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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 28.01.2005
Aktenzeichen: 3 Ausl. 76/03
Rechtsgebiete: IRG, 2. ZP-EuAlÜbk


Vorschriften:

IRG § 83 Nr. 3
2. ZP-EuAlÜbk Art. 3 Abs. 1
1. Urteil i.S.v. § 83 Nr. 3 IRG ist auch eine Entscheidung zweiter oder höherer Instanz, für deren Zustandekommen die Anwesenheit des Verfolgten und die Gelegenheit zu persönlichem Verteidigungsvorbringen unter dem Gesichtspunkt wirksamer Verteidigung unverzichtbar ist. Das gilt jedenfalls für ein Berufungsurteil, in dem die Strafaussetzung zur Bewährung aufgehoben und so erstmals ein auslieferungsfähiger Rechtsfolgenausspruch herbeigeführt wird.

2. Für eine persönliche Ladung oder Unterrichtung i.S.v. § 83 Nr. 3 IRG reicht es nicht aus, wenn sie an einen Pflichtverteidiger bewirkt wird, der keinen nachgewiesenermaßen verlässlichen Kontakt zu dem Verfolgten hat.


Tatbestand:

Auf einer Urlaubsreise beging der Verfolgte am 30. Juli 2003 in S./Ungarn einen Raub, wurde von der ungarischen Polizei gefasst und vom Stadtgericht S. am 01. August 2003 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der Verfolgte wurde auf freien Fuß gesetzt und reiste nach Deutschland zurück. Auf Berufung der Staatsanwaltschaft hob das Komitatsgericht S. am 25. September 2003 die Aussetzung zur Bewährung auf. Im März 2004 ersuchte die Republik Ungarn um Auslieferung des Verfolgten zur Strafvollstreckung. Der Verfolgte hat eingewendet, in der Verhandlung am 01. August 2003 habe er zwar einen Verteidiger gehabt, dem er jedoch erst unmittelbar in der Hauptverhandlung begegnet sei, ohne dass es zu einem Informationsaustausch gekommen sei, und dessen Namen er bis heute nicht kenne. Er habe nicht mitbekommen, dass die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt habe. Seitdem habe er nichts mehr von der Sache gehört. Von der Berufung habe er nichts gewusst. Weder das erst- noch das zweitinstanzliche Urteil sei ihm jemals zugestellt worden. Eine Ladung zur Berufungsverhandlung am 25. September 2003 habe er nicht erhalten. Auf Ersuchen um ergänzende Unterlagen und Auskünfte insbesondere zu etwaigen Zustellungen und Ladungen haben die ungarischen Stellen mitge-teilt, die Staatsanwaltschaft des Komitats S. habe beantragt, das erstinstanzliche Urteil bei einer Gerichts(rats)sitzung zu überprüfen und im Strafausspruch zu verschärfen. Dieser Antrag sei dem Verteidiger des Verfolgten am 08. September 2003 mit dem Hinweis ausgehändigt worden, das Berufungsgericht werde nach § 360 Abs. 1 ungar. StPO in Gerichts(rats)sitzung entscheiden und der Verteidiger könne binnen acht Tagen Stellung nehmen, was nicht geschehen sei. Der Senat hat die Auslieferung für unzulässig erklärt.

Gründe:

1. Der Auslieferungsverkehr mit der Republik Ungarn, die seit 01. Mai 2004 Mitgliedstaat der Europäischen Union ist, richtet sich seit Inkrafttreten des Europäischen Haftbefehlsgesetzes vom 21. Juli 2004 (EuHbG - BGBl. I S. 1748) am 23. August 2004 in erster Linie nach §§ 80 ff. IRG. Das gilt auch für Auslieferungsverfahren, die vor diesem Zeitpunkt anhängig geworden sind (s. Senat, Beschl. v. 07. September 2004 - 3 Ausl. 80/04 = NJW 2004, 3437).

2. Die Auslieferung ist gem. § 83 Nr. 3 IRG unzulässig.

a) Die Republik Ungarn ersucht um Auslieferung zur Vollstreckung.

