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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 14.05.2007
Aktenzeichen: 3 Ausl. 87/06
Rechtsgebiete: EuAlÜbk, 2. ZP-EuAlÜbk, IRG
Vorschriften:
EuAlÜbk | |
2. ZP-EuAlÜbk Art. 3 | |
IRG § 73 |
Tatbestand:
Die Republik Türkei ersucht um Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten. Der Verfolgte war 1995 vom 1. Staatssicherheitsgericht zu M./Republik Türkei wegen Mitgliedschaft in einer bewaffneten und terroristischen Vereinigung und Bande gemäß Art. 168 Abs. 2 Türkisches Strafgesetzbuch vom 01. März 1926 mit nachfolgenden Änderungen (im Folgenden: türk. StGB a.F.) in Verbindung mit Art. 3 und 5 Antiterrorgesetz Nr. 3713 vom 12. April 1991 (im Folgenden: türk. G Nr. 3713) zu einer Freiheits- bzw. Zuchthausstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten unter Anrechnung erlittener Polizei- und Untersuchungshaft verurteilt worden. 1996 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurde nach rechtskräftigem Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart als Asylbewerber anerkannt, weil das türkische Strafverfahren als politische Verfolgung zu bewerten sei. Nach Inkrafttreten des neuen Türkischen Strafgesetzbuchs vom 26. September 2004 (im Folgenden: türk. StGB n.F.) wurde in Abwesenheit des Verfolgten ein ergänzendes Strafverfahren vor dem Schwurgericht zu M./Republik Türkei durchgeführt. In Hinblick darauf, dass die Nachfolgebestimmung zu Art. 168 Abs. 2 türk. StGB einen geringeren Strafrahmen vorsieht, wurde die gegen den Verfolgten verhängte Freiheitsstrafe auf sechs Jahre und drei Monate ermäßigt. Das Bundesministerium der Justiz hat mitgeteilt, in der Bundesregierung bestünden keine Bedenken, die Auslieferung zu bewilligen, wenn sie für zulässig erklärt werde. Der Senat hat die Auslieferung für unzulässig erklärt.
Gründe:
II. Die Auslieferungsunterlagen in Verbindung mit den dem Senat vorliegenden Unterlagen des Asylverfahrens in Verbindung mit den vom Senat im Freibeweisverfahren gewonnenen Erkenntnissen reichen aus, um die Zulässigkeit der Auslieferung zu beurteilen (§ 30 Abs. 1 IRG), und es bedarf keiner Anhörung (§ 28 IRG), keiner weiteren Beweisaufnahme (§ 30 Abs. 2 IRG) oder einer mündlichen Verhandlung (§ 30 Abs. 3 IRG). Die Beurteilung ergibt, dass die Auslieferung des Verfolgten zur Strafvollstreckung an die Republik Türkei unzulässig ist, und zwar unabhängig davon, ob er politisch verfolgt wurde oder wird und ob ein hinreichender Tatverdacht gegen ihn besteht.
1. Der Auslieferungsverkehr mit der Republik Türkei richtet sich nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (im Folgenden: EuAlÜbk, s. zum Inkrafttreten im Verhältnis zur Republik Türkei BGBl. 1976 II S. 1778, 1994 II S. 3645) und dem Zweiten Zusatzprotokoll hierzu vom 18. März 1978 (im Folgenden: 2. ZP EuAlÜbk; s. zum Inkrafttreten im Verhältnis zur Republik Türkei BGBl. 1992 II S. 1092). Da und soweit der Verfolgte wegen einer terroristischen Straftat verurteilt wurde, ist zudem das Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Januar 1977 (im Folgenden: EuTerrÜbk, s. zum Inkrafttreten im Verhältnis zur Republik Türkei BGBl. 1981 II S. 456) zu beachten.
