Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 14.02.2008
Aktenzeichen: 3 Ausl. 69/07
Rechtsgebiete: IRG


Vorschriften:

IRG § 80
IRG § 83b
Vorlagebeschluss an den EuGH zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Auslieferung zur Strafvollstreckung.
Oberlandesgericht Stuttgart - 3. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 3 Ausl. 69/07

vom 14. Februar 2008

in der Auslieferungssache des polnischen Staatsangehörigen

Tenor:

Das Verfahren wird ausgesetzt, und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Steht der Annahme, dass eine Person einen "Wohnsitz" oder "Aufenthalt" im Sinne von Art. 4 Nr. 6 Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 v. 18.07.2002 S. 1 - RbEuHb) in einem Mitgliedstaat hat, entgegen, dass die betreffende Person

a) sich nicht ununterbrochen in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhält,

b) sich nicht im Einklang mit Aufenthaltsrecht dort aufhält,

c) dort gewerbsmäßig Straftaten begeht und/oder

d) sich dort in Strafhaft befindet?

2. Ist eine Umsetzung des Art. 4 Nr. 6 RbEuHb in der Weise, dass die Auslieferung eigener Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats zur Strafvollstreckung gegen deren Willen stets unzulässig ist, diejenige von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten hingegen gegen deren Willen nach behördlichem Ermessen bewilligt werden kann, mit Unionsrecht, insbesondere mit den Grundsätzen der Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft nach Art. 6 Abs. 1 Vertrag über die Europäische Union (EUV) in Verbindung mit Art. 12, Art. 17 ff. Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV), vereinbar, und, wenn ja, sind die genannten Grundsätze zumindest bei der Ausübung des Ermessens zu beachten?

Gründe:

1. Das Vorabentscheidungsersuchen stützt sich auf Art. 35 Vertrag über die Europäische Union (EUV) in Verbindung mit § 1 des deutschen Gesetzes vom 06. August 1998 betreffend die Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens auf dem Gebiet der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach Artikel 35 des EU-Vertrages (EuGH-Gesetz - EuGHG, BGBl. 1998 I S. 2035).

2. Das Ersuchen betrifft die Auslegung des Art. 4 Nr. 6 Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 v. 18.07.2002 S. 1 - RbEuHb) - Frage 1 - sowie die Auslegung des Art. 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 und Art. 17 ff. Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) - Frage 2 -.

3. Es ergeht im Rahmen eines vor dem Oberlandesgericht anhängigen, schwebenden Auslieferungsverfahrens aufgrund eines polnischen Europäischen Haftbefehls gegen Herrn K.

Europäischer und nationaler rechtlicher Rahmen

4. Art. 4 Nr. 6 RbEuHb lautet:

"Artikel 4. Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann

Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

(...)

6. wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken."

Sinn und Zweck der Vorschrift ist es zu gewährleisten, dass eine Freiheitsstrafe dort vollstreckt wird, wo der Verurteilte lebt, um seine Resozialisierung und Reintegration nach Ende der Vollstreckung zu fördern.

5. Der deutsche Gesetzgeber hat Art. 4 Nr. 6 RbEuHb für In- und Ausländer in unterschiedlicher Weise umgesetzt. Die Umsetzung für Ausländer unterscheidet nicht ausdrücklich zwischen Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen.

6. Für deutsche Staatsangehörige gilt § 80 Abs. 3 Gesetz vom 23. Dezember 1982 über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) in der Fassung des Europäischen Haftbefehlsgesetzes vom 20. Juli 2006 (BGBl. 2006 I S. 1721 - EuHbG). Die Vorschrift lautet:

"§ 80. Auslieferung deutscher Staatsangehöriger

(...)

(3) Die Auslieferung eines Deutschen zum Zweck der Strafvollstreckung ist nur zulässig, wenn der Verfolgte nach Belehrung zu richterlichem Protokoll zustimmt. (...)."

Fehlt es an dieser Zustimmung, so muss das Oberlandesgericht die Auslieferung für unzulässig erklären.

7. Für Ausländer gilt demgegenüber § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG in der Fassung des EuHbG vom 20. Juli 2006. Die Vorschrift lautet:

"§ 83b. Bewilligungshindernisse

(...)

(2) Die Bewilligung der Auslieferung eines Ausländers, der im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, kann ferner abgelehnt werden, wenn

(...)

(b) bei einer Auslieferung zum Zweck der Strafvollstreckung er dieser nach Belehrung zu richterlichem Protokoll nicht zustimmt und sein schutzwürdiges Interesse an der Strafvollstreckung im Inland überwiegt; (...)."

