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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 30.01.2001
Aktenzeichen: 3 HEs 7/01
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 121 Abs. 1
Fortdauer der Untersuchungshaft aus wichtigem Grund;

1. Von den Strafverfolgungsbehörden für geboten erachtete, wenigstens vertretbar erscheinende Verfahrensdispositionen können wichtige Gründe im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO für eine hierdurch eingetretene Verfahrensverzögerung darstellen, sofern nicht im folgenden grobe Fehler und Versäumnisse das Verfahren weiter erheblich verzögert haben.

2. Fehlt es an einem wichtigen Grund und kann eine erhebliche Verfahrensverzögerung auch nicht durch besondere Beschleunigung des weiteren Verfahrens ausgeglichen werden, so darf die durch § 121 Abs. 1 StPO gesetzlich konkretisierte Abwägung zwischen dem staatlichen Interesse an effektiver Strafrechtspflege einerseits und dem Beschuldigteninteresse an beschleunigtem Verfahren und verhältnismäßiger Untersuchungshaft nicht durch eine freie Abwägung dieser Interessen ersetzt werden.


OLG Stuttgart

Beschluß vom 30. Januar 2001

3 HEs 7/01

Gründe:

II. 1. b) Ein wichtiger Grund, der das Urteil noch nicht zuließe und die Fortdauer der Haft rechtfertigte, ist nicht gegeben.

aa) Zwar geht der Senat davon aus, dass an das Vorliegen eines wichtigen Grundes keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen, vor allem nicht bei der ersten Haftprüfung nach § 122 Abs. 1 StPO (vgl. hierzu auch KG Berlin, Beschluss vom 6. Oktober 1999 - [4] 1 HEs 208/99). Insbesondere hat der Senat anzuerkennen, daß den Strafverfolgungsbehörden im Rahmen ihrer Pflicht zu Sachaufklärung und Verfahrensförderung ein Gestaltungsspielraum verbleibt. Von ihnen für geboten erachtete, wenigstens vertretbar erscheinende Verfahrensdispositionen können deshalb wichtige Gründe für eine hierdurch eingetretene Verfahrensverzögerung darstellen, sofern nicht im folgenden grobe Fehler und Versäumnisse das Verfahren weiter verzögert haben (vgl. hierzu auch BVerfG NJW 2000, 1401; KG aaO; OLG Düsseldorf wistra 1997, 35). Überdies stehen nach ständiger Spruchpraxis des Senats nur erhebliche Verzögerungen der Anordnung der Haftfortdauer entgegen. Jedoch ergibt auch die Anlegung dieser engen und den Strafverfolgungsbehörden entgegenkommenden Maßstäbe, dass vorliegend die Haftfortdauer nicht angeordnet werden kann.

bb) Die bisherige Dauer des Strafverfahrens erklärt sich einerseits daraus, dass die Staatsanwaltschaft die Nachvernehmung der Angeschuldigten mit dem Ziel, die widersprüchlichen Angaben zur Tatbeteiligung des Mitangeschuldigten D. zu klären, für erforderlich hielt. Diese Einschätzung hält der Senat auch angesichts dessen für vertretbar, dass die Anklageschrift selbst davon ausgeht, das Leugnen des Mitangeschuldigten D. sei von Anfang an unschlüssig gewesen und könne durch das plausible und glaubhafte Geständnis des Mitangeschuldigten M. vom 28. Juli 2000 ohne weiteres widerlegt werden. Indes erschließt sich dem Senat nicht, warum - mit der Folge einer erhebliche Verfahrensverzögerung von über sechs Wochen - die offensichtlich bereits am 9. August erwogene Nachvernehmung erst am 6. September angeordnet wurde, so dass sie schließlich erst am 27. September bzw. 4. Oktober 2000 erledigt werden konnte.

cc) Andererseits erklärt sich die bisherige Verfahrensdauer daraus, dass die Staatsanwaltschaft auch nach Abschluß der von ihr für notwendig erachteten Ermittlungen am 4. Oktober 2000 weiter zugewartet hat, bis der allein noch ausstehende kriminalpolizeiliche Ermittlungsbericht fertiggestellt und ihr die so vervollständigten Akten letztendlich am 18. Dezember 2000 vorgelegt worden waren. Diese Verfahrensdisposition hält der Senat nicht mehr für vertretbar. Zusätzliche, für die staatsanwaltschaftliche Entschließung bedeutsame Erkenntnisse ließ der lediglich den Verfahrensgang und die Ermittlungsergebnisse referierende Bericht von vornherein nicht erwarten; da die Sache von Anfang an weder besonderen Umfang noch besondere Schwierigkeiten aufwies und das entstandene Aktenwerk überschaubar blieb, war er auch zur Einführung des Bearbeiters in die Sach- und Beweislage nicht unverzichtbar. Unter diesen Umständen wäre, gerade auch unter Berücksichtigung der im wesentlichen im Einflussbereich der Staatsanwaltschaft bereits eingetretenen erheblichen Verfahrensverzögerung (soeben bb) und der für den polizeilichen Sachbearbeiter absehbar fortbestehenden eigenen Überlastung, jedenfalls sogleich nach dem 4. Oktober 2000 eine Absprache beider Behörden dahingehend angezeigt gewesen, auf den weitere Verzögerungen verursachenden Ermittlungsbericht zu verzichten und die Akten zur Fertigung der Anklageschrift unverzüglich auf gegenwärtigem Stand vorzulegen. Dass dies nicht geschehen ist, muss der Senat - im Sinne der obigen Ausführungen - als grobes, der Annahme eines wichtigen Grundes entgegenstehendes Versäumnis werten, das zu einer weiteren erheblichen Verfahrensverzögerung von über zwei Monaten führte.