2. Die Tat(en), wegen der(en) der Verfolgte rechtskräftig verurteilt worden ist, ist (sind) beiderseits strafbar (vgl. §§ 129, 129 a sowie §§ 212, 211, ggf. 22, 25 ff. oder 30 StGB), mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von über einem Jahr bedroht, und der Verfolgte hat noch mehr als vier Monate Freiheitsstrafe zu verbüßen (Art. 2 Abs. 2 EuAlÜbk). Der Senat geht davon aus, dass Vollstreckungsverjährung nach türkischem Recht (Art. 10 EuAlÜbk) nicht eingetreten ist. Gemäß Art. 113 türk. StGB a.F. begann die Frist am Tage der Rechtskraft des ursprünglichen Urteils, also am 23. Januar 1996, zu laufen. Zwar heißt es in dem türkischen Original der Auslieferungsunterlagen, Vollstreckungsverjährung trete am 23. Januar 2006, also nach Ablauf einer Zehnjahresfrist, ein. Jedoch bestimmte Art. 112 Abs. 1 Nr. 3 türk. StGB a.F., dass die Frist bei Freiheitsstrafen über fünf und unter zwanzig Jahren zwanzig Jahre betrage. Hiermit wäre nur ein Verjährungseintritt am 23. Januar 2016 vereinbar, wie es in der von den türkischen Stellen zur Verfügung gestellten Übersetzung der Auslieferungsunterlagen denn auch heißt. Auch nach deutschem Recht würde die Vollstreckung der schlussendlich gegen den Verfolgten ausgeurteilten Freiheitsstrafe erst zwanzig Jahre nach Rechtskraft verjähren (§ 79 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 6 StGB). Die Auslieferungsunterlagen werden den Anforderungen des Art. 12 EuAlÜbk (noch) gerecht. Insbesondere enthalten sie beglaubigte Abschriften der Urteile (Art. 12 Abs. 2 a] EuAlÜbk), eine (noch) ausreichende Schilderung der tatsächlichen Vorwürfe gegen den Verfolgten (Art. 12 Abs. 2 b] EuAlÜbk) und der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen (Art. 12 Abs. 2 c] EuAlÜbk). Mit der rechtskräftigen Verurteilung zu vollstreckbarer Freiheitsstrafe liegt eine tragfähige richterliche Entscheidung vor, und der Senat hat keine Anhaltspunkte dafür, dass der (Vollstreckungs-) Haftbefehl nach türkischem Recht richterlicher Nachprüfung entzogen wäre (vgl. Art. 5 Abs. 4 EMRK).
3. Der Senat kann offen lassen, ob das Auslieferungshindernis der politischen Tat gemäß Art. 3 Abs. 1 EuAlÜbk, Art. 1 EuTerrÜbk eingreift oder ernstliche Gründe im Sinne des Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbk gegeben sind, anzunehmen, dass der Verfolgte als bloßer Sympathisant der TKP-ML/TIKKO* aus auf politischen Anschauungen beruhenden Erwägungen verurteilt wurde oder im Falle der Auslieferung - auch heute noch - der Gefahr einer Erschwerung seiner Lage aus diesem Grund ausgesetzt wäre. Auch kann der Senat offen lassen, ob § 4 Satz 2 AsylVerfG, wonach die Entscheidung über den Asylantrag im Auslieferungsverfahren nicht verbindlich ist, mit höherrangigem Recht vereinbar ist (verneinend Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Hackner/Gleß, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl., § 6 Rdn. 55a). Schließlich kann der Senat offen lassen, ob besondere Umstände des Falles gemäß § 10 Abs. 2 IRG Anlass zu der Prüfung geben, ob der Verfolgte der Tat(en) hinreichend verdächtigt erscheint.
4. Denn der Senat hat begründete Anhaltspunkte dafür anzunehmen, dass das ursprüngliche Strafverfahren gegen den Verfolgten nicht mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar war, was durch das ergänzende Strafverfahren gegen den Verfolgten nicht ausgeglichen wird.
