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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 14.10.2002
Aktenzeichen: 3 Ausl. 86/02
Rechtsgebiete: EuAlÜbk, IRG
Vorschriften:
EuAlÜbk Art. 19 | |
IRG § 37 |
Gründe:
Der Verfolgte, ein israelischer Staatsbürger, befindet sich seit dem 20. März 2002 in deutscher Untersuchungshaft. Im deutschen Strafverfahren wird ihm bandenmäßiger Schmuggel (§ 373 Abs. 2 Nr. 3 AO) vorgeworfen. Er soll sich mit mindestens acht weiteren Personen zu einer Schmuggelbande zusammengeschlossen und im März 2002 einen Container mit 9 Mio. Zigaretten der Marke B & H über den Hamburger Hafen unter Hinterziehung von 854.000,- € Einfuhrabgaben in die Bundesrepublik Deutschland geschmuggelt haben. Am 24. September 2002 hat die Republik Österreich durch Ausschreibung im Schengener Informationssystem um vorläufige Festnahme des Verfolgten mit dem Ziel der Auslieferung zur Strafverfolgung ersucht. Die österreichischen Stellen werfen dem Verfolgten gewerbsmäßigen und bandenmäßigen Schmuggel (§§ 35, 38 österreichisches Finanzstrafgesetz -FinStrG) in Tateinheit mit vorsätzlichem Eingriff in die Rechte des Tabakmonopols (§ 44 FinStrG) vor. Er soll als Mitglied einer Bande von Zigarettenschmugglern seit Juli 2000 oder April 2001 knapp 13,5 Mio. Zigaretten, davon 9,8 Mio. Zigaretten der Marke Marlboro Lights, geschmuggelt haben. Auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart hat der Senat die (vorläufige) Auslieferungshaft angeordnet, die freilich nur vollzogen werden soll, wenn und sobald der Untersuchungshaftbefehl aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt wird.
II. (...) 5. Der Anordnung der vorläufigen Auslieferungshaft steht nicht entgegen, dass der Verfolgte in der Bundesrepublik Deutschland strafverfolgt wird und sich deswegen derzeit in Untersuchungshaft befindet.
a) Nach derzeitigem Stand geht der Senat davon aus, dass die der deutschen Strafverfolgung zugrundeliegende Tat eine im prozessualen Sinne andere ist als diejenige, welche dem österreichischen Ersuchen zugrunde liegt, so dass sich Fragen des auslieferungsrechtlichen ne bis in idem nicht stellen (vgl. Art. 8, 9 EuAlÜbk, 54 ff. SDÜ, 7 EG-FinSchÜbk; 1 ff. EG-ne bis in idem-Übk, das im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich vorzeitig anwendbar ist, BGBl. 1998 II 2226, 2002 II 601, 604 und § 9 Nr. 1 IRG). (...)
b) Innerstaatliche Strafverfolgung wegen einer anderen Tat als derjenigen, welche dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegt, hindert weder die Zulässigkeit noch die Bewilligung der Auslieferung. Das ergibt sich aus Art. 19 EuAlÜbk bzw. § 37 IRG. Hiernach besteht die Möglichkeit, nach der Entscheidung über das Auslieferungsersuchen die Übergabe des Verfolgten aufzuschieben bzw. nach Bewilligung der Auslieferung diese aufzuschieben, um eine innerstaatliche Strafverfolgung bzw. -vollstreckung zu gewährleisten. Mit anderen Worten setzt der Aufschub - ebenso wie die alternativ mögliche bedingte Übergabe bzw. vorübergehende Auslieferung (hierzu OLG Karlsruhe Justiz 1997, 183) - die vorherige Durchführung eines Zulässigkeits- und Bewilligungsverfahrens voraus (vgl. Vogler, in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl., Teil 1 A 2 - Vogler/Wilkitzki, IRG-Kommentar - § 37 IRG Rdn. 2). Dies bedeutet aber, dass die Strafverfolgungs- bzw. -Vollstreckungsinteressen des ersuchten Staats erst beim Vollzug der Auslieferung, nicht bereits bei der Auslieferungsentscheidung als solcher berücksichtigt werden (vgl. Fn. 50 zu Art. 19 EuAlÜbk, in: Grützner/Pötz aaO. Teil III 1). Dass der Auslieferungsvollzug unterbleiben muss. solange und soweit nach innerstaatlichem Recht Verfolgungs- bzw. Vollstreckungszwang besteht, ist daher keine Frage der Zulässigkeit der Auslieferung als solcher oder ihrer Bewilligung - mag es auch zweckmäßig erscheinen, dass die Bewilligungsbehörde den ersuchenden Staat im Bewilligungsschreiben auf den etwaigen Aufschub des Auslieferungsvollzuges hinweist.