b) Dem Ersuchen liegt ein Urteil zugrunde, das in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist. Urteil i.S.v. § 83 Nr. 3 IRG ist nicht zwingend nur die erstinstanzliche Verurteilung. Nach Sinn und Zweck des § 83 Nr. 3 IRG, die Anwesenheit des Verfolgten als Bedingung für eine wirksame Wahrnehmung des Rechts auf Verteidigung zu gewährleisten, kommen vielmehr alle Entscheidungen zweiter oder höherer Instanz in Betracht, für deren Zustandekommen die Anwesenheit des Verfolgten und die Gelegenheit zu persönlichem Verteidigungsvorbringen unter dem Gesichtspunkt wirksamer Verteidigung unverzichtbar sind. Berufungsurteile, welche die Rechtsfolgen der Tat und insbesondere die Strafaussetzung zur Bewährung betreffen, gehören zu diesen Entscheidungen. Das gilt jedenfalls, wenn die Entscheidung zweiter oder höherer Instanz erstmals zu einem auslieferungsfähigen Rechtsfolgenausspruch gem. § 81 Nr. 2 IRG, nämlich zu einer vollstreckbaren freiheitsentziehenden Sanktion von mindestens vier Monaten führt. Denn weil ohne eine derartige Entscheidung ein Ersuchen zur Vollstreckung nicht möglich ist, liegt dem Ersuchen - auch und erst - diese Entscheidung zugrunde. Vorliegend ist die im erstinstanzlichen Urteil des Stadtgerichts S. vom 01. August 2003 ausgesprochene, aber zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten erst durch das Urteil des Komitatgerichts S. vom 25. September 2003, das die Strafaussetzung zur Bewährung aufgehoben hat, zu einer vollstreckbaren und damit auslieferungsfähigen Freiheitsstrafe geworden.

c) Zu dem Termin vom 25. September 2003, der zu den Urteil des Komitatgerichts S. geführt hat, ist der Verfolgte nicht persönlich geladen und auch nicht auf andere Weise unterrichtet worden. Dabei lässt der Senat offen, ob - wie OLG Karlsruhe StV 2004, 547 meint - aus der Formulierung "persönlich geladen" das Erfordernis des Nachweises abzuleiten ist, dass die Ladung zu dem Termin oder die Unterrichtung von den Termin in sonstiger Weise den Verfolgten persönlich erreicht haben muss und die bloße Möglichkeit der Kenntnisnahme nicht genügt. Jedenfalls kann es nicht genügen, die Terminsladung oder -unterrichtung an einen Pflichtverteidiger zu bewirken, der keinen nachgewiesenermaßen verlässlichen Kontakt zu dem Verfolgten hat. Vorliegend ist nicht nachgewiesen, dass ein solcher Kontakt bestand; vielmehr spricht vieles dafür, dass dem Verfolgten nicht einmal der Name des Pflichtverteidigers mitgeteilt worden ist und dieser sich bei ihm nie gemeldet hat.

d) Der Senat hat sich nicht überzeugen können, dass dem Verfolgten nach seiner Überstellung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend überprüft wird, und auf Anwesenheit bei der Gerichtsverhandlung eingeräumt wird. Die diesbezügliche Erklärung der ungarischen Behörden: "das Recht der Verteidigung wurde gewahrt", bezieht sich auf die Vergangenheit. Mit Blick auf die eindeutige und in die Zukunft gerichtete Fragestellung des Senats: "ob der Verfolgte für den Fall seiner Auslieferung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren hat, in dem die Rechte der Verteidigung gewahrt werden" kann diese Erklärung den Zweifel nicht ausräumen, dass es die ungarischen Behörden bei der aus ihrer Sicht rechtskräftigen Verurteilung belassen wollen.

e) Die Anforderungen des § 83 Nr. 3 IRG gelten unabhängig davon, ob sie nach innerstaatlichem Recht des ersuchenden Staats erfüllt werden können (vgl. zur ähnlichen Problematik italienischer Abwesenheitsurteile BGHSt 47, 120 = JZ 2002, 464 mit Anm. Vogel). Deshalb kann offen bleiben, ob das ungarische Recht bei einer Berufungsentscheidung, die auf Antrag der Oberstaatsanwaltschaft in Kammer- oder Gerichts(rats)sitzung erfolgt (§ 360 Abs. 1 ungarische Strafprozessordnung), überhaupt die Anwesenheit des Verfolgten zulässt und ob nach ungarischem Recht die Möglichkeit besteht, eine erneute Berufungsverhandlung in Anwesenheit des Verfolgten durchzuführen.

