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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 25.04.2002
Aktenzeichen: 3 Ausl. 8/2002
Rechtsgebiete: US-AuslÜbk, GG


Vorschriften:

US-AuslÜbk Art. 2
US-AuslÜbk Art. 29
GG Art. 6
GG Art. 103 Abs. 2
1. Auslieferungsunterlagen, die einem amerikanischen Auslieferungsersuchen beigefügt sind und an deren Authentizität kein Zweifel besteht, dürfen im deutschen Auslieferungsverfahren auch dann verwertet werden, wenn sie entgegen Art. 29 b) US-AuslV nicht von dem zuständigen Diplomaten oder Konsularbeamten der Bundesrepublik Deutschland in den Vereinigten Staaten beglaubigt sind.

2. Nach Art. 2 US-AuslV auslieferungsfähig sind auch Straftaten, die erst nach dem Inkrafttreten des Zusatzvertrages vom 21. Oktober 1986 am 11. März 1993 beidseitig unter Strafe gestellt worden sind.

3. Von deutscher Seite aus findet im deutsch-amerikanischen Auslieferungsverkehr eine materielle Schuldverdachtsprüfung nicht statt.

4. Einer Auslieferung wegen internationaler Kindesentführung stehen internationale Menschenrechte oder Art. 6 GG regelmäßig nicht entgegen.


Tatbestand:

Die Vereinigten Staaten von Amerika ersuchen um Auslieferung des Verfolgten zur Strafverfolgung wegen internationaler elterlicher Kindesentführung (international parental kidnapping, Title 18 Chapter 55 Section 1204 United States Code). Dem Verfolgten, einem in der Türkei lebenden türkischen Staatsbürger, wird vorgeworfen, seinen ehelichen Sohn C. 1999 aus den Vereinigten Staaten in die Türkei verbracht zu haben und ihn seitdem bei sich zu behalten, obwohl in dem seit 1998 in den Vereinigten Staaten anhängigen Scheidungsverfahren das vorläufige Sorgerecht der amerikanischen Ehefrau und Mutter übertragen worden war, die in den Vereinigten Staaten lebt und bei der das Kind seit seiner Geburt aufgewachsen war. Der Senat hat die Auslieferung des Anfang 2002 bei der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland festgenommenen Verfolgten für zulässig erklärt.

Gründe:

(...)

II. (...) 2. (...) d) Zwar sind die Auslieferungsunterlagen entgegen Art. 29 b) US-AuslV nicht von dem zuständigen Diplomaten oder Konsularbeamten der Bundesrepublik Deutschland in den Vereinigten Staaten beglaubigt worden. Entgegen der Auffassung des Verfolgten und seiner Beistände berührt das die Zulässigkeit der Auslieferung jedoch nicht.

aa) Bereits nach dem Wortlaut des Art. 29 US-AuslV ist die diplomatische oder konsularische Beglaubigung der Auslieferungsunterlagen keine Voraussetzung der Zulässigkeit der Auslieferung. Vielmehr bestimmt Art. 29 US-AuslV, dass vertragsgemäß beglaubigte Unterlagen "bei der Prüfung des Ersuchens um Auslieferung zu Beweiszwecken zugelassen" werden müssen ("shall be admitted in evidence in the examination of the request for extradition"). Die Vorschrift betrifft also das Auslieferungsverfahren, nicht die Auslieferung selbst und trägt dem strengen amerikanischen Auslieferungsverfahrensrecht Rechnung, wonach einerseits der materielle Schuldverdacht nachgeprüft wird und andererseits ausländische Urkunden nur anerkannt werden, wenn sie von amerikanischer diplomatischer oder konsularischer Seite beglaubigt sind (vgl. Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl., Teil II V 10, Rdn. 4 und Fn. 59 zu Art. 29 US-AuslV). Dass das Beglaubigungserfordernis nur das Auslieferungsverfahren, nicht auch die Auslieferung selbst betrifft, zeigt auch ein Gegenschluss aus Art. 14 Abs. 2-5 US-AuslV, wo bestimmt ist, welche Auslieferungsunterlagen dem Auslieferungsersuchen beizufügen sind, ohne dass dort deren Beglaubigung verlangt wird.