c) Auch im übrigen steht der Umstand, dass sich der Verfolgte in Untersuchungshaft befindet, dem Erlass eines vorläufigen Auslieferungshaftbefehls nicht entgegen (s. zum folgenden auch OLG Düsseldorf, in: [Hrsg.] Eser/Lagodny/Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2. Aufl., U 70 auf S. 267 f.). Der Untersuchungshaftbefehl bezieht sich allein auf das innerstaatliche Strafverfahren, bezweckt dessen Sicherung und wird aus allein dort angesiedelten Gründen erlassen, aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt, beispielsweise wenn sich der dortige Tatverdacht nicht erhärtet, die dortige Straferwartung so weit absinkt, dass Fluchtgefahr nicht mehr angenommen werden kann, oder die zeitlichen Grenzen der Untersuchungshaft überschritten werden. Demgegenüber bezieht sich der vorläufige Auslieferungshaftbefehl auf das Auslieferungsverfahren (und mittelbar auf das zugrundeliegende Strafverfahren im ersuchenden Staat), bezweckt dessen Sicherung und wird aus allein dort angesiedelten und sachlich eigenständigen Gründen erlassen, aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt, beispielsweise wenn das Auslieferungsersuchen nicht rechtzeitig eingeht (Art. 16 Abs. 4 EuAlÜbk, § 16 Abs. 2 IRQ) oder Auslieferungshindernisse offenbar werden. Auch innerstaatlich sind mehrfache Haftbefehle zumindest in der Gestalt, dass sie erst nach Ablauf von Untersuchungs- oder Strafhaft in anderer Sache vollstreckt werden sollen ("Überhaft"), gängig und rechtlich unbedenklich (vgl. Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Vor § 112 Rdn. 36, 50 ff. mit umf. Nachw.).
6. Die konkurrierende deutsche Gerichtsbarkeit über die dem österreichischen Ersuchen zugrundeliegende Tat berührt die Zulässigkeit der Auslieferung und die Anordnung vorläufiger Auslieferungshaft nicht. Allerdings unterliegen von Ausländern im Ausland begangene Abgabenstraftaten insoweit deutscher Gerichtsbarkeit, als es - wie hier - um hinterzogene Eingangsabgaben, Umsatzsteuern und harmonisierte Verbrauchssteuern geht (§ 370 Abs. 7 i.V. mit Abs. 6 AO; siehe zum früheren Streit Döllel wistra 1998, 70 [71] mit Nachw.). Derzeit ist aber nicht ersichtlich, dass sich diese deutsche Gerichtsbarkeit konkretisiert hätte (s. hierzu auch OLG Karlsruhe aaO.) und ein diesbezügliches Strafverfahren anhängig wäre, dessen Abschluss gegebenenfalls ein auslieferungsrechtliches ne bis in idem auslösen könnte (siehe oben II. 5. a). Ein Verfolgungszwang besteht nicht, gerade auch mit Blick auf eine mögliche Auslieferung zur Verfolgung der Auslandstat (vgl. §§ 153 c Abs. 1 Mir. 1, 154 b Abs. 1 StPO). In dieser Situation treten Zulässigkeitsfragen (noch) nicht auf, und es bleibt den Strafverfolgungs- und Bewilligungsbehörden überlassen, in Abstimmung mit der Republik Österreich (s. Art. 6 Abs. 2 EG-FinSchÜbk) zu entscheiden, wo die Strafverfolgung stattfinden soll.
