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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 19.01.2001
Aktenzeichen: 3 Ausl. 96/00
Rechtsgebiete: IRG, EuAlÜbk, TürkStGB


Vorschriften:

IRG § 8
IRG § 11
IRG § 21 Abs. 3 Nr. 1
IRG § 22 Abs. 3 Satz 1
IRG § 73
EuAlÜbk Art. 11
EuAlÜbk Art. 14 Abs. 3
TürkStGB Art. 448
TürkStGB Art. 450
1. Auf wen sich ein Auslieferungsersuchen bezieht (§§ 21 Abs. 3 Nr. 1, 22 Abs. 3 Satz 1 IRG), ist durch Auslegung des Ersuchens - einschließlich der beigefügten Auslieferungsunterlagen - zu ermitteln. Dabei haben "unveränderliche" Personenmerkmale wie der Name, das Geburtsdatum und der -ort, die Eltern- bzw. Kindernamen und dergleichen höheres Gewicht als "veränderliche" Personenmerkmale wie der Wohnsitz im ersuchten Staat, der vom ersuchenden Staat aus ohnehin nur schwierig und nicht sicher festgestellt werden kann.

2. Gem. Art. 14 Abs. 3 i.V.m. Art. 11 EuAlÜbk ist es dem Staat, der die Auslieferung nur unter dem rechtlichen Gesichtspunkt eines Strafgesetzes begehrt, welches die Todesstrafe nicht zulässt, verwehrt, die Tat nach einem Strafgesetz zu verfolgen oder zu verurteilen, welches die Todesstrafe vorsieht, sofern nach dem Recht des ersuchten Staates die Auslieferung bei drohender Todesstrafe unzulässig ist. Die Zusicherung, diese Rechtslage zu beachten, kann das Auslieferungshindernis drohender Todesstrafe beseitigen (§ 8 IRG).

3. Droht dem Verfolgten im ersuchenden Staat eine zeitige Freiheitsstrafe im Mindestmaß von 25 Jahren, so gehört es zu den elementaren rechtsstaatlichen Anforderungen der Menschenwürde, die auch im vertraglichen Auslieferungsverkehr zu beachten sind, dass der Verfolgte grundsätzlich die Chance haben muss, deutlich vor Vollstreckungsende in die Freiheit zurückzukehren (entsprechende Anwendung von BVerfGE 45, 187). Dafür genügt es, dass das Recht des ersuchenden Staates die Möglichkeit einer Strafrestaussetzung, Begnadigung oder Strafvollzugslockerung mit Freigang, insbesondere bei hohem Alter oder schwerer Erkrankung, kennt und dass hiervon in der Rechtspraxis Gebrauch gemacht wird.


OLG Stuttgart

Beschluß vom 19. Januar 2001

3 Ausl. 96/00

Gründe:

II. (...) 1. Der Senat ist überzeugt, dass der Verfolgte diejenige Person ist, auf welche sich das Auslieferungsersuchen bezieht (vgl. §§ 22 Abs. 3 Satz 1, 21 Abs. 3 Nr. 1 IRG). Zwar heißt es in der Verbalnote vom 5.12.2000, dass derjenige M. A., um deren Auslieferung ersucht werde, sich "(n)ach den vorliegenden Informationen... in N. Str...., S." aufhalte. Jedoch folgt daraus nicht, dass das Ersuchen auf die Auslieferung des dort wohnenden (und nach den polizeilichen Vorermittlungen nicht als Verdächtiger in Betracht kommenden) M. A. bezogen ist. Auf wen sich das Auslieferungsersuchen bezieht, ist durch Auslegung des Ersuchens - einschließlich der ihm beigefügten Auslieferungsunterlagen - zu ermitteln. Dabei haben "unveränderliche" Personenmerkmale wie der Name, das Geburtsdatum und der -ort, die Eltern- bzw. Kindesnamen und dergleichen höheres Gewicht als "veränderliche" Personenmerkmale wie der Wohnsitz im ersuchten Staat, der von ersuchenden Staat aus ohnehin nur schwierig und nicht sicher festgestellt werden kann. Nach diesen Maßstäben ergibt sich aber, dass mit der Verbalnote vom 5.12.2000 die Auslieferung desjenigen M. A. begehrt wird, welcher 1936 in S. als Sohn von A. und M. geboren, in der Provinz K. standesamtlich eingetragen wurde und Söhne mit den Vornamen I., A. und A. hat. Alle diese Merkmale (...) treffen auf den Verfolgten zu. Im übrigen schränkt das Auslieferungsersuchen selbst das Gewicht der Wohnsitzangabe ein ("[n]ach den vorliegenden Informationen"); auch deshalb kann es hierauf nicht entscheidend ankommen.