Das Gesetz unterscheidet nicht ausdrücklich zwischen Ausländern, die Unionsbürger sind, und Drittstaatsangehörigen. Fehlt es an der Zustimmung des Ausländers, so kann die Bewilligungsbehörde - nicht das Oberlandesgericht, sondern i.d.R. die Generalstaatsanwaltschaft - die Auslieferung gleichwohl nach Ermessen bewilligen, nach dem Wortlaut des Gesetzes auch dann, wenn die schutzwürdigen Interessen an der Strafvollstreckung im Inland überwiegen.

8. Die genannte Ermessensentscheidung unterliegt der Überprüfung durch das Oberlandesgericht gemäß § 79 Abs. 2 IRG. Die Vorschrift lautet:

"§ 79. Grundsätzliche Pflicht zur Bewilligung; Vorabentscheidung

(...)

(2) Vor der Zulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts entscheidet die für die Bewilligung zuständige Stelle, ob sie beabsichtigt, Bewilligungshindernisse nach § 83b geltend zu machen. Die Entscheidung, keine Bewilligungshindernisse geltend zu machen, ist zu begründen. Sie unterliegt der Überprüfung durch das Oberlandesgericht (...)."

Die Überprüfung durch das Oberlandesgericht erstreckt sich nur darauf, ob die rechtlichen Grenzen der Ermessensausübung durch die Generalstaatsanwaltschaft überschritten sind; das Oberlandesgericht darf nicht seine eigene Ermessensausübung an die Stelle derjenigen der Generalstaatsanwaltschaft setzen.

9. Aus der Gesetzgebungsgeschichte ergibt sich, dass sich der deutsche Gesetzgeber bewusst entschieden hat, Art. 4 Nr. 6 RbEuHb - übrigens ebenso wie Art. 5 Nr. 3 RbEuHb - in einer Weise umzusetzen, die einerseits deutsche Staatsangehörige gegenüber Ausländern mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland bevorzugt und andererseits nicht ausdrücklich zwischen Ausländern mit und ohne Unionsbürgerschaft unterscheidet.

10. Nach § 80 E-IRG in der Fassung des ursprünglichen Gesetzentwurfs der Bundesregierung (Deutscher Bundestag, Drucksache 15/1718 v. 15.10.2003) sollten Art. 4 Nr. 6, Art. 5 Nr. 3 RbEuHb überhaupt nur für deutsche Staatsangehörige, nicht aber für Ausländer umgesetzt werden. Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags (Drucksache 15/2677 v. 10.03.2004) empfahl demgegenüber, auch bestimmte Ausländer einzubeziehen. Die Empfehlung stieß auf den Widerstand des Bundesrates, der argumentierte (Drucksache 196/04 v. 02.04.2004 S. 2): "Die Vorschrift läuft (...) darauf hinaus, dass gegen Ausländer im Ausland Strafen verhängt, die Strafen in Deutschland sodann vollstreckt und die Ausländer anschließend ausgewiesen werden. Die Handhabung in diesem Sinn ist unverständlich. Sie belastet völlig unnötig den deutschen Justizvollzug und schafft darüber hinaus Sicherheitsrisiken. Der Strafvollzug in Deutschland kann auch nicht auf ein Leben im künftigen Abschiebestaat vorbereiten." Ungeachtet dessen wurde mit dem ersten EuHbG vom 21. Juli 2004 (BGBl. 2005 I S. 1748) zunächst § 80 Abs. 3 IRG alter Fassung Gesetz, der vorsah, dass Ausländer mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt werden, sofern sie (1.) als Minderjährige hier ihren rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt hatten, (2.) eine Aufenthaltsberechtigung oder seit drei Jahren eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzen oder besessen haben, (3.) eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzen oder besessen haben und mit einem der unter (1.) und (2.) genannten Ausländer in familiärer Lebensgemeinschaft leben oder (4.) mit einem deutschen Staatsangehörigen in familiärer Lebensgemeinschaft leben.