a) Zwar enthält das EuAlÜbk keine dem § 73 IRG vergleichbare "ordre public-Klausel". Jedoch ist es in der Rechtsprechung anerkannt, dass im Rechtshilfeverkehr stets zu prüfen ist, ob die Rechtshilfe und die ihr zugrunde liegenden Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind (s. nur BVerfGE 63, 332 [337 f.]; 75, 1 [19]; BVerfG JZ 2004, 141; BGHSt 47, 120 [124]; Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Hackner/Gleß a.a.O. § 73 Rdn. 7a; Vogel, in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl., § 73 IRG Rdn. 51 ff.). Diese Prüfung ist von Amts wegen vorzunehmen, es gilt der Amtsermittlungsgrundsatz, und es ist das Freibeweisverfahren anwendbar (Vogel a.a.O. Rdn. 123, 125). Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob und inwieweit den Verfolgten eine Darlegungslast trifft (vgl. hierzu Vogel a.a.O. Rdn. 124). Zumindest muss geprüft werden, was sich aus den Auslieferungsunterlagen und ggf. beigezogenen weiteren Unterlagen ergibt oder aufdrängt und was der Verfolgte in geradliniger, folgerichtiger, widerspruchsfreier, konkreter, anschaulicher und detailreicher Schilderung glaubhaft vorträgt. In der Sache muss die Prüfung auf den konkret-individuellen Einzelfall bezogen werden. Abstrakt-generelle Missstände genügen als solche nicht, können aber ein Indiz für eine konkret-individuelle Verletzung der Mindeststandards sein, die bei grober, offenkundiger oder massenhafter Verletzung der Menschenrechte nahe liegt (BVerfG JZ 2004, 141 f. mit Verweis auf Art. 3 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984, im Folgenden: VN-FolterÜbk). Gegen eine Verletzung der Mindeststandards im ersuchenden Staat kann hingegen sprechen, dass dieser Staat ein international anerkannter Rechtsstaat ist und/oder mit ihm vertragliche Rechtshilfebeziehungen bestehen (vgl. BVerfG JZ 2004, 141 [142]). Eine konkret-individuelle Verletzung der Mindeststandards im ersuchenden Staat macht die Rechtshilfe, auch die Auslieferung, unzulässig. Die Verletzung muss nicht zur Überzeugung des Oberlandesgerichts festgestellt werden und weder sicher noch weit überwiegend wahrscheinlich sein; vielmehr genügt es, dass das Oberlandesgericht überzeugt ist, dass begründete Anhaltspunkte für eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verletzung bestehen (vgl. erneut BVerfG JZ 2004, 141 mit weiteren Nachweisen). Zwar sind diese Formeln anhand von Fällen entwickelt worden, in denen eine mögliche Verletzung der Mindeststandards nach einer möglichen Bewilligung der Rechtshilfe bzw. Auslieferung, z.B. dann drohende Folter, geltend gemacht wird. Der Senat wendet sie jedoch auch auf Fälle wie den vorliegenden an, in denen eine Verletzung der Mindeststandards vor diesem Zeitpunkt geltend gemacht wird. Allerdings entfällt in dieser Konstellation das Prognoseproblem. Aber an dessen Stelle tritt - ähnlich wie im Asylverfahren - das Problem der sachtypischen Beweisnot des Verfolgten, der häufig nicht in der Lage sein wird, vom Inland aus eine Verletzung der Mindeststandards durch den ersuchenden Staat zu beweisen. Derartige Verletzungen einzugestehen, wird der ersuchende Staat typischerweise nicht bereit sein, andernfalls er nicht um Rechtshilfe bzw. Auslieferung ersucht hätte. Alles das rechtfertigt eine gewisse Beweiserleichterung. Ob sie so weit gehen sollte, den Grundsatz "in dubio pro reo" entsprechend anzuwenden (so Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Hackner/Gleß a.a.O. § 6 IRG Rdn. 59; Vogler, in: Grützner/Pötz a.a.O. § 6 IRG Rdn. 180), lässt der Senat offen.
b) Der Senat hat begründete Anhaltspunkte dafür anzunehmen, dass die Verurteilung des Verfolgten im ursprünglichen Strafverfahren auf einem in Polizeigewahrsam abgegeben Geständnis beruht, das durch Folter erzwungen wurde.
