu setzen und die Auslieferung des Herrn M. an die I. R. für zulässig zu erklären. Am 19. Mai 2009 ist der nationale Haftbefehl dem Senat vorgelegt worden.
Zur ersten Vorlegungsfrage
14. Um über die Zulässigkeit der Auslieferung entscheiden zu können, muss das Oberlandesgericht zunächst wissen, ob sich die Frage nach "derselben Handlung" im Sinne des Art. 3 Nr. 2 RbEuHb nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats (hier: I. R.), des Vollstreckungsmitgliedstaats (hier: B. D.) oder nach einer autonomen unionsrechtlichen Auslegung beurteilt.
15. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung könnte dafür ins Feld geführt werden, dass es in Fällen der vorliegenden Art ausschließlich auf das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats ankommen sollte. Wäre das die Lösung, so würde das Oberlandesgericht die Auskunft der Untersuchungsrichterin des T. d. C., der Grundsatz "ne bis in idem" stehe nach i. Recht dem Europäischen Haftbefehl nicht entgegen, hinnehmen und die Auslieferung für zulässig erklären.
16. Man könnte sich aber auch auf den Standpunkt stellen, dass die Beurteilung der Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, Sache des Vollstreckungsstaats ist und sich nach dessen Recht richtet. Wäre das die Lösung, so würde das Oberlandesgericht von der Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofs (im Folgenden: BGH) ausgehen. Hiernach ist die nachträgliche Verfolgung eines sogenannten Organisationsdelikts grundsätzlich möglich, wenn zuvor nur einzelne Betätigungen des Mitglieds einer solchen Organisation Gegenstand der früheren Anklage und gerichtlichen Untersuchung waren und der Angeklagte nicht darauf vertrauen durfte, dass durch das frühere Verfahren alle Betätigungsakte für die Vereinigung erfasst wurden (BGH, Amtl. Slg. Band 46 S. 349, 358; s. bereits Band 43 S. 252, 257; BGH Neue Zeitschrift für Strafrecht 2001 S. 436, 438; weiterhin Krauth, in: Festschrift Kleinknecht, 1985, S. 215, 229 ff.). Das Oberlandesgericht würde freilich die in der deutschen Literatur hiergegen erhobenen Einwände (z. B. Verrel, Juristische Rundschau 2002 S. 212, 214) und vor allem den Umstand würdigen, dass vorliegend die i. Ermittlungsbehörden - entgegen dem auch im i. Recht geltenden sogenannten Legalitätsprinzip - dem Gericht bewusst Informationen und Beweise vorenthalten haben, um, ohne die andauernden Ermittlungen zu gefährden, wenigstens eine teilweise Verurteilung des Herrn M. zu erreichen. Die Lösung des BGH überzeugt das Oberlandesgericht ohne Weiteres nur in Fällen, in denen zum Zeitpunkt der Aburteilung der Einzeltat den Ermittlungsbehörden nicht bekannt war, dass noch weitere Einzeltaten und insgesamt ein Organisationsdelikt vorlagen.
17. Am nächstliegenden erscheint es dem Oberlandesgericht, im Hinblick auf das Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. Juni 2005 - C 105/03 (M. P.) = Sammlung 2005 I-5285 davon auszugehen, dass
- erstens die Auslegung des § 83 Nr. 1 IRG "rahmenbeschlusskonform", nämlich konform zum Inhalt des Art. 3 Nr. 2 RbEuHb, erfolgen muss und
- zweitens Rahmenbeschlüsse nach allgemeinen Regeln autonom-unionsrechtlich und nicht in Abhängigkeit von irgend einer nationalen Rechtsordnung auszulegen sind, was freilich
- drittens weder in der Rechtsprechung des Gerichtshofs - soweit dem Oberlandesgericht bekannt - geklärt noch klar und einfach zu beantworten ist.
Zur zweiten Vorlegungsfrage
18. Dem Oberlandesgericht ist keine Entscheidung des Gerichtshofs bekannt, in der zum Begriff "dieselbe Handlung" in Art. 3 Nr. 2 RbEuHb Stellung genommen wird.
19. Im Hinblick darauf, dass eine Vorlage an den Gerichtshof unzulässig ist, wenn die entscheidungserhebliche Frage in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits geklärt oder zumindest klar und einfach zu beantworten ist, hat sich das Oberlandesgericht gefragt, ob die bekannte Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff "dieselbe Tat" in Art. 54 SDÜ ohne Weiteres auf Art. 3 Nr. 2 RbEuHb zu übertragen ist und für den vorliegenden Fall ein klares und einfaches Ergebnis ergibt. Das Oberlandesgericht meint, das sei nicht der Fall.
20. Ob sich eine Rechtsprechung, die das transnationale "ne bis in idem" nach Art. 54 SDÜ betrifft, ohne Weiteres auf die hier entscheidungserhebliche intranationale Konstellation übertragen lässt, versteht sich nicht von selbst (s. bereits oben Nr. 7).