11. Nachdem das deutsche Bundesverfassungsgericht das erste EuHbG vom 21. Juli 2004 mit Urteil vom 18. Juli 2005 - 2 BvR 2236/04 = Entscheidungen Bd. 113 S. 273 für verfassungswidrig und nichtig erklärt hatte, weil das Gesetz das Grundrecht Deutscher auf Auslieferungsfreiheit unverhältnismäßig einschränke, wurde ein neuer Gesetzentwurf eingebracht (Deutscher Bundestag, Drucksachen 16/544 v. 07.02.2006 und 16/1024 v. 23.03.2006). In ihm war als § 80 Abs. 4 E-IRG vorgesehen, Art. 4 Nr. 6, Art. 5 Nr. 3 RbEuHb nur mehr für deutsche Staatsangehörige und solche Ausländer umzusetzen, die im Inland mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft leben. Die schließlich Gesetz gewordene Lösung geht auf die Beschlussempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zurück (Drucksache 16/2015 v. 28.06.2006). Dort heißt es auf S. 14: "Mit der Ausgestaltung als fakultatives Bewilligungshindernis kann in besonders gelagerten Ausnahmefällen die Auslieferung eines Ausländers abgelehnt werden, wenn nach Maßgabe der Vorschriften des § 80 Abs. 1 und 2 die Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen unzulässig wäre. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass der betroffene Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Ob von dem Bewilligungshindernis Gebrauch gemacht werden soll, hat die Bewilligungsbehörde durch Abwägung im Einzelfall und unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Belange des Betroffenen zu entscheiden. Ihre Entscheidung unterliegt gemäß § 79 Abs. 2 der Überprüfung durch das Oberlandesgericht. (...) Bei der Auslieferung zur Strafvollstreckung sieht der Gesetzentwurf im Falle eines deutschen Staatsangehörigen vor, dass diese grundsätzlich nur mit seiner Zustimmung erfolgen kann (§ 80 Abs. 3). Der Vorschlag einer neu gefassten Regelung für im Inland lebende Ausländer sieht vor, dass es auf die Zustimmung des Ausländers nur dann ankommt, wenn er ein berechtigtes Interesse an der Strafvollstreckung im Inland hat." 12. Die Frage, ob das nunmehrige Recht in Bezug auf Ausländer, die Unionsbürger sind, mit Unionsrecht im Einklang steht, ist im Gesetzgebungsverfahren zur Sprache gekommen. Im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages ist u.a. der Änderungsantrag eingebracht worden, bei der Umsetzung der Art. 4 Nr. 6, 5 Nr. 3 RbEuHb Unionsbürger mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen. Die Antragstellerin argumentierte, dass "der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung die Gleichstellung der Unionsbürger mit eigenen Staatsangehörigen verlangt. Soweit Arbeitnehmer betroffen sind, ergibt sich die Notwendigkeit der Gleichstellung auch daraus, dass diese Anspruch auf alle sozialen Vergünstigungen haben, wobei unter diesen Begriff auch alle dem Betroffenen günstigen Maßnahmen fallen, die eigenen Staatsangehörigen einfach wegen ihres Wohnortes im Ausland gewährt werden (...). Soweit sonstige Unionsbürger betroffen sind, dürfen auch diese auf Grund des allgemeinen Diskriminierungsverbotes nicht anders behandelt werden, wenn auch Inländer 'lediglich einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt' im jeweiligen Mitgliedstaat haben müssen, um die Vergünstigung zu beanspruchen (vgl. EuGH v. 12.5.1998 - C-85/96 - 'Sala')" (Deutscher Bundestag, Drucksache 16/2015 v. 28.06.2006 S. 8). Der Änderungsantrag ist im Rechtsausschuss mit großer Mehrheit zurückgewiesen worden.

13. Welche Anforderungen an einen "gewöhnlichen Aufenthalt" im Sinne von § 83b Abs. 2 Satz 1 IRG zu stellen sind, ist im deutschen Recht unklar und umstritten. Der Begriff "gewöhnlicher Aufenthalt" findet sich nicht nur in dieser Vorschrift, sondern auch in zahlreichen anderen deutschen verfahrens-, verwaltungs-, steuer- und sozialrechtlichen Vorschriften wie z.B. in §§ 20, 606 Abs. 1 und 2 Zivilprozessordnung, § 65 Abs. 1 und 2 Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, § 8 Abs. 2 Strafprozessordnung, § 3 Abs. 1 Nr. 3 a) Verwaltungsverfahrensgesetz, Art. 5 Abs. 2 und 3 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche, § 28 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz, §§ 9, 388 Abs. 3 Abgabenordnung und § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I), wo er definiert wird als Ort oder Gebiet, in dem sich jemand "unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt". Einen allgemeinen Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts gibt es im deutschen Recht aber nicht, sondern die Einzelheiten richten sich jeweils nach Sinn und Zweck der jeweiligen Vorschrift (Heinrichs, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 66. Aufl. 2007, § 7 Rdn. 3). Zwar lässt sich als gemeinsame Leitlinie angeben, dass es für einen "gewöhnlichen Aufenthalt" im Unterschied zum "Wohnsitz" weniger auf den (rechtsgeschäftlichen) Willen als auf die (tatsächlichen) Umstände ankommt. Jedoch werden die Einzelheiten von Vorschrift zu Vorschrift je nach deren Sinn und Zweck unterschiedlich beurteilt: Teils wird ein Aufenthalt von einem Jahr oder mehr verlangt (so z.B. für das Aufenthaltsrecht Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 32 Rdn. 10), nach § 9 Satz 1 Abgabenordnung besteht bereits bei einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten eine Vermutung, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegt, was z.B. auf Art. 5 Abs. 2 und 3 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche übertragen wird (vgl. Heldrich, in: Palandt a.a.O. Art. 5 EGBGB Rdn. 10). Teils werden Rechtmäßigkeit des Aufenthalts und/oder soziale Integration verlangt, teils für unerheblich gehalten. Aufenthalt in längerer Strafhaft begründet einen Aufenthalt von längerer Dauer im Sinne des § 20 Zivilprozessordnung (Bundesgerichtshof, Beschluss v. 21.01.1997 - X ARZ 1283/96, Neue Juristische Wochenschrift 1997 S. 1154), nicht aber einen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche (Heldrich, in: Palandt a.a.O. Art. 5 Rdn. 10).