Für das deutsche Auslieferungsverfahren wirkt sich Art. 29 b) US-AuslV nicht in der Weise aus, dass Auslieferungsunterlagen, die nicht auch von deutscher diplomatischer oder konsularischer Seite beglaubigt sind, unverwertbar wären. Auslieferungsverträge enthalten im Grundsatz nur Mindestrechte für den ersuchenden und Mindestpflichten für den ersuchten Staat, schließen aber nicht aus, weitergehende Rechtshilfe zu gewähren (statt aller Vogel, in: Grützner/Pötz, aaO., Teil I A 2 § 1 IRG Rdn. 25 mit weit. Nachw.). In diesem Sinne bestimmt Art. 29 US-AuslV, dass allseits beglaubigte Auslieferungsunterlagen verwertet werden müssen, schließt aber nicht von vornherein aus, dass auch unbeglaubigte Auslieferungsunterlagen verwertbar sein können, wenn dies das jeweilige innerstaatliche Verfahrensrecht zulässt. Das IRG kennt aber kein Erfordernis der Beglaubigung von Auslieferungsunterlagen und ist insoweit ergänzend anwendbar, ähnlich wie bei vertragswidrig unvollständigen, aber dem IRG genügenden Auslieferungsunterlagen (hierzu KG MDR 1972,1054 mit Anm. Seeber; OLG Karlsruhe NStZ 1989, 235 unter Nr. 12) oder bei auf vertragswidrigem Geschäftsweg, aber nach dem IRG, das keinen Geschäftsweg vorschreibt, wirksam übermittelten Auslieferungsersuchen (hierzu OLG Karlsruhe NStZ 1989, 235 unter Nr. 11).

bb) Auch aus § 5 IRG ergibt sich kein Auslieferungshindernis. Zwar ist es möglich, dass im umgekehrten Fall amerikanische Gerichte unbeglaubigte deutsche Auslieferungsunterlagen nicht verwerten und dann den von ihnen geprüften materiellen Schuldverdacht verneinen würden. Das Gegenseitigkeitsprinzip erstreckt sich jedoch nicht auf Verfahrensregelungen (vgl. BGHSt 25, 374 [insbesondere 378f]; Vogler, in: Grützner/Pötz aaO. Teil I A 2 § 5 IRG Rdn. 15 mit weit. Nachw.).

cc) Auch soweit Art. 29 US-AuslV Ausdruck des auslieferungsrechtlichen Grundsatzes der Authentifizierung ist (vgl. hierzu Vogel, in: Grützner/Pötz aaO. Teil I A 2 Vor § 1 IRG Rdn. 124) und insofern auch dem Schutz des Verfolgten dienen soll, ist ein Auslieferungshindernis nicht gegeben. An der Authentizität der von der amerikanischen Botschaft übermittelten, vom amerikanischen Außen- und Justizministerium beglaubigten und von der zuständigen Richterin unterschriebenen Auslieferungsunterlagen hat der Senat keinen Zweifel, und auch der Verfolgte und seine Beistände haben die Authentizität der Unterlagen nicht in Frage gestellt.

(...)

4. (...) a) Entgegen der Auffassung des Verfolgten und seiner Beistände hindert es die Auslieferungsfähigkeit nicht, dass die internationale elterliche Kindesentführung in den Vereinigten Staaten von Amerika erst seit Ende 1993 - also nach Abschluss und Inkrafttreten des US-AuslV und auch des Zusatzvertrages - unter Strafe gestellt ist, während der traditionelle Entführungstatbestand (Sektion 1201) ein "Elternprivileg" enthält, wonach Eltern des Entführten nicht Täter sein können.

