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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 12.12.2002
Aktenzeichen: 4 Ss 549/2002
Rechtsgebiete: StPO, ZPO
Vorschriften:
StPO § 37 Abs. 1 | |
StPO § 145 a Abs. 1 | |
ZPO § 174 |
2. Verfügt der Verteidiger zum Zeitpunkt der Zustellung über eine rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht und ist diese - auch nachträglich - eindeutig nachweisbar, so ist eine an ihn bewirkte Zustellung ungeachtet der Frage wirksam, ob eine Verteidigervollmacht sich bei den Akten befunden hat.
Oberlandesgericht Stuttgart - 4. Strafsenat - Beschluss
Geschäftsnummer: 4 Ss 549/2002
vom 12. Dezember 2002
in der Strafsache
wegen Beleidigung.
Tenor:
Die Akten werden an die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart zurückgegeben.
Gründe:
I.
Der Angeklagte und Revisionsführer ist am 20. Dezember 2001 vom Amtsgericht Heilbronn wegen Beleidigung zu der Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt worden. Die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Auf seine Berufung hat das Landgericht Heilbronn in seiner Anwesenheit am 11. Juli 2002 das Urteil des Amtsgerichts dahin gehend im Rechtsfolgenausspruch abgeändert, dass er zu der Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 20,-- € verurteilt wird, und im Übrigen die Berufung verworfen. Hiergegen hat der Angeklagte durch seinen Verteidiger am 15. Juli 2002 Revision eingelegt. Mit Verfügung vom 31. Juli 2002 hat der Vorsitzende der Berufungskammer die Zustellung des Urteils an den Verteidiger angeordnet; laut Empfangsbestätigung des Verteidigers ist sie am 9. August 2002 bewirkt worden. Die Revisionsbegründung ist am 9. September 2002 eingegangen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart hat die Akten mit Schreiben vom 2. Dezember 2002 dem Oberlandesgericht Stuttgart ohne Stellung eines Antrags in der Sache mit der Anregung übersandt, sie dem Landgericht Heilbronn zur erneuten Zustellung des Urteils zurück zu geben. Es habe sich zum Zeitpunkt der Zustellung keine Vollmacht des Verteidigers bei den Akten befunden. Somit seien die von der Urteilszustellung abhängigen Fristen nicht in Lauf gesetzt worden.
II.
Die Akten sind der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart zur Stellungnahme in der Sache zurück zu geben, da das Urteil vom 11. Juli 2002 wirksam an den Verteidiger zugestellt worden ist.
Ausweislich der Akten hat Rechtsanwalt L. mit Schreiben vom 8. Oktober 2002 eine Vollmachtsurkunde nachgereicht, aus der sich ergibt, dass der Angeklagte ihm am 17. Oktober 2001 Verteidigervollmacht erteilt hat und zwar "mit der besonderen Ermächtigung ... Zustellungen aller Art, insbesondere auch von Urteilen ... entgegenzunehmen ...". Somit hatte Rechtsanwalt L. bereits am 17. Oktober 2001 eine rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht. Nach ständiger Rechtsprechung ist Voraussetzung einer wirksamen Zustellung an den Verteidiger gem. § 145 a Abs. 1 StPO, dass sich zum Zeitpunkt der Zustellung eine Vollmachtsurkunde bei den Akten befindet (OLG Stuttgart NStZ-RR 2001, 24; OLG Hamm OLGSt S. 15; Meyer-Goßner, StPO, 46. A., § 145 a Rn 8) und weder das schlichte Auftreten des Verteidigers in der Hauptverhandlung (BGHSt 41, 303; BayObLG VRS 84, 447; OLG Karlsruhe NStZ-RR 1996, 237) noch die nachträgliche Vorlage einer Vollmacht sollen ausreichen (OLG Düsseldorf VRS 93, 169; OLG Schleswig StV 1990, 12). Vorliegend ist § 145 a Abs. 1 StPO aber gar nicht einschlägig. Diese Vorschrift gibt dem Verteidiger unter den dort genannten Voraussetzungen eine gesetzliche Zustellungsvollmacht, die von einer daneben ebenfalls nach allgemeinen Regeln möglichen rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht unabhängig ist (BGH NStZ 1997, 293; BayObLG JR 1990, 36; Schnarr NStZ 1997, 15 ff; Julius in: Lemke/Julius/Krehl/Kurth/Rautenberg/Temming, StPO, § 145 a Rn 1; Meyer-Goßner, a.a.O. Rn 2). Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 145 a Abs. 1 StPO, wonach Verteidiger unter den dortigen Voraussetzungen als ermächtigt "gelten". Es handelt sich also um eine gesetzliche Fiktion zur Vereinfachung des Zustellungswesens, für die bei Vorhandensein einer ausdrücklichen Ermächtigung kein Raum bleibt. Verfügt der Verteidiger zum Zeitpunkt der Zustellung über eine rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht und ist diese - auch nachträglich - eindeutig nachweisbar, so ist eine an ihn bewirkte Zustellung ungeachtet der Frage wirksam, ob eine Verteidigervollmacht sich bei den Akten befunden hat. In diesem Fall gelten die allgemeinen Zustellungsvorschriften, das heißt, über § 37 Abs. 1 StPO gilt der § 174 ZPO. Der Verteidiger ist dann ein Empfangsberechtigter wie jeder hierzu vom eigentlichen Zustellungsadressaten bevollmächtigte Dritte.
III.
Für die praktische Handhabung erwachsen hieraus keine Schwierigkeiten: Befindet sich im Zeitpunkt der Anordnung der Zustellung weder eine Verteidigervollmacht noch eine Zustellungsvollmacht bei den Akten, so ist die Zustellung sinnvoller Weise an den Angeklagten zu bewirken. Es bedarf vor Anordnung der Zustellung keiner Ermittlungen, ob eine nicht aus den Akten ersichtliche rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht erteilt wurde. Auch das Auftreten des Verteidigers in der Hauptverhandlung legt entsprechende Ermittlungen nicht nahe. Stellt sich nachträglich heraus, dass eine rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht zum Zeitpunkt der Zustellung vorgelegen hatte (eine nachträglich erteilte Zustellungsvollmacht genügt aber nicht), so bleibt dies ohne Einfluss auf die Wirksamkeit der Zustellung an den Angeklagten.
Ist hingegen - wie im vorliegenden Fall - an den Verteidiger zugestellt worden, ist die Zustellung wirksam, auch wenn sich die Zustellungsvollmacht im Zeitpunkt der Zustellung noch nicht bei den Akten befunden hat. Nur die nachträgliche Vorlage einer reinen Verteidigervollmacht genügt nicht. In der Praxis weisen die üblichen Vollmachtsvordrucke aber bereits auch eine ausdrückliche Zustellungsbevollmächtigung auf.
Ende der Entscheidung
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