aa) Der Verfolgte hat im Asylverfahren angegeben, er sei nach seiner Festnahme am 09. Januar 1993 fünfzehn Tage im Polizeigewahrsam in A. festgehalten und von der dortigen Terrorismusbekämpfungseinheit mit kaltem Wasser bespritzt, mit Eiswürfeln bedeckt und in eine Decke eingehüllt und aufgehängt worden, und ihm seien an seinen Genitalien sowie an seinen Zehen Elektroschocks versetzt worden, wobei die Zehen mit Stoff umwickelt worden seien. Hierdurch habe man ihn zwingen wollen zu gestehen, dass er Mitglied der TKP-ML/MIKKO sei, sie tätig unterstützt und sich an Tötungsdelikten, insbesondere an der Tötung des A. A., beteiligt habe.
bb) Diese Angaben hat das Verwaltungsgericht Stuttgart mit nachvollziehbarer Begründung als glaubhaft und den Verfolgten nachvollziehbar als glaubwürdig bewertet. Der Senat hat die Möglichkeit erwogen, dass der Verfolgte die Unwahrheit gesagt hat, um sich Vorteile im Asylverfahren zu verschaffen. In der Anhörung vor dem Bundesamt und letztlich auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren spielte die Folter freilich keine hervorgehobene Rolle. Es ist aktenkundig, dass der Verfolgte in der Zeit vom 09. bis zum 22. Januar 1993 in A. in Polizeigewahrsam war. Sein aktenkundiger Widerruf des Geständnisses, nachdem er aus dem Polizeigewahrsam entlassen war, kann als Indiz dafür gewertet werden, dass er im Polizeigewahrsam nur unter Zwang gestanden hatte. Seine Angaben decken sich mit allgemein- und gerichtskundigen Erkenntnissen über Folterpraktiken in der Republik Türkei bis weit in die 1990er Jahre hinein. Ergänzend zu dem, was das Verwaltungsgericht Stuttgart in seinem Urteil auf S. 8 f. ausgeführt hat, weist der Senat auf die am 11. Januar 2007 veröffentlichten Berichte des European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment des Europarats über die Besuche in der Republik Türkei vom 09. bis zum 21. September 1990 (CPT/Inf [2007] 1) und vom 16. bis zum 28. Oktober 1994 (CPT/Inf [2007] 8) hin:
CPT/Inf [2007] 1 S. 26 f.
58. An extremely large number of allegations of torture (...) by the police were made. (...) Practically all persons detained for offences against the State and who were of left-wing political tendencies claimed that they had been tortured while in police custody. (...)
59. The forms of torture and severe ill-treatment most commonly alleged were: physical
- suspension by the arms, in particular the variant known as "Palestinian hanging" (...);
- electric shocks, often (...) accompanied by the dousing with water. It was said that shocks were most commonly applied to the genitals, (...) toes (...);
- hosing with high pressure cold water jets;
(...)
60. Other features common to many of the allegations were:
- torture (...) were applied most severely in the first days of police custody (thereby leaving time for injuries resulting therefrom to heal before the victim was released from police custody);
- steps were taken to avoid as far as possible physical marks on the victim (e.g. the use of cloths to avoid abrasions to the wrists during suspension);
(...)
65. The delegation's doctors met a large number of persons who claimed that they had been tortured (...) Twenty-eight (...) were examined by the doctors; in twenty-three of the cases, physical marks or conditions consistent with the allegations of torture (...) were observed.
CPT/Inf (2007) 7 S. 13
13. The (...) delegation (...) interviewed a large number of persons who alleged that they had recently been subjected to torture (...) by law enforcement officers. (...)
14. A significant proportion of the above-mentioned persons were found on examination by the delegation's doctors to display marks or conditions consistent with the allegations made by them. (...) The forms of torture (...) alleged were essentially the same as those described in earlier (...) reports (...); in many cases, it was alleged that two or more forms of ill-treatment were inflicted simultaneously and/or successively.