Sinn des Zusatzvertrages zu US-AuslV war es, das frühere Enumerations- oder Listenprinzip dadurch zu überwinden, dass jedwede beidseitig strafbare Taten (mit einer Mindeststrafdrohung) auslieferungsfähig sein sollten. Insbesondere sollte der Zusatzvertrag ermöglichen, dass "künftig neu geschaffene Straftatbestände ohne erneute Vertragsänderung unter den AV fallen" (Grützner/Pötz aaO. Rdn. 2; Hervorhebung im Original). Art. 2 Abs. 1 US-AuslV darf deshalb nicht als "statische" Verweisung auf die zum Zeitpunkt des Abschlusses bzw. des Inkrafttretens des Zusatzvertrages beidseitig strafbaren Taten verstanden werden, sondern enthält eine "dynamische" Verweisung auch auf künftig beidseitig strafbar werdende Taten.

Ein Verstoß gegen das strafrechtliche Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG, § 2 StGB) liegt darin nicht, weil die Auslieferung keine strafrechtliche Verurteilung, sondern nur Hilfe zu fremder Strafverfolgung ist. Daher ist es anerkannten Rechts, dass für die Beurteilung der beidseitigen Strafbarkeit der Zeitpunkt der Auslieferung maßgeblich ist (s. zuletzt Senat, Beschluss vom 10. April 2002, 3 Ausl. 2/2001, S. 8 m.w.N.). Allerdings hat der Bundesgerichtshof (BGHSt 42, 243) ausgesprochen, dass aus dem in Art. 31 US-AuslV zum Ausdruck gekommenen Rückwirkungsverbot folgt, dass die Auslieferung von der Bundesrepublik Deutschland an die Vereinigten Staaten von Amerika wegen einer vor Inkrafttreten des Zusatzvertrages begangenen Straftat nur zulässig ist, wenn die Tat nach dem Recht beider Staaten auch zur Tatzeit strafbar war. Vorliegend geht es aber erstens um eine nach Inkrafttreten des Zusatzvertrages begangene Straftat, die zweitens zur Tatzeit beidseitig strafbar war. (Wird ausgeführt).

(...)

5. Soweit der Verfolgte seine Schuld bzw. einen materiellen Schuld verdacht in Abrede gestellt hat, ist dem im Auslieferungsverfahren nicht weiter nachzugehen.

a) Im Auslieferungsverfahren, das kein deutsches Strafverfahren, sondern Unterstützung ausländischer Strafverfolgung ist, findet eine materielle Schuldverdachtsprüfung im Grundsatz nicht statt. Vielmehr bleibt die Prüfung der Schuld dem Strafverfahren vor den zuständigen Strafgerichten des ersuchenden Staates nach Maßgabe der dort geltenden strafprozessualen Bestimmungen vorbehalten. Dort kann sich der Verfolgte verteidigen, dort kann er die Tat bestreiten, Belastungszeugen befragen und Beweisanträge stellen. Allerdings hält die amerikanische Seite im Rahmen des US-AuslV weiterhin an einer materiellen Schuldverdachtsprüfung fest (vgl. Grützner/Pötz aaO. Teil II V 10 Rdn. 15). Das Gegenseitigkeitsprinzip fordert jedoch nicht, dass deshalb auch von deutscher Seite aus eine materielle Schuldverdachtsprüfung vorgenommen werden muss (s. erneut BGHSt 25, 374; Vogler, in: Grützner/Pötz aaO. Teil I A 2 § 5 IRG Rdn. 15 f.). Vielmehr gilt von deutscher Seite aus das formelle Prüfungsprinzip (ebenso OLG Karlsruhe MDR 1986, 521; OLG Düsseldorf NJW 1990, 1429 [1430]). Es genügt also, dass die Vereinigten Staaten von Amerika einen primafacie-Beweis erbringen; weiterer Belege zur Rechtswidrigkeit der Tat und zu schuldhaftem Handeln des Täters bedarf es nicht (Grützner/Pötz aaO. Teil II V 10 Fn. 27 zu Art. 14 US-AuslV), und diesbezügliche Einlassungen des Verfolgten werden erst im amerikanischen Strafverfahren geprüft. Nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen, namentlich wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die ersuchenden amerikanischen Behörden ihren Auslieferungsanspruch missbräuchlich geltend machen, darf hiervon abgewichen werden (vgl. BGHSt 32, 314 für das EuAlÜbk). Dafür ist aber nichts ersichtlich.