14. In seiner bisherigen Rechtsprechung zu § 83b Abs. 2 Satz 1 IRG hat sich das Oberlandesgericht (Beschlüsse v. 26.02.2007 - 3 Ausl. 172/06; v. 24.05.2007 - 3 Ausl. 102/06) am deutschen Aufenthalts- und Sozialrecht orientiert und ausgesprochen, die objektiven Umstände müssten auf länger dauerndes Verweilen schließen lassen, wobei in die Prognose auch die subjektive Willensbildung einzubeziehen sei, es jedoch auch objektiv einer gewissen Verfestigung bedürfe, wofür ein Aufenthalt von einem Jahr oder weniger jedenfalls dann nicht ausreiche, wenn ein auf längere Dauer angelegter Aufenthalt rechtlich oder tatsächlich nicht in Betracht komme. Im Übrigen kommt es nach der bisherigen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts aber nicht auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts an (Beschluss v. 30.11.2004 - 3 Ausl. 103/04 = Neue Zeitschrift für Strafrecht 2005 S. 348 [349] - zu § 80 Abs. 3 Nr. 4 IRG a.F.). In dem Beschluss v. 10.08.2007 - 3 Ausl. 104/06 ist schließlich ausgeführt, dass Auslieferungshaft als solche keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet.

15. In der deutschen Rechtsprechung und Literatur zu § 83b Abs. 2 Satz 1 IRG werden hiervon abweichende Auffassungen vertreten. Teils wird verlangt, der Verfolgte müsse sich freiwillig ständig oder für längere Zeit, wenn auch nicht ununterbrochen im Inland aufhalten (Schmidt, in: Strafverteidiger Forum 2007 S. 7 [9]) bzw. der inländische Aufenthalt müsse auf Dauer angelegt sein (Oberlandesgericht Karlsruhe, Beschluss v. 11.05.2007 - 1 AK 3/07 = Neue Juristische Wochenschrift 2007 S. 2567 [2568]; Böhm, in: Neue Juristische Wochenschrift 2006 S. 2592 [2596]). Auch heißt es, der Schwerpunkt der persönlichen Bindungen des Verfolgten müsse im Inland liegen, der sich hier aber nur mindestens sechs Monate aufhalten müsse (Oberlandesgericht Braunschweig, Beschluss v. 04.12.2006 - Ausl 9/06). Nach überwiegender Ansicht kommt nur ein rechtmäßiger Aufenthalt in Betracht (Oberlandesgericht Dresden, Beschluss v. 05.10.2006 - OLG 34 Ausl 46/06; Oberlandesgericht Karlsruhe, Beschluss v. 08.01.2007 - 1 AK 54/06 = Neue Zeitschrift für Strafrecht 2007 S. 412 [413]; Böhm a.a.O.; Hackner/Schomburg/Lagodny/Gleß, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 2006 S. 663 [667]). Die Gegenauffassung, dass auch ein formell oder materiell rechtswidriger Aufenthalt in Betracht komme, wird aber gleichfalls vertreten (Böse, in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl., § 83b IRG Rdn. 10 [noch unveröffentlicht]; Schmidt a.a.O.). Haft soll nach Oberlandesgericht Köln, Beschluss v. 01.12.2006 - 6 Ausl A 74/06, mangels Freiwilligkeit keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen.

Ausgangsverfahren

16. Das Bezirksgericht (III. Strafabteilung) B. /Republik Polen ersucht die deutschen Justizbehörden mit Europäischem Haftbefehl vom 18. April 2007 um Auslieferung des Herrn K., eines polnischen Staatsangehörigen und Unionsbürgers, zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten aus dem rechtskräftigen Urteil des Amtsgerichts (II. Strafabteilung) T. /Republik Polen vom 28. Mai 2002. Das Urteil ist wegen Zerstörens fremden Eigentums gemäß Art. 288 Abs. 1 polnisches Strafgesetzbuch ergangen. Herr K. soll am 11. April 2002 in S./Republik Polen absichtlich acht Fensterscheiben im Turnsaal der Z. - Schule mit Steinen eingeschlagen haben, wodurch ein Schaden von 700 Zloty (ca. 200 Euro) entstanden sein soll.