2. (...) Der Senat ist auch der Überzeugung, dass ein Auslieferungshindernis wegen drohender Todesstrafe (Art. 11 EUAlÜbk, § 8 IRG) wahrscheinlich nicht besteht. Zwar bestimmt Art. 450 Nr. 4 TürkStGB (deutsche Übersetzung bei Tellenbach, Das Türkische Strafgesetzbuch, 1998, S. 216), dass der Täter mit dem Tode bestraft wird, wenn der absichtliche Mord zudem "mit Überlegung" begangen wird, und zwar erscheint es nach den in der Anklageschrift geschilderten Umständen durchaus nicht fernliegend, eine derartige Überlegung anzunehmen (zum früheren Mordmerkmal der Überlegung in § 211 RStGB a.F. vgl. LK-StGB-Jähnke, 10. Aufl., Vor § 211 Rdn. 36 m. w. N.). Auch geht der Senat davon aus, dass die derzeitige Praxis der türkischen Großnationalversammlung, die Vollstreckung der Todesstrafe nicht zu genehmigen, für sich nicht genügt, um die Gefahr der Bestrafung mit dem Tode zu beseitigen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 19.8.1998 - 3 ARs 3/98 [Ausl.]), und dass das im Vorbehalt der Republik Türkei zu Art. 11 EuAlÜbk niedergelegte Verfahren zur Umwandlung von Todesstrafen in lebenslange Freiheitsstrafen für sich gleichfalls nicht als ausreichend erachtet werden kann (vgl. OLG Düsseldorf NJW 1994, 1485; Schomburg/Lagodny, IRG, 3. Aufl. 1998, Art. 11 EuAlÜbk Rdn. 5a). Schließlich mag eine allgemeine und ausreichende Zusicherung der Republik Türkei, von der Verhängung bzw. Vollstreckung der Todesstrafe abzusehen, derzeit nicht erreichbar sein (vgl. OLG Celle aaO; eingehend zur Problematik Turhan, Die Rechtsstellung des Auszuliefernden nach türkischem Recht ..., 1993, S. 182 ff. m. w. N.). Jedoch droht dem Verfolgten vorliegend keine Todesstrafe, weil die Auslieferung nur wegen einer nicht mit dem Tode bedrohten Straftat des absichtlichen Mordes gem. Art. 448 TürkStGB begehrt wird. Wird die dem Ausgelieferten zur Last gelegte Handlung im Strafverfahren rechtlich anders als im Auslieferungsersuchen gewürdigt, so darf der Ausgelieferte gem. Art. 14 Abs. 3 EuAlÜbk nur insoweit verfolgt oder verurteilt werden, als die Tatbestandsmerkmale der rechtlich neu gewürdigten strafbaren Handlung die Auslieferung gestatten würden. Art. 14 Abs. 3 EuAlÜbk begründet also - anders als § 11 IRG (vgl. nur Schomburg/Lagodny aaO § 11 Rdn. 13, aber auch § 8 Rdn. 17) - eine beschränkte Spezialitätsbindung auch in rechtlicher Hinsicht. Allerdings würden, streng wörtlich genommen, die Tatbestandsmerkmale von Art. 450 TürkStGB die Auslieferung gestatten; insbesondere würde es sich um ein auslieferungsfähiges Delikt im Sinne des Art. 2 EuAlÜbk handeln. Art. 14 Abs. 3 EuAlÜbk spricht aber nicht von auslieferungsfähigen Delikten, sondern weitergehend von Straftaten, welche "die Auslieferung gestatten würden" ("which would allow extradition"). Deshalb können die bei neuer rechtlicher Würdigung eintretenden Rechtsfolgen nicht außer Betracht bleiben. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass dann die Todesstrafe droht, was nach Art. 11 EuAlÜbk das Recht des ersuchten Staates begründet hätte, die Auslieferung zu verweigern. Aus Art. 14 Abs. 3 i.V.m. 11 EuAlÜbk ergibt sich daher, dass es dem Staat, der die Auslieferung nur unter dem rechtlichen Gesichtspunkt eines Strafgesetzes begehrt hat, weiches die Todesstrafe nicht zulässt, verwehrt ist, die Tat nach einem Strafgesetz zu verfolgen oder zu verurteilen, welches die Todesstrafe vorsieht, sofern nach dem Recht des ersuchten Staates die Auslieferung bei drohender Todesstrafe unzulässig ist (ebenso OLG Celle aaO; Schomburg/Lagodny aaO Art. 14 EuAlÜbk Rdn. 11). An sich ist diese auf dem EuAlÜbk beruhende Rechtslage in der Republik Türkei gleichermaßen verbindlich wie in der Bundesrepublik Deutschland. Gleichwohl hält es der Senat für geboten, vor einer möglichen Zulässigkeitsentscheidung eine konkrete und fallbezogene Auskunft und Zusicherung der zuständigen türkischen Organe einzuholen, dass die Rechtslage aus türkischer Sicht ebenso beurteilt und beachtet wird. Im Einklang mit OLG Celle aaO und im Gegensatz zu OLG Hamm, Beschluss vom 20. März 1985 - 4 Ausl. 11/85 (abgedruckt bei Eser/Lagodny/Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2. Aufl. 1993, S. 394 f.) hält der Senat eine solche Auskunft und Zusicherung für möglich und wahrscheinlich erreichbar. OLG Celle aaO teilt mit, dass die Botschaft der Republik Türkei in einem vergleichbaren Fall mit Verbalnote vom 9.7.1998 erklärt habe, dass es "ausgeschlossen" sei, "eine Person, deren Auslieferung wegen einer nicht mit der Todesstrafe bedrohten Straftat beantragt und die durch die Bundesrepublik ausgeliefert wird, zum Tode zu verurteilen" und dass dies nach Auffassung des türkischen Justizministeriums "eine natürliche Folge der gleichzeitigen Anwendung des Art. 11 und des Art. 14 Abs. 3 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens" sei. Diese Rechtsauffassung liegt auch dem Beschluss des Vorsitzenden des 3. Schwurgerichts zu B. im Strafverfahren gegen den Verfolgten zugrunde ... Auch die Anklageschrift legt nur eine Straftat gem. Art. 448 TürkStGB zugrunde. Nach alledem kann - anders als bei OLG Hamm aaO - nicht die Rede davon sein, die bisherigen Erklärungen der türkischen Behörden böten keinen Anhalt für einen tatsächlich bestehenden Willen, die Verfolgung auf den Tatbestand des Art. 448 TürkStGB zu beschränken. Entgegen OLG Hamm aaO kann auch nicht angenommen werden, es sei eine Zusicherung "wie in § 8 IRG bestimmt" erforderlich; im Unterschied zum IRG kennt das EuAlÜbk eine beschränkte rechtliche Spezialitätsbindung, und die ausreichende Zusicherung ihrer Einhaltung genügt (ebenso OLG Celle aaO).