(...)

9. Die Auslieferung ist mit internationalen Menschen rechten und deutschem Verfassungsrecht vereinbar.

a) Familie und Elternrecht werden zwar von zahlreichen internationalen Menschenrechtsinstrumenten geschützt (z.B. Art. 16 Abs. 3 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte; Art. 23 Abs. 1 IPbürgR; Art. 12 EMRK). Jedoch ist es international gleichermaßen anerkannt, dass die internationale Kindesentführung verhindert und der Status quo ante wiederhergestellt werden muss, wie es im Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (BGBl. 1990 II 206, 207) und im Europäischen Übereinkommen vom 20. Mai 1980 über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder und die Wiederherstellung des Sorgeverhältnisses (BGBl. 1990 II 206, 220) vorgesehen ist (näher Bach/Gildenast, Internationale Kindesentführung, 1999, Rdn. 3 f. mit Nachw.). Die Bestrafung eines internationalen Kindesentführers und dessen Auslieferung kann nicht als international menschenrechtswidrig gelten.

b) Auch Art. 6 GG ist nicht verletzt. Dabei unterstellt der Senat zugunsten des Verfolgten, dass sich der Schutzbereich des Art. 6 GG, der Menschen-, nicht Deutschenrecht ist, auch auf solche Familien erstreckt, die abgesehen von der Verhaftung des Vaters in der Bundesrepublik Deutschland keinerlei Bezug zur Bundesrepublik Deutschland haben; dass Art. 6 Abs. 2, 3 GG auch eine Eltern-Kind-Beziehung schützt, deren konkrete Gestalt ein Elternteil durch strafbare internationale Kindesentziehung hergestellt hat; und dass die durch Auslieferung bewirkte Trennung des Verfolgten von seinem Sohn einen Eingriff in sein Elternrecht (und nicht bloß eine unbeabsichtigte Nebenfolge einer anderweitigen verfassungsgemäßen Maßnahme, vgl. BVerfG NJW 1992, 1093) darstellt. Jedenfalls wäre der Eingriff gerechtfertigt, da eine Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter ergibt, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Die Auslieferung rechtfertigt sich aus den berechtigten amerikanischen Strafverfolgungsinteressen, die zu unterstützen sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet hat. Keinesfalls liegt eine Bagatelltat vor, und auch in der Bundesrepublik Deutschland hätte der Verfolgte Freiheitsstrafe zu gewärtigen.

Dass dies die Ausübung seines Elternrechts beeinträchtigt, hat der Verfolgte selbst zu verantworten.

c) Das Kindeswohl C.s, der bei Bewilligung der Auslieferung auf bis zu drei Jahre ohne Vater und bis auf weiteres auch ohne Mutter aufwachsen muss, steht für sich genommen der Auslieferung rechtlich nicht entgegen, wie es auch einer innerstaatlichen Strafverfolgung für sich genommen rechtlich nicht entgegenstünde. Im übrigen hat der Senat nicht den Eindruck, dass niemand für C. sorge und das Kind in Not geraten werde; vielmehr befindet es sich in ärztlicher Behandlung der physischen und psychischen Folgen der Verhaftung des Vaters, was keineswegs bei allen Kindern verhafteter Väter der Fall ist.

(...)

Ende der Entscheidung

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