17. Herr K. ist am 05. Juni 2007 gemäß § 28 IRG vom Amtsgericht Stuttgart angehört worden und hat einer vereinfachten Auslieferung nicht zugestimmt. Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart, die Bewilligungsbehörde ist, hat ihm unter dem 18. Juni 2007 mitgeteilt, sie beabsichtige nicht, Bewilligungshindernisse geltend zu machen. Denn Bewilligungshindernisse gemäß § 83b IRG lägen nicht vor. Insbesondere habe der Verfolgte keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Die mehrfachen Aufenthalte des Verfolgten in Deutschland hätten lediglich dazu gedient, das geringe Arbeitslosengeld in Polen und Unterhaltszahlungen der Eltern durch Begehung von Straftaten aufzubessern. Die Generalstaatsanwaltschaft sieht sich auch nicht veranlasst, von Amts wegen in akribische und zeitraubende Ermittlungen einzusteigen, wo, wann, bei wem und zu welchem Zweck sich der Verfolgte aufgehalten hätte. Daher hat die Generalstaatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht beantragt, die Auslieferung für zulässig zu erklären.

18. Herr K. verbüßt derzeit in der Justizvollzugsanstalt S. eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wegen Betrugs in 38 Fällen aus dem Urteil des Amtsgerichts S. vom 25. Januar 2007. In diese Strafe ist die Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten wegen Betrugs in 23 Fällen aus dem Urteil des Amtsgerichts S. vom 27. Juli 2006 einbezogen worden. Beiden Verurteilungen liegen gewerbsmäßige Betrügereien zugrunde, die Herr K. in Deutschland in und um S. begangen und durch die er Waren und Dienstleistungen im Wert von insgesamt ca. 14.900,- Euro erlangt haben soll. Die abgeurteilten Einzeltaten haben folgende Daten:

- April 2005: 14.

- Mai 2005: 06., 10.-14., 19.-21., 23.-25., 27.-28., 30.-31.

- Juni 2005: keine

- Juli 2005: 16., 28.-29.

- August 2005: 02.

- September 2005: 01., 26.-29.

- Oktober 2005: 04., 06.-07., 10., 12., 14., 18.

- November 2005: 15., 23.

- Dezember 2005: 01., 14.-16.

- Januar 2006: 07.

- Februar und März 2006: keine

- April 2006: 21.-22., 27.-28.

- Mai 2006: 8.-10.

Weiterhin lässt sich den Urteilsfeststellungen entnehmen, dass der ledige, kinderlose, der deutschen Sprache nur eingeschränkt bis gar nicht mächtige und seit 2002 alkoholabhängige Verfolgte in Polen aufwuchs, nach dem Schulabschluss Koch lernte und als Koch arbeitete, bis er Ende 2003 arbeitslos wurde und sodann ein Jahr lang in Polen Arbeitslosenunterstützung in Höhe von ca. 100 Euro/Monat bezog. Letzter Wohnort des Verfolgten in der Republik Polen war So.. Im Februar 2005, so heißt es im Urteil vom 27. Juli 2006, sei der Verfolgte zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland eingereist, gelegentlich auf dem Bau beschäftigt gewesen und habe sich mit einer Unterbrechung über die Weihnachtspause bis zu seiner Festnahme am 10. Mai 2006 in Deutschland aufgehalten. Demgegenüber heißt es im Urteil vom 25. Januar 2007, der Verfolgte sei seit Januar 2005 mehrfach in der Bundesrepublik Deutschland gewesen, im Übrigen aber in der Familie von seinen Eltern versorgt worden. Bei seiner Anhörung hat der Verfolgte angegeben, sein Ziel sei es gewesen, nach Deutschland zu kommen und hier Arbeit zu finden für die Rechtsanwaltskosten in der Sache, wegen der nunmehr um Auslieferung ersucht werde; er habe aber schlechte Leute kennengelernt; nach seiner Entlassung würde er gerne in Deutschland bleiben.

19. Das Oberlandesgericht geht in tatsächlicher Hinsicht davon aus, dass

- Herr K. sich in der Zeit vom Februar 2005 bis zum Mai 2006 weit überwiegend, wenn auch mit Unterbrechungen in der Weihnachtspause 2005 und möglicherweise im Juni 2005 sowie im Februar und März 2006, in und um S. aufhielt, um dort seinen Lebensunterhalt durch gelegentliche Arbeit auf dem Bau, überwiegend aber durch Betrügereien, zu bestreiten,

- er nicht vorhatte, auf Dauer in die Republik Polen zurückzukehren, wo ihm der Vollzug einer Freiheitsstrafe drohte und im fraglichen Zeitraum keine Arbeitslosenunterstützung mehr zustand, und

- er dies auch heute nicht vorhat.

20. In rechtlicher Hinsicht ist das Oberlandesgericht nunmehr gehalten, eine Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zu treffen (§ 29 Abs. 1 und § 32 IRG). Im Rahmen dieser Entscheidung überprüft es die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft, keine Bewilligungshindernisse geltend zu machen (§ 79 Abs. 2 IRG).

