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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 08.01.2002
Aktenzeichen: 3 Ausl. 63/01
Rechtsgebiete: EuAlÜbk, IRG


Vorschriften:

EuAlÜbk Art. 2
IRG § 15 Abs. 2
IRG § 73
Die Auslieferung zwecks Vollstreckung einer Zuchthausstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten wegen Erwerbs und Abgabe von 0,05 g Heroin unbekannten Wirkstoffgehalts ist jedenfalls dann unzulässig, wenn der Verfolgte nicht vorbestraft war, im Rahmen einer Konsumentengemeinschaft handelte und nach der Tat mit den Behörden kooperierte, indem er durch einen Scheinkauf zur Überführung des Verkäufers beitrug.
Tatbestand:

Das türkische Justizministerium ersucht 2001 um Festnahme und Auslieferung des Verfolgten zwecks Vollstreckung einer Zuchthausstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten wegen einer 1995 begangenen und 1996 abgeurteilten Betäubungsmittelstraftat. Der Senat hat den Erlass eines Auslieferungshaftbefehls abgelehnt.

Gründe:

3. (...) a) Zu den völkerrechtlichen Mindeststandards und den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, die auch im vertraglichen Auslieferungsverkehr zu beachten sind (s. jüngst BGH, Beschl. v. 16. Oktober 2001 - 4 ARs 4/01), zählt nicht nur das Verbot grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Strafen (Art. 3 EMRK), sondern auch das Verbot schlechterdings nicht mehr schuldangemessener Strafen (zusammenfassend Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 3. Aufl. 1998, § 73 Rdn. 60). Nicht genügend ist allerdings, dass die Strafe lediglich als in hohem Maße hart bzw. unter Anlegung der Maßstäbe der deutschen Rechtsordnung als zu hart anzusehen ist; sie muss vielmehr als unerträglich hart und als unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheinen (BVerfG NJW 1994, 2884 mit weit. Nachw.). Dabei kommt es stets auf den Einzelfall an (BGH NStZ 1993, 547).

Bei Betäubungsmittelstraftaten sind lange oder auch lebenslange Freiheitsstrafen nicht zu beanstanden, wenn es um große Mengen "harter" Betäubungsmittel geht (BVerfG aaO.: drohende lebenslange Freiheitsstrafe wegen Einfuhr von 3 kg Kokain). Anders kann es bei wenn auch erheblichen Mengen "weicher" Betäubungsmittel liegen (OLG Karlsruhe MDR 1997, 188: 10 Jahre Freiheitsstrafe wegen Abgabe von 2,5 kg Haschisch; OLG Köln, in: Eser/Lagodny/Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2. Aufl. 1993, U 187: 30 Jahre Freiheitsstrafe wegen Ausfuhr von 20 kg Haschisch). Auch bei "harten" Betäubungsmitteln darf der unerlaubte Umgang mit kleinen Mengen nicht lange Freiheitsstrafen nach sich ziehen (OLG Zweibrücken StV 1996, 105: drohende Freiheitsstrafe nicht unter 10 Jahren wegen Verkaufs von 0,05 g Heroin-Kokain-Gemisch).

b) Im vorliegenden Einzelfall ist die ausgeurteilte Zuchthausstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten nicht bloß im hohen Maße, sondern vielmehr unerträglich hart und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen.

Der nicht vorbestrafte Verfolgte hat im Rahmen einer Konsumentengemeinschaft 0,05 g Heroin unbekannten Wirkstoffgehalts entgeltlich erworben und unentgeltlich zum Konsum abgegeben; anschließend hat er mit den Behörden kooperiert und durch einen Scheinkauf zur Überführung des Verkäufers beigetragen. Eine solche Tat liegt an der Untergrenze des noch Strafwürdigen bzw. -bedürftigen. Nach deutschem Recht wäre an ein Absehen von Strafe gem. § 31 Nr. 1 BtMG zu denken, des weiteren - wegen der Nähe zu §§ 29 Abs. 5, 31 a BtMG - an ein Absehen von einer Verfolgung gem. § 153 StPO. Eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten wäre bei Anlegung deutscher Maßstäbe nicht bloß zu hart, sondern schlechterdings unangemessen.

Auch Rechtsordnungen, in denen Betäubungsmittelstraftaten streng verfolgt werden, sehen beim unerlaubten Umgang mit nur geringen Mengen von Betäubungsmitteln abgemilderte Strafdrohungen vor. Auch ist der Konsum von Betäubungsmittel vielfach privilegiert. Weiterhin sehen auch und gerade repressive Rechtsordnungen sehr erhebliche Strafmilderungen bei Kooperation des Betäubungsmittelstraftäters mit den Behörden vor. Vorliegend kumulieren alle diese international anerkannten Milderungsgründe. In Verbindung mit dem Umstand, dass der Verfolgte Ersttäter war, erscheint auch international gesehen alles andere als eine sehr milde Bestrafung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt als angemessen. Dass die türkische Rechtsordnung in Fällen wie dem vorliegenden auch unter Ausschöpfung aller Milderungsmöglichkeiten zu einer Mindeststrafe von drei Jahren und vier Monaten Zuchthaus kommt, muss auch im internationalen Kontext als nicht mehr vertretbar gelten.

Tatsächlich hat sich die türkische Rechtsordnung in derartigen Fällen offenbar bislang mit einem vom "law in the books" abweichenden "law in practice" beholfen, wie der vorliegende Fall verdeutlicht: Der Verfolgte befand sich 108 Tage in Untersuchungshaft, kam dann aber trotz einer Straferwartung von jahrelangem Zuchthaus auf freien Fuß. Auch nach Rechtskraft des Urteils wurden seitens der türkischen Behörden offenbar jahrelang keine Anstrengungen unternommen, das Urteil zu vollstrecken. Alles das legt die Vermutung nahe, dass die "verbüßte" Untersuchungshaft funktional als insgesamt angemessene "Bestrafung" empfunden und eingesetzt wurde.

Andererseits verdeutlicht der vorliegende Fall auch, dass sich derzeit ein Wandel des "law in practice" abzeichnet, der von grenzüberschreitend tätigen türkischen Staatsanwaltschaften getragen wird. Unter anderem deshalb vermag der an sich zutreffende Hinweis der Generalstaatsanwaltschaft auf die an sich senatsbekannte großzügige Bewährungspraxis in der Republik Türkei nicht durchzugreifen. Im übrigen erscheint auch der - nur unter der Bedingung "guter Führung" - in Aussicht gestellte Mindestrestvollzug von 1 Jahr und 14 Tagen ab Auslieferungsdatum als im vorliegenden Einzelfall nicht mehr erträglich, insbesondere unter Berücksichtigung der bereits erlittenen Untersuchungshaft, der möglichen Auslieferungshaft, deren Anrechnung die türkische Staatsanwaltschaft übrigens nicht in Betracht zieht, und des erheblichen Zeitablaufs zwischen Verurteilung und Vollstreckung.

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