3. Die Auslieferung wäre auch nicht auf der Grundlage des EuAlÜbk zulässig.

a) Ebenso wie die Bundesrepublik Deutschland ist die Republik Ungarn Vertragsstaat sowohl des EuAlÜbk als auch des Zweiten Zusatzprotokolls hierzu (2. ZP-EuAlÜbk - s. BGBl. 1994 II S. 229 und 586). Gem. § 1 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 IRG bleiben völkerrechtliche Vereinbarungen über Auslieferung und Rechtshilfe in Strafsachen "hilfsweise" anwendbar, nämlich insoweit sie den Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr erleichtern (vgl. RegE des EuHbG, BT-Drucks. 15/1718 S. 14). Allerdings sieht Art. 31 Abs. 1 Buchstabe a) Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (RbEuHb - ABlEG Nr. L 190 v. 18. Juli 2002 S. 1) vor, dass dieser Rahmenbeschluss in den Beziehungen zu den Mitgliedstaaten - zu denen nunmehr auch die Republik Ungarn gehört, die den RbEuHb auch bereits umgesetzt hat - das EuAlÜbk und das 2. ZP-EuAlÜbk mit Wirkung vom 01. Januar 2004 "ersetzt". Der Senat lässt offen, ob das die Folge hat, dass das EuAlÜbk und das 2. ZP-EuAlÜbk im Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten nicht mehr anwendbar sind (vgl. hierzu OLG Karlsruhe StV 2004, 547; KG, Beschl. vom 20. Dezember 2004 - [4] Ausl. A. 766/02). Denn auch hiernach wäre die Auslieferung unzulässig.

b) Denn die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 1 2. ZP-EuAlÜbk wären nicht erfüllt.

aa) In dem Abwesenheitsverfahren vor dem Komitatsgericht S. sind die Mindestrechte der Verteidigung, die anerkanntermaßen jedem einer strafbaren Handlung Beschuldigten zustehen, nicht gewahrt worden. Allerdings ist anerkannt, dass die Mindestrechte der Verteidigung in einem Rechtsmittelverfahren nicht ohne weiteres denselben Umfang haben müssen wie in einem Ausgangsverfahren (s. nur Vogel, in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl., Bd. 1 Teil I. A. 1. - IRG-Kommentar, § 73 IRG Rdn. 87 Stichwort "Abwesenheitsurteile zweiter oder höherer Instanz [Rechtsmittelverfahren]" mit weit. Nachw.). Insbesondere unterschreitet es nicht ohne weiteres die Mindestrechte, wenn der Verfolgte im Rechtsmittelverfahren kein Anwesenheitsrecht hat. Jedoch bleibt es auch für Rechtsmittelverfahren dabei, dass der Beschuldigte die Möglichkeit haben und ausüben können muss, auf das Verfahren einzuwirken, sich zu den Vorwürfen zu äußern und entlastende Umstände vorzutragen (OLG Düsseldorf NJW 1990, 1429 [1430 f.]). Hieran fehlt es, wenn der Beschuldigte nicht weiß und nicht wissen kann, dass ein Rechtsmittelverfahren stattfindet; hier genügt - anders als bei § 83 Nr. 3 IRG (s.o. 2. c] und OLG Karlsruhe a.a.O.) - Möglichkeit der Kenntnisnahme. Diese Möglichkeit muss freilich realistisch und effektiv sein. Daran fehlt es, wenn - wie hier - mit dem Rechtsmittelverfahren nur ein dem Beschuldigten namentlich nicht bekannter Pflichtverteidiger befasst wird, mit dem der Beschuldigten keinen verlässlichen Kontakt hat. Im übrigen dürfte im vorliegenden Fall die Anwesenheit des Verfolgten in dem Berufungsverfahren zu den durch die MRK gewährleisteten Mindestrechten gehört haben. Nach der Rechtsprechung des EGMR (hierzu zusammenfassend Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002, S. 784 ff. mit Nachw.) ist die Anwesenheit des Beschuldigten im Rechtsmittelverfahren erforderlich, wenn das Rechtsmittelgericht Tatsachen anders als das Ausgangsgericht bewerten darf ("make its own assessment") und es dabei um ernsthafte Fragen geht ("serious questions"), was insbesondere dann der Fall ist, wenn die Würdigung des Rechtsmittelgerichts im Ergebnis zu schwerwiegenden Nachteilen ("major detriments") für den Beschuldigten führen kann (grundlegend EGMR Kremzow ./. Österreich, Serie A Nr. 268-B, v.a. § 67). So liegt es, wenn - wie hier - ein Berufungsgericht festgestellte Tatsachen neu würdigen und eine vom Ausgangsgericht gewährte Strafaussetzung zur Bewährung aufheben darf. Eine solche Entscheidung hätte nur in Anwesenheit des Verfolgten getroffen werden dürfen, und es hätte ihm Gelegenheit gegeben werden müssen, dem Berufungsgericht die für die Strafaussetzung sprechenden Umstände persönlich vorzutragen.

bb) Eine als ausreichend zu erachtende Zusicherung der Republik Ungarn betreffend ein neues Gerichtsverfahren fehlt (s.o. 2. d).

Ende der Entscheidung

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