Zur ersten Vorlegungsfrage

21. Um die in Nr. 20 beschriebene Entscheidung zu treffen, muss das Oberlandesgericht zunächst entscheiden, ob Herr K. seinen gewöhnlichen Aufenthalt im deutschen Inland hatte oder im Hinblick auf die derzeit hier verbüßte Strafhaft hat. Wäre die Frage zu verneinen, so würde das Oberlandesgericht die Auslieferung für zulässig erklären, da alle übrigen Voraussetzungen des deutschen Rechts gegeben sind. Wäre die Frage hingegen zu bejahen, so müsste das Oberlandesgericht die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft, keine Bewilligungshindernisse geltend zu machen, beanstanden, weil diese Entscheidung davon ausgeht, ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland liege nicht vor.

22. Im Einzelnen stellen sich dem Oberlandesgericht hierbei die Fragen,

a) ob die Unterbrechungen des Aufenthalts des Herrn K. in Deutschland in der Weihnachtspause 2005 und möglicherweise im Juni 2005 und Februar und März 2006 einem gewöhnlichen Aufenthalt entgegenstehen;

b) ob einem gewöhnlichen Aufenthalt entgegensteht, dass Herr K. sich zwar im Hinblick auf § 2 Abs. 5 Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) bis zu drei Monaten allein aufgrund des Besitzes eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten durfte, danach aber im Hinblick auf § 2 Abs. 2, § 4 Satz 1 FreizügG/EU die Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts fragwürdig erscheint, weil Herr K. nicht erwerbstätig war und sich den Unterhaltsbedarf im Wesentlichen durch Straftaten verschaffte,

c) ob der zuletzt genannte Umstand für sich gesehen einen gewöhnlichen Aufenthalt ausschließt und

d) ob die Strafhaft, in der sich Herr K. seit Rechtskraft der Urteile vom 27. Juli 2006 und 25. Januar 2007 befindet und durch deren Vollzug er fähig werden soll, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (§ 2 Satz 1 Strafvollzugsgesetz), einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründet.

23. Die Fragen sind im deutschen Recht umstritten (s. o. Nr. 12-14). Das Oberlandesgericht ist zu der Auffassung gelangt, dass es weder möglich noch tunlich ist, den Streit auf nationaler Ebene auszutragen. Vielmehr geht das Oberlandesgericht im Hinblick auf das Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. Juni 2005 - C 105/03 (Maria Pupino) = Sammlung 2005 I-5285 davon aus, dass

- erstens die Auslegung des § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG "rahmenbeschlusskonform", nämlich konform zum Inhalt des Art. 4 Nr. 6 RbEuHb, erfolgen muss,

- zweitens die unter Nr. 21 genannten entscheidungserheblichen Fragen - soweit ersichtlich - weder in der Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt noch klar und einfach zu beantworten sind, es

- drittens nicht nur rechtlich möglich oder sogar nach Art. 35 Abs. 3 Buchstabe a) EUV, § 1 Abs. 2 EuGHG geboten, sondern auch wünschenswert ist, dass der Gerichtshof über die praktisch wichtige Frage entscheidet, was unter einem "Aufenthalt" oder "Wohnsitz" im Sinne des Art. 4 Nr. 6 RbEuHb zu verstehen ist, zumal

- viertens sich eine vergleichbare Frage in Bezug auf Art. 5 Nr. 3 RbEuHb stellt und

- fünftens alle Mitgliedstaaten die genannten Vorschriften in ihr nationales Recht umgesetzt haben, weshalb in allen Mitgliedstaaten vergleichbare Fragen auftreten können und in der Praxis auch aufgetreten sind.

24. In der Sache würde das Oberlandesgericht für eine europäische Lösung zunächst die Resolution (72) 1 des Ministerkomitees des Europarats vom 18. Januar 1972 über die Standardisierung der Rechtskonzepte "Wohnsitz" und "Aufenthalt" in Betracht ziehen. Hiernach muss der Aufenthalt nicht dauerhaft, auf Dauer angelegt sein (Regel Nr. 8 Satz 2). Auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts kommt es nicht an (Regel Nr. 7), auch nicht entscheidend auf seine Freiwilligkeit (Regel Nr. 10). Bei Unionsbürgern würde das Oberlandesgericht im Hinblick auf die Unionsbürgerschaft und Freizügigkeit weiterhin dazu neigen, keine strengen Anforderungen an einen "Wohnsitz" oder "Aufenthalt" im Sinne von Art. 4 Nr. 6 RbEuHb zu stellen und weder ununterbrochenen noch besonders langdauernden Aufenthalt noch dessen Rechtmäßigkeit noch rechtstreue Lebensführung noch zwingend Freiwilligkeit des Aufenthalts zu verlangen. Jedenfalls in Mitgliedstaaten, die Resozialisierung als Vollzugsziel anerkennen, dürfte es im Hinblick auf Sinn und Zweck des Art. 4 Nr. 6 RbEuHb (s. o. Nr. 4) nicht fernliegend sein, längere Strafhaft trotz Unfreiwilligkeit als einen "Aufenthalt" begründend anzusehen.