III. 1. Eines Vollzuges des Auslieferungshaftbefehls bedarf es erst, wenn und sobald der Untersuchungshaftbefehl (...) aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt wird ("Überhaft"). Dabei lässt der Senat offen, ob der gleichzeitige Vollzug mehrerer Haftbefehle ("Doppelhaft") überhaupt zulässig ist (so OLG Schleswig Rpfleger 1966, 109 mit krit. Anm. Pohlmann; Paeffgen, in: Systematischer Kommentar StPO, Vor § 112 Rdn. 35; Hilger aaO. Rdn. 52; a.A. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., Vor § 112 Rdn. 12; Pfeiffer, StPO, 3. Aufl., Vor §§ 112-131 Rdn. 3; je mit weit. Nachw.). Jedenfalls besteht keine sachliche Notwendigkeit für einen - nach allgemeiner Auffassung komplizierten und nach Möglichkeit zu vermeidenden (vgl. Hilger aaO. Rdn. 53 am Ende) - Doppelvollzug. Zwar sind die Zwecke von Untersuchungs- und vorläufiger Auslieferungshaft nicht deckungsgleich (siehe oben II. 5. c). Jedoch ist nicht ersichtlich, welche Beschränkungen dem Verfolgten unter dem Gesichtspunkt der Auslieferungshaft auferlegt werden sollten, die ihm nicht bereits unter dem Gesichtspunkt der Untersuchungshaft auferlegt worden sind. Insbesondere geht der Senat davon aus, dass der Verkehr des Verfolgten mit der Außenwelt bereits im Rahmen der Untersuchungshaft hinreichend überwacht wird, zumal der deutsche Tatvorwurf strukturgleich mit dem österreichischen ist.
2. Obwohl der Auslieferungshaftbefehl nur als Überhaft vollzogen wird, ist er bereits jetzt dem Verfolgten, der eine Abschrift erhält, bekannt zu machen. Das ist in anderen Fällen der Überhaft anerkanntes Recht (s. Hilger aaO. Rdn. 50 mit Nachw.) und folgt vorliegend zumindest aus § 77 IRG i.V. mit § 35 StPO. Ist dem Verfolgten die deutsche Sprache nicht verständlich, so hat er gemäß Art. 5 Abs. 2, 6 Abs. 3 a) MRK das Recht, über die Gründe des Auslieferungshaftbefehls und die von Seiten der österreichischen Stellen gegen ihn erhobenen Vorwürfe in einer ihm verständlichen Sprache unterrichtet zu werden (vgl. hierzu Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO. Art. 6 MRK Rdn. 26 mit Nachw.). Weiterhin kann der Verfolgte bereits jetzt gegen den Auslieferungshaftbefehl und dessen künftigen Vollzug Einwendungen erheben, über die gemäß § 23 IRG das Oberlandesgericht entscheidet. Erst mit Vollzug der Überhaft zu laufen beginnt die Vierzigtagesfrist des Art. 16 Abs. 4 EuAlÜbk, § 16 Abs. 2 Satz 1 IRG, weil zuvor noch keine Haft "zum Zweck der Auslieferung" vorliegt (Wilkitzki, in: Grützner/Pötz aaO. § 16 IRG Rdn. 46). Solange die Überhaft nicht vollzogen wird, muss der Verfolgte weder gemäß § 21 IRG dem Richter des nächsten Amtsgerichts vorgeführt werden, noch findet eine Haftprüfung durch das Oberlandesgericht gemäß § 26 IRG statt. Geht das Auslieferungsersuchen ein, so ist der Verfolgte gernäß § 28 IRG zu vernehmen. Erklärt er sich mit der vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden und kann eine Bewilligungsentscheidung nicht noch während des Vollzuges der anderweitigen Haft ergehen, so entscheidet das Oberlandesgericht, ob der vorläufige Auslieferungshaftbefehl endgültig aufrechterhalten wird (§16 Abs. 3 IRG, vgl. OLG Düsseldorf MDR 1994, 1236; Wilkitzki aaO. Rdn. 65).
Ende der Entscheidung
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