In diese Erkenntnisse fügen sich die Angaben des Verfolgten einerseits ein und enthalten andererseits besondere Einzelheiten wie die Verwendung von Eiswürfeln zur Kältefolter, die gegen die Annahme sprechen, der Verfolgte habe nur wiedergegeben, was ihm vom Hörensagen bekannt geworden sei.
cc) Der Senat sieht keinen Mehrwert darin, den Verfolgten vierzehn Jahre nach den Vorgängen und elf Jahre nach zweimaliger eingehender Vernehmung durch inländische Stellen erneut persönlich zu vernehmen (§ 30 Abs. 2 Satz 1 IRG). Es erscheint dem Senat auch untunlich, die türkischen Stellen um ergänzende Unterlagen zu ersuchen (§ 30 Abs. 1 IRG). Der Senat hält es für ausgeschlossen, dass eine mögliche Folter oder der Verzicht hierauf aktenkundig gemacht wurden. Aus den Auslieferungsunterlagen lässt sich entnehmen, dass Folter weder im ursprünglichen noch im ergänzenden Strafverfahren Gegenstand der Erörterung war; hierauf wird auch im Auslieferungsersuchen nicht eingegangen. Es erscheint in hohem Maße unwahrscheinlich, dass die türkischen Stellen diejenigen Polizeibeamten, welche für den Polizeigewahrsam in der Zeit vom 09. bis zum 22. Januar 1993 in A. verantwortlich waren, namhaft machen (können). Die dem Senat bekannte neue türkische Politik der "Null-Toleranz" gegenüber Folter bezieht sich auf Gegenwart und Zukunft, und das neue scharfe Strafrecht gegen Folter, das im türk. StGB n.F. verankert ist, gilt nicht rückwirkend. Einer allgemeinen Versicherung türkischer Stellen, der Verfolgte sei 1993 nicht gefoltert worden, würde der Senat keinen ins Gewicht fallenden Beweiswert zumessen.
dd) Aus der Begründung des ursprünglichen Urteils erhellt, dass der Verfolgte in der polizeilichen Vernehmung eine Mitgliedschaft in der TKP/ML-TIKKO gestand und angab, sich an dem Überfall auf A. A., seiner Beraubung und Tötung zumindest im Vorfeld beteiligt zu haben. Hierauf stützte das Gericht tragend den Schuldspruch. Soweit das Gericht weiterhin auf Vernehmungen im Ermittlungsverfahren, die in den Akten befindlichen Protokolle und den gesamte Akteninhalt verweist, ist das ohne jede Substantiierung. Dem Senat erscheint es auch untunlich, die türkischen Stellen insoweit um ergänzende Unterlagen zu ersuchen (§ 30 Abs. 1 IRG). Zwar kann der Senat nicht ausschließen, dass es Protokolle zu Vernehmungen anderer Mitbeschuldigter geben könnte, in denen der Verfolgte belastet wird. Jedoch würde der Senat solche Protokolle nicht verwerten, da er begründete Anhaltspunkte dafür sieht, dass sie gleichfalls durch Folter erzwungen worden sein könnten.
dd) Folter in der vorliegend in Rede stehenden Art und Weise ist nicht mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar. Das ist allgemein anerkannt (zusammenfassend Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Hackner/Gleß a.a.O. § 73 IRG Rdn. 90; Vogel, in: Grützner/Pötz a.a.O. § 73 IRG Rdn. 69; je mit Nachweisen) und wird von der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in ihrem Urteil Nr. 54810/00 vom 11. Juli 2006 Jalloh v. Germany zu Art. 3 EMRK nochmals wie folgt begründet (Nr. 99):
"(...) The Court reiterates (...) that Article 3 enshrines one of the most fundamental values of democratic societies. Even in the most difficult circumstances, such as the fight against terrorism (...), the Convention prohibits in absolute terms torture (...), irrespective of the victim's conduct. (...) Article 3 makes no provision for exceptions and no derogation from it is permissible (...) even in the event of a public emergency threatening the life of the nation (...)".
ee) Der Senat lässt offen, ob allein der Umstand, dass der Verurteilte gefoltert wurde, eine Auslieferung zur Strafvollstreckung unzulässig macht, weil Mindeststandards verletzt wurden. Im Anschluss an EGMR a.a.O. Nr. 163 (noch weitergehend EGMR, Urteil Nr. 54919/00 vom 09. Januar 2003 Icoz v. Turkey sowie Urteil Nr. 32580/96 vom 23. September 2003 Koc v. Turkey) geht der Senat jedenfalls davon aus, dass eine Verurteilung, die tragend auf einem durch wirkliche Folter - nicht "bloß" durch sonstige unmenschliche oder erniedrigende Behandlung - erzwungenen Geständnis oder sonst in dieser Weise erzwungenen Angaben beruht ("decisive element in securing the [...] conviction"), zugleich den Kern des Rechts auf ein faires Verfahren berührt, deshalb nicht im Einklang mit den Mindeststandards steht und zur Unzulässigkeit einer Auslieferung zur Strafvollstreckung führt.