Zur zweiten Vorlegungsfrage

25. Die Generalstaatsanwaltschaft hat angekündigt, das Bewilligungshindernis des § 83b Abs. 2 Satz 1 Buchstabe b) IRG auf keinen Fall geltend machen zu wollen, weil bei der gegebenen Sachlage auch nicht ansatzweise schutzwürdige Interessen oder strahlkräftige Grundrechtspositionen zu erkennen seien, die der Vollstreckung einer lediglich fünfmonatigen Freiheitsstrafe in dem Heimatstaat des Herrn K. entgegenstehen würden. Dabei bezieht sich die Generalstaatsanwaltschaft u.a. auf einen Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 19. September 2007 - 1 Ars 21/07 (Ausl), wonach die Auslieferung eines polnischen Staatsangehörigen zur Strafvollstreckung für zulässig erklärt worden ist, u.a. weil es an einer "verfestigten Integration" des Verfolgten in Deutschland fehle, die eine "besondere Härte" begründen würde.

26. In diesem Zusammenhang stellt das Oberlandesgericht in tatsächlicher Hinsicht fest: Herr K. soll zur Vollstreckung einer nur kurzen Freiheitsstrafe in seinen Heimatstaat ausgeliefert werden. Die Strafe ist wegen einer Tat verhängt worden ist, die er in Polen begangen hat und wegen derer er dort verurteilt worden ist. Seinen Aufenthalt in Deutschland vor seiner Festnahme hat er nicht zu aufenthaltsrechtlich anerkannten Zwecken genutzt. Auf der anderen Seite hat der Vollzug der gegen Herrn K. in Deutschland verhängten Freiheitsstrafe das Ziel, dass er fähig werden soll, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (§ 2 Satz 1 Strafvollzugsgesetz). Herr K. würde nach seiner Entlassung gerne in Deutschland bleiben. Als Unionsbürger verlöre er gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs (s. noch u. Nr. 29) und des sie umsetzenden § 6 Abs. 2 FreizügG/EU sein Freizügigkeitsrecht nur, wenn er auch nach seiner Entlassung noch eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen würde, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren würde. Es wäre rechtlich möglich, dass die Bundesrepublik Deutschland die Vollstreckung der polnischen Freiheitsstrafe übernähme, die sich unmittelbar an die Vollstreckung der deutschen Freiheitsstrafe anschließen könnte.

27. Vor diesem tatsächlichen und vor dem o. Nr. 5-12 beschriebenen rechtlichen Hintergrund stellt sich für das Oberlandesgericht die Frage, ob die beschriebene Umsetzung des Art. 4 Nr. 6 RbEuHb in nationales deutsches Recht mit Unionsrecht, insbesondere den Grundsätzen der Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft (Art. 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 12, Art. 17 ff. EGV), vereinbar ist und, falls ja, ob die genannten Grundsätzen zumindest bei der Ausübung des in § 83b Abs. 2 IRG eingeräumten Ermessens zu beachten sind. Wäre die beschriebene Umsetzung mit den genannten Grundsätzen vereinbar und würden diese Grundsätze das Ermessen nicht beeinflussen, so wäre die Bewilligung der Auslieferung des Herrn K. nicht zu beanstanden. Andernfalls würde das Oberlandesgericht die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft beanstanden.

28. Dabei geht das Oberlandesgericht davon aus, dass

- erstens die Handhabung des in § 83b Abs. 2 IRG eröffneten Ermessens "unionsrechtskonform", nämlich konform zu den Grundsätzen der Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft, erfolgen muss,

- zweitens die unter Nr. 27 genannte entscheidungserhebliche Frage - soweit ersichtlich - weder in der Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt noch klar und einfach zu beantworten ist,

- drittens es nicht nur rechtlich möglich oder sogar nach Art. 35 Abs. 3 Buchstabe a) EUV, § 1 Abs. 2 EuGHG geboten, sondern auch wünschenswert ist, dass der Gerichtshof über die praktisch wichtige Frage entscheidet, ob und inwieweit bei der Umsetzung des Art. 4 Nr. 6 RbEuHb zwischen Inländern und Ausländern, die Unionsbürger sind, unterschieden werden kann, zumal

- viertens sich eine vergleichbare Frage in Bezug auf Art. 5 Nr. 3 RbEuHb stellt und

- fünftens viele Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der genannten Artikel Inländer und Ausländer mit Aufenthalt oder Wohnsitz im Inland einander gleichgestellt haben, während sich andere für eine unterschiedliche Behandlung entschieden haben, weshalb auch in diesen Mitgliedstaaten vergleichbare Fragen auftreten können.