c) Zwar geht der Senat davon aus, dass für das Vorliegen eines wichtigen Grundes auch berücksichtigt werden muss, ob die eingetretene Verzögerung durch ein besonders beschleunigtes weiteres Verfahren oder die Aussicht hierauf ausgeglichen werden kann (vgl. hierzu Thür. OLG NStZ 1997, 452; Kleinknecht/Meyer-Goßner, 44. Aufl., § 121 Rdn. 26; je mwN; abl. aber Paeffgen NJW 1990, 537; ders. in: SK-StPO, § 121 Rdn. 18), ob das Verfahren auch bei zügiger Sachbehandlung nicht innerhalb der Frist durch Urteil hätte abgeschlossen werden können oder dies zumindest nicht feststellbar ist (vgl. hierzu eingehend LR-Hilger, 25. Aufl., § 121 Rdn. 33, auch 41, mwN) und - allgemein - wie erheblich die effektive Verzögerung ist. Jedoch ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass auch unter diesen Gesichtspunkten die Fortdauer der Haft nicht gerechtfertigt werden kann. Zwar hat die Staatsanwaltschaft vorliegend nur vier Tage nach Eingang der Akten Anklage erhoben, und zwar verkürzt das von dem Vorsitzenden vorliegend in Aussicht gestellte Verfahren den üblicherweise für die Vorbereitung der Hauptverhandlung zur Verfügung stehenden Zeitraum von drei Monaten ab Eingang der Anklage (Thür. OLG aaO S. 453) um mehr als einen Monat. Das kann jedoch die bisherige Verzögerung von über zwei, wenn nicht insgesamt über drei Monaten nicht ausgleichen. Vielmehr hätte bei der in Haftsachen gebotenen zügigen Sachbehandlung im Oktober 2000 Anklage erhoben werden und die Hauptverhandlung spätestens im Januar 2001 stattfinden müssen. Die damit verbleibende effektive Verzögerung von jedenfalls einem Monat ist in Anbetracht der konkreten Fallgestaltung erheblich.

2. Der Senat verkennt nicht, dass vorliegend bei beiden Mitangeschuldigten der dringende Tatverdacht eines Verbrechens gem. § 250 Abs. 1 Nr. 1 b) StGB und eines tateinheitlichen Vergehens gem. § 223 StGB und damit einer sehr erheblichen Straftat besteht und dass (...) Fluchtgefahr besteht. Auch verkennt der Senat nicht, dass der Vollzug der Untersuchungshaft die Angeschuldigten voraussichtlich nicht effektiv belasten wird, weil die zu erwartende Freiheitsstrafe - im Regelfall nicht unter drei Jahre - deutlich höher als die zu erwartende Untersuchungshaftzeit sein dürfte und die vollzogene Untersuchungshaft auf die zu verbüßende Freiheitsstrafe angerechnet wird. Wäre der Senat frei, zwischen dem staatlichen Interesse an effektiver Strafrechtspflege einerseits und dem Beschuldigteninteresse an beschleunigtem Verfahren und verhältnismäßiger Untersuchungshaft andererseits abzuwägen (vgl. hierzu auch einerseits OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 1996, 268, andererseits OLG Düsseldorf StV 1996, 552), so trüge er keine Bedenken, die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen. Jedoch stellt § 121 Abs. 1 StPO eine gesetzliche Konkretisierung der Abwägung dar. Auch wenn die Vorschrift - wie der vorliegende Fall zeigt - keine sachlich befriedigende Regelung der Problematik enthält (hierzu auch Hilger aaO. Rdn. 8 mit weit. Nachw.), ist der Senat an das Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG; hierzu Hilger aaO. Rdn. 6 mit weit. Nachw.). Insbesondere geht der Senat mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 20, 45, 50; 36, 264, 275; BVerfG NStZ 1994, 553) davon aus, dass § 121 StPO keiner analogen Anwendung zugänglich, sondern im Gegenteil wörtlich, eng und restriktiv auszulegen ist. Dem Senat erscheint es aber nicht als möglich, bei der hiernach gebotenen engen und restriktiven Auslegung des Begriffs "wichtiger Grund" in § 121 Abs. 1 StPO nach Lage der Dinge im vorliegenden Fall einen wichtigen Grund für die Haftfortdauer anzuerkennen. Im übrigen weist der Senat darauf hin, dass, sollten sich die Angeschuldigten der Hauptverhandlung entziehen, Vorführungs- und Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO ergehen kann (OLG Hamm StV 1996, 159; Hilger aaO. Rdn. 47); auch ist § 231 StPO anwendbar.

Ende der Entscheidung

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