Schließlich geht der Senat nach derzeitigem Verfahrensstand davon aus, dass eine mögliche Auslieferung mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der deutschen öffentlichen Ordnung vereinbar ist und dass das Strafverfahren, das den Verfolgten in der Republik Türkei erwartet, den elementaren rechtsstaatlichen Anforderungen der Menschenwürde entspricht, die auch im vertraglichen Auslieferungsverkehr zu beachten sind (BVerfGE 63, 332, 337; 75, 1, 16 f.; NStZ 1994, 492). Die für die Annahme eines derartigen Auslieferungshindernisses erforderlichen "begründeten Anhaltspunkte" (BVerfG NStz 1994, 492, 493) für eine menschenrechtswidrige Behandlung des Verfolgten in der Republik Türkei sind bislang nicht gegeben. Sie ergeben sich insbesondere nicht daraus, dass das dem Verfolgten gem. Art. 448 TürkStGB drohende Strafmaß von 25 bis 30 Jahren Freiheitsstrafe - dies bei den gerichtsbekannten harten Vollzugsbedingungen in der Republik Türkei und bei einem Alter des Verfolgten von derzeit 64 Jahren - für sich elementaren rechtsstaatlichen Anforderungen widerspräche. Nach deutschem Recht würde dem Verfolgten möglicherweise sogar lebenslange Freiheitsstrafe drohen, die als solche verfassungsgemäß ist (BVerfGE 45, 187). Allerdings folgt aus der Menschenwürde des zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten, dass er grundsätzlich die Chance haben muss, in die Freiheit zurückzukehren (BVerfG aaO); nach deutschem Recht wird diese Chance nach Ablauf einer 15jährigen Mindestverbüßungszeit eröffnet (§ 57 a Abs. 1 Nr. 1 StGB). Bei einer zeitigen Freiheitsstrafe nach ausländischem Recht, deren Mindestmaß deutlich höher ist, muss das im Grundsatz entsprechend gelten und gehört als Ausfluss der Menschenwürde des Verurteilten zu den elementaren rechtsstaatlichen Anforderungen, die auch im vertraglichen Auslieferungsverkehr zu beachten sind. Deshalb muss ein Verfolgter, dem im ersuchenden Staat eine Freiheitsstrafe im Mindestmaß von 25 Jahren droht, die Chance haben, deutlich vor Vollstreckungsende in die Freiheit zurückzukehren. Hierfür genügt freilich, dass das Recht des ersuchenden Staates die Möglichkeit der Strafrestaussetzung oder Begnadigung oder mindestens Strafvollzugslockerung mit Freigang kennt und dass hiervon in der Rechtspraxis Gebrauch macht wird, insbesondere auch bei hohem Alter oder schwerer Erkrankung des Verurteilten. Diesen Anforderungen werden das türkische Recht und die türkische Rechtspraxis gerecht. Art. 19 Abs. 1 Türkisches Strafvollzugsgesetz (deutsche Übersetzung bei Tellenbach aaO S. 304) bestimmt, dass zu zeitigen Freiheitsstrafen Verurteilte auch ohne Antrag bedingt zu entlassen sind, wenn sie die Hälfte der Strafzeit verbüßt und sich gut geführt haben. Dem Senat ist bekannt, dass hiervon in der türkischen Rechtspraxis in durchaus erheblichem Umfange Gebrauch gemacht wird. Deshalb hat der Verfolgte selbst dann, wenn er zur Höchststrafe von 30 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wird, die Chance, nach 15 Jahren und damit deutlich vor Vollstreckungsende in die Freiheit zurückzukehren.

Ende der Entscheidung

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