29. Anhaltspunkte dafür, dass es unionsrechtlich geboten sein könnte, bei der Umsetzung des Art. 4 Nr. 6 RbEuHb - und ebenso des Art. 5 Nr. 3 RbEuHb - die auslieferungsrechtliche Position von Unionsbürgern mit Wohnsitz oder Aufenthalt im Inland einerseits nicht zu weit von derjenigen von eigenen Staatsangehörigen zu entfernen und andererseits gegenüber derjenigen von Drittstaatsangehörigen zu unterscheiden, ergeben sich nach Auffassung des Oberlandesgerichts aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Ausweisung und Abschiebung eines Unionsbürgers wegen strafrechtlicher Verurteilungen, insbesondere aus dem Urteil des Gerichtshofs vom 29. April 2004 - C-482/01 [Orfanopoulos] = Sammlung 2004 I-5257 (vgl. weiterhin Urteil vom 19. Januar 1999 - C-348 [Calfa] = Sammlung 1999 I-11). Das Urteil vom 29. April 2004 betrifft das damalige deutsche Ausländerrecht, wonach strafrechtliche Verurteilungen von Ausländern zu Freiheitsstrafe von drei Jahren oder mehr bzw. bei Betäubungsmittelstraftaten von zwei Jahren oder mehr rechtlich zwingend stets zur Ausweisung und Abschiebung führten, und zwar ohne Unterscheidung zwischen Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen. Bei Unionsbürgern hat der Gerichtshof das damalige deutsche Recht im Hinblick auf die Freizügigkeit und den Unionsbürgerstatus (vgl. Nr. 70 des Urteils) für unvereinbar mit europäischem Recht gehalten. Im Einklang mit dem Urteil hat der deutsche Gesetzgeber in § 6 Abs. 2 FreizügG/EU eine besondere Vorschrift in Bezug auf straffällige Unionsbürger geschaffen, die gegenüber der entsprechenden Vorschrift in Bezug auf sonstige Ausländer in § 53 Aufenthaltsgesetz deutlich höhere Anforderungen stellt (s. o. Nr. 26). Das vorlegende Gericht hält es für denkbar, dies auf das Auslieferungsrecht zu übertragen, zumal u.a. in der Argumentation des Bundesrats (s. o. Nr. 10) eine enge Verbindung zwischen dem auslieferungsrechtlichen Status von Ausländern auf der einen Seite und der Möglichkeit ihrer Ausweisung und Abschiebung auf der anderen Seite hergestellt wird. Hiernach wäre es in der Regel ermessensfehlerhaft, einen Unionsbürger mit Wohnsitz oder Aufenthalt in einem Mitgliedstaat gegen seinen Willen zur Strafvollstreckung an einen anderen Mitgliedstaat auszuliefern, wenn er keine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Auf der anderen Seite ist es eine vom Gerichtshof zu entscheidende und - soweit ersichtlich - noch nicht entschiedene Frage, ob eine solche Übertragung zulässig und tunlich erscheint.

Zur Frage eines Eilverfahrens

30. Im Hinblick auf die am 01. März 2008 in Kraft tretenden Änderungen der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vom 15. Januar 2008 (ABl. EU Nr. L 24 v. 29.01.2008 S. 39) und den gleichfalls am 01. März 2008 in Kraft tretenden Beschluss des Rates vom 20. Dezember 2007 zur Änderung des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs (ABl. EU a.a.O. S. 42) stellt sich vorliegend die Frage eines Eilverfahrens vor dem Gerichtshof.

31. Zwar ist die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gegen Herrn K. derzeit nicht gefährdet, da er sich derzeit in deutscher Strafhaft befindet. Diese Haft endet jedoch am 10. November 2009. Nach § 57 Abs. 1 Strafgesetzbuch kommt zudem eine Aussetzung des Strafrests nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe, also von zwei Jahren vier Monaten, in Betracht. In diesem Falle würde Herr K. bereits am 10. September 2008 auf freien Fuß kommen. Zwar wäre es rechtlich möglich, dass das Oberlandesgericht zuvor Auslieferungshaft gegen Herrn K. anordnet. Deren Dauer wäre jedoch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit - auch im Hinblick auf die kurze Dauer der in der Republik Polen zu vollstreckenden Freiheitsstrafe - begrenzt.

32. Angesichts dieser rechtlichen und tatsächlichen Umstände beantragt das Oberlandesgericht vorsorglich ein Eilverfahren gemäß Art. 23a des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs und Art. 104b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, jeweils in der ab dem 01. März 2008 geltenden Fassung.

Ende der Entscheidung

Zurück