21. Zu Art. 54 SDÜ hat der Gerichtshof mittlerweile eine gefestigte Linie entwickelt, die namentlich in den Urteilen vom 09. März 2006 - C-436/04 "Esbroeck" = Slg. 2006 I-2333 und vom 18. Juli 2007 - C-367/05 "Kraaijenbrink" = Slg. 2007 I-6619 zusammengefasst wird. Hiernach ist das maßgebende Kriterium die Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse. Die Verbindung mehrerer Taten durch einen einheitlichen Vorsatz genügt als solche nicht. Im Übrigen ist es Sache der nationalen Gerichte zu prüfen, ob der Grad der Identität und des Zusammenhangs aller zu vergleichenden tatsächlichen Umstände den Schluss zulässt, dass es sich um "dieselbe Tat" handelt, und die endgültige Beurteilung obliegt den nationalen Gerichten.
22. Nach diesen Maßstäben liegt es auf den ersten Blick nahe anzunehmen, dass eine einzelne Einfuhr von Betäubungsmitteln nicht "dieselbe Tat" bzw. "Handlung" wie ggf. jahrelange Mitgliedschaft in einer Vereinigung mit dem Zweck unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln und zahlreiche weitere Einzeltaten ist. Aber so würde die eigentliche und entscheidungserhebliche Frage des vorliegenden Falles nicht erfasst. Sie lautet, auf welchen Zeitpunkt des Erstverfahrens es ankommt. Nach herkömmlicher Auffassung z. B. des deutschen Rechts kommt es darauf an, welcher Tatsachenkomplex dem Gericht im Erstverfahren zur Aburteilung unterbreitet worden ist. Die Besonderheit des vorliegenden Falles liegt darin, dass die Ermittlungsbehörden dem Gericht Informationen und diesbezügliche Beweise über den angeklagten Tatsachenkomplex aus ermittlungstaktischen Gründen nicht unterbreitet haben, um einerseits eine (Teil-) Verurteilung des Angeklagten zu erwirken und andererseits laufende Ermittlungen nicht zu gefährden. In solchen Fällen fragt sich, ob für die Anwendung des Grundsatzes "ne bis in idem" der gesamte den Ermittlungsbehörden bereits bekannte Tatsachenkomplex als abgeurteilt gelten muss, gleich ob er dem Gericht unterbreitet worden ist oder - möglicherweise pflichtwidrig - nicht. Eben diese Frage ist - soweit dem Oberlandesgericht ersichtlich - vom Gerichtshof noch nicht entschieden worden und auch nicht klar und einfach zu beantworten. Sie wird dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt. Dabei geht das Oberlandesgericht davon aus, dass
- es erstens nicht nur rechtlich möglich bzw. nach Art. 35 Abs. 3 Buchstabe a) EUV, § 1 Abs. 2 EuGHG geboten, sondern auch wünschenswert ist, wenn der Gerichtshof über die für die Verfolgung organisierter Kriminalität praktisch wichtige Frage entscheidet, unter welchen Voraussetzungen die rechtskräftige Aburteilung von Einzeltaten die nachträgliche Verfolgung von Organisationsdelikten unter dem Gesichtspunkt "ne bis in idem" ausschließt und
- sich zweitens vergleichbare Fragen in allen Mitgliedstaaten stellen, die einerseits Art. 3 Nr. 2 RbEuHb umgesetzt haben und andererseits Organisationsdelikte kennen, was gerade im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität in den meisten Mitgliedstaaten der Fall sein dürfte.
Zur Frage eines Eilverfahrens
23. Im Hinblick auf die am 01. März 2008 in Kraft getretene Änderung der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 15. Januar 2008 (ABl. EU Nr. L 24 v. 29. Januar 2008 S. 39) und den gleichfalls am 01. März 2008 in Kraft getretenen Beschluss des Rates vom 20. Dezember 2007 zur Änderung des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs (ABl. EU a.a.O. S. 42) stellt sich vorliegend die Frage eines Eilverfahrens vor dem Gerichtshof.
24. Einerseits sind Europäische Haftbefehle Eilsachen und fristgebunden. Andererseits darf die Beschleunigung nicht zu Lasten von Recht und Gerechtigkeit gehen. Das Oberlandesgericht hat den Auslieferungshaftbefehl gegen Herrn M. außer Vollzug gesetzt, und Herr M. befindet sich unter Auflagen auf freiem Fuß und hat die Auflagen bislang erfüllt. Dem Oberlandesgericht sind keine Umstände bekannt, die zu einer baldigen Verfolgungsverjährung führen könnten. Von daher erscheint ein Eilverfahren nicht unbedingt als notwendig. Um den i. Stellen entgegenzukommen, beantragt das Oberlandesgericht gleichwohl vorsorglich ein Eilverfahren gemäß Art. 23a des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs und Art. 104b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, jeweils in der ab dem 01. März 2008 geltenden Fassung.
Ende der Entscheidung
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