c) Der Senat hat weiterhin begründete Anhaltspunkte dafür anzunehmen, dass die Verurteilung des Verfolgten im ursprünglichen Strafverfahren durch ein nicht hinreichend unabhängiges und unparteiisches Gericht erfolgte.
aa) Aus den Auslieferungsunterlagen ergibt sich, dass das 1. Staatssicherheitsgericht zu M. mit einem Vorsitzenden Richter ("Vorstand"), einem Beisitzenden Richter und einem beisitzenden Militärrichter besetzt war und in dieser Besetzung - die den gesetzlichen Vorgaben nach dem Recht des Urteilszeitpunkts entsprach - das Urteil gegen den Verfolgten fällte.
bb) Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR (grundlegend Urteile vom 09. Juni 1998 Incal v. Turkey Nr. 37 ff. und vom 28. Oktober 1998 Ciraklar v. Turkey Nr. 65 ff., Reports 1998 IV und VII; siehe aus neuerer Zeit Urteil der Ersten Kammer Nr. 46221/99 vom 12. März 2003 Öcalan v. Turkey Nrn. 111 ff. und Urteil der Großen Kammer vom 12. Mai 2005 in dieser Sache Nr. 112 ff.) verletzte die Besetzung der türkischen Staatssicherheitsgerichte die Garantie eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK. Auch wenn die Militärrichter in Staatssicherheitsgerichten formell unabhängig waren, blieben sie Soldaten, die Befehlen Gehorsam schuldeten, und in die militärische Disziplin eingebunden, wobei in Bezug auf ihre Richtertätigkeit bewertende Berichte gesammelt wurden, und waren nur auf vier Jahre ernannt. Auch aus Sicht vernünftiger Angeklagter bestand daher die Besorgnis, dass die Militärrichter durch sachfremde Erwägungen beeinflusst waren. Die Möglichkeit eines Kassationsverfahrens vor dem nur mit zivilen Richtern besetzten Kassationsgerichts beseitigte diese Besorgnis nicht, da in diesem Verfahren nur eine Rechtsprüfung stattfand (und stattfindet). Deshalb sind die Staatssicherheitsgerichte in der Republik Türkei mittlerweile abgeschafft worden.
cc) Zwar müssen sich ausländische Gerichte auslieferungsrechtlich nicht an Art. 101 Abs. 1 Satz 1 GG messen lassen, und Sonder- sowie auch Militärgerichte mit einer auf militärische Straftaten beschränkten Zuständigkeit widersprechen nicht ohne weiteres dem völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard und den unabdingbaren Grundsätzen der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland (BVerfG NStZ-RR 2004, 179 [180]; näher Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Hackner/Gleß a.a.O. § 73 IRG Rdn. 93; Vogel, in: Grützner/Pötz a.a.O. § 73 IRG Rdn. 72 ff. mit weiteren Nachweisen). Zu den nach Art. 25 GG zu beachtenden Grundsätzen elementarer Verfahrensgerechtigkeit des allgemeinen Völkerrechts gehört jedoch, dass die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter von Rechts wegen gewährleistet ist (BVerfG a.a.O.). Aus den Gründen, die der EGMR dargelegt hat, war dies für die Militärrichter in Staatssicherheitsgerichten nicht der Fall. Die dem Verfolgten vorgeworfene Tat war auch keine militärische Tat; in diesem Sinne stand er - ebenso wie der PKK-Führer Abdullah Öcalan - als Zivilist vor dem Gericht.
d) Das ergänzende Strafverfahren gegen den Verfolgten gleicht die Verletzung des Mindeststandards nicht aus.
aa) Den Auslieferungsunterlagen entnimmt der Senat, dass in dem ergänzenden Strafverfahren lediglich geprüft wurde, ob das ursprüngliche Urteil rechtlich mit dem türk. StGB n.F. vereinbar bzw. ob das neue Recht als lex mitior anzuwenden sei. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass das nunmehr zur Entscheidung berufene Gericht in eine sachliche Prüfung des ursprünglichen Verfahrens, Schuld- und Rechtsfolgenausspruchs eingetreten wäre. Vielmehr wurde im Ergebnis lediglich der Strafausspruch mechanisch dem neuen Recht als lex mitior angepasst.
bb) Damit bestehen weiterhin begründete Anhaltspunkte dafür, dass die Verurteilung tragend auf einem durch Folter erlangten Geständnis beruht.
cc) Zwar entschied im ergänzenden Strafverfahren ein ziviles Gericht. Angesichts des beschränkten Prüfungsumfanges kann dies die Beteiligung des Militärrichters im ursprünglichen Strafverfahren aber ebenso wenig wie ein Kassationsverfahren (siehe hierzu EGMR, Urteil vom 09. Juni 1998 Incal v. Turkey Nr. 72) kompensieren.
dd) Im Übrigen steht das ergänzende Strafverfahren nicht im Einklang mit Art. 3 2. ZP-EuAuslÜbk (grundlegend hierzu BGHSt 47, 120 = JZ 2002, 464 mit Anm. Vogel). Der Verfolgte war nicht anwesend. Die Ladung wurde an die letzte bekannte türkische Wohnanschrift des Verfolgten gerichtet, unter der er sich - wie die türkischen Stellen wussten - seit 1995 nicht mehr aufhielt; die Zustellung konnte nicht bewirkt werden. Dem Verfolgten wurde zwar ein Prozessbevollmächtigter als Pflichtverteidiger gestellt; jedoch ist nichts dafür ersichtlich, dass der Prozessbevollmächtigte Kontakt mit dem Verfolgten hatte. Auch wenn das ergänzende Strafverfahren, wie dargelegt, nur einen beschränkten Prüfungsgegenstand hatte, war es - auch im Hinblick auf die Verletzung der Mindeststandards im ursprünglichen Strafverfahren - von so gewichtiger Bedeutung, dass die persönliche Anwesenheit des Verfolgten unabdingbar gewesen wäre (vgl. auch Vogel, in: Grützner/Pötz a.a.O. § 73 Rdn. 87 "Abwesenheitsurteile zweiter oder höherer Instanz" mit weiteren Nachweisen). Der Senat sieht davon ab, den türkischen Stellen gemäß § 30 Abs. 1 IRG Gelegenheit zur Zusicherung eines neuen Gerichtsverfahrens nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 2. ZP-EuAlÜbk zu geben. Ein solche Zusicherung würde der Senat nur für ausreichend erachten, wenn die Türkische Republik auf die Vollstreckung des ursprünglichen sowie des ergänzenden Urteils verzichten und ein neues Strafverfahren einleiten würde, in dem eine Verwertung des ursprünglichen Geständnisses ausgeschlossen wäre. Der Senat vermag nicht zu erkennen, dass eine derart weitreichende Zusicherung nach türkischem Recht möglich wäre. Selbst wenn sie es wäre, erschließt sich dem Senat in einer Gesamtschau nicht, dass ein solches Vorgehen von den türkischen Stellen gewollt wäre.
* Nach Recherchen des Senats ist die TKP/ML (Turkiye Komunist Partisi/Marksist-Leninist) eine türkische linksextreme oppositionelle Gruppierung, die 1972 durch Ibrahim K a y p a k k a y a gegründet wurde, der 1973 in türkischer Haft starb. Die Gruppierung lehnt den türkischen Staat derzeitiger Gestalt und seine Regierung ab, spricht sich für eine sozialistische Revolution aus und steht der Kurdenbewegung, auch der PKK, nahe. Die TIKKO (Turkiye Isci Koylu Kurtulus Ordusu) ist der bewaffnete Arm der TKP/ML und greift immer wieder Regierungs- und Militärstellen, aber auch Privatleute an. In den Terrorismus-Listen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäischen Union ist die TKP/ML-TIKKO nicht als terroristische Organisation aufgeführt.
Ende der Entscheidung
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