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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 31.01.2005
Aktenzeichen: 4 Ss 589/04
Rechtsgebiete: StPO, MRK


Vorschriften:

StPO § 417
StPO § 418 Abs. 3
MRK Art. 6 Abs. 3 a
MRK Art. 6 Abs. 3 b
Wird im beschleunigten Verfahren gegen einen der deutschen Sprache nicht mächtigen Beschuldigten keine Anklageschrift eingereicht, bedarf es vor Beginn der Hauptverhandlung nicht der Übersetzung der Antragsschrift i.S.d. § 417 StPO, welche die dem Beschuldigten angelastete Tat umschreibt, sofern die mündlich bei Beginn der Hauptverhandlung erhobene Anklage durch einen Dolmetscher übersetzt wird.
Oberlandesgericht Stuttgart - 4. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 4 Ss 589/2004

in der Strafsache gegen

wegen gemeinschaftlichen Diebstahls

Der 4. Strafsenat hat auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft und nach Anhörung der Beschwerdeführer am 31. Januar 2005 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts B. vom 30. Juni 2004 werden als unbegründet verworfen.

Die Beschwerdeführer tragen die Kosten ihrer Rechtsmittel.

Gründe:

I.

Die Angeklagten, die beide Heranwachsende sind und sich seit dem Jahr 2003 in Deutschland aufhalten, wurden am 30. Juni 2004 im beschleunigten Verfahren wegen gemeinschaftlichen Diebstahls jeweils zu der Freiheitsstrafe von 5 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Bei einem Ladendiebstahl hatten sie Zigaretten im Wert von über 600.- € entwendet, wurden aber direkt danach gestellt. Dem Urteil liegt der Antrag der Staatsanwaltschaft gem. § 417 StPO auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren vom 29. Juni 2004 zugrunde, in dem die den Angeklagten angelastete Tat umschrieben wird. Er wurde den Angeklagten, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, nicht durch eine schriftliche Übersetzung in ihre Heimatsprache mitgeteilt, sondern in der tags darauf stattgefundenen Hauptverhandlung mündlich in die vietnamesische Sprache übersetzt.

Die Angeklagten wenden sich mit ihren (Sprung-) Revisionen gegen das Urteil des Jugendrichters vom 30. Juni 2004. Es werden mehrere Verfahrensrügen und die Sachrüge erhoben.

II.

Anlass zur Erörterung gibt lediglich die Verfahrensrüge, mit der in zulässiger Weise ein Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens gerügt wird, weil den Angeklagten keine schriftliche Übersetzung der Antragsschrift der Staatsanwaltschaft in ihre Heimatsprache ausgehändigt worden ist.

Eine Anklageschrift, die sowohl Umgrenzungs- als auch Informationsfunktion hat, ist einem Ausländer, der die deutsche Sprache nicht hinreichend beherrscht, in der Regel mit einer Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache, normalerweise die Muttersprache, bekannt zu geben (vgl. BVerfGE 64, 135; Nr. 181 Abs. 2 der Richtlinien für das Straf- und das Bußgeldverfahren - RiStBV -). Dies folgt aus Art. 6 Abs. 3 a, b MRK (OLG Hamm StV 2004, 364; OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. April 2003 - 4 Ss 117/2003). Da jedoch in der vorliegenden Strafsache das beschleunigte Verfahren, das auch gegen Heranwachsende zulässig ist (vgl. §§ 109, 79 Abs. 2 JGG), zur Anwendung kam, reichte die Staatsanwaltschaft keine Anklageschrift ein, sondern erhob die Anklage gemäß § 418 Abs. 3 Satz 2 StPO bei Beginn der Hauptverhandlung mündlich, wobei eine Übersetzung in die Heimatsprache der beiden Angeklagten durch eine Dolmetscherin für die vietnamesische Sprache erfolgte.

Einer vorherigen schriftlichen Übersetzung der Antragsschrift (§ 417 StPO) bedurfte es nicht. Der Zweck des Art. 6 Abs. 3 MRK besteht unter anderem darin, zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens im Sinne des Art. 6 Abs. 1 MRK alle Nachteile auszuschließen, denen ein Angeklagter, der die Gerichtssprache nicht versteht oder sich nicht in ihr ausdrücken kann, im Vergleich zu einem dieser Sprache kundigen Angeklagten ausgesetzt ist (BGHSt 46, 178). Im beschleunigten Verfahren bedarf es nicht der Einreichung einer Anklageschrift (§ 418 Abs. 3 Satz 1 StPO). Somit erhält auch ein inländischer Angeklagter im Fall der mündlichen Erhebung der Anklage jedenfalls dann erst zu Beginn der Hauptverhandlung Kenntnis vom Anklagevorwurf, wenn ihm dieser - wie vorliegend - auch nicht im Zusammenhang mit dem Antrag nach § 417 StPO mitgeteilt worden ist. Daher entsteht einem Angeklagten, welcher der deutschen Sprache nicht mächtig ist, in diesem Fall kein Nachteil, da er durch die simultane Übersetzung zum gleichen Zeitpunkt über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen in Kenntnis gesetzt wird wie ein deutscher Angeklagter. Es kommt hinzu, dass dem Strafverfahren ein leicht verständlicher Sachverhalt zu Grunde liegt und der Verfahrensgegenstand rechtlich und tatsächlich überschaubar ist (vgl. OLG Düsseldorf NJW 2003, 2766). Würde man dagegen mit dem OLG Hamm (a.a.O.) auch im beschleunigten Verfahren grundsätzlich die vorherige Bekanntgabe einer schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift an einen der deutschen Sprache nicht mächtigen Ausländer verlangen, würde dies bedeuten, dass das beschleunigte Verfahren zumindest dann, wenn keine Anklageschrift eingereicht wird (§ 418 Abs. 3 StPO), bei sprachunkundigen Ausländern nicht angewandt werden könnte. Dem kann nicht zugestimmt werden, da Art. 6 Abs. 3 a, b MRK als einfaches Bundesrecht keinen Vorrang gegenüber § 418 Abs. 3 StPO hat, sondern lediglich eine Gleichbehandlung von aus- und inländischen Angeklagten verlangt.

Daher stellt die vorliegend durchgeführte Verfahrensweise keinen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens dar.

Eine Vorlage der Sache gem. § 121 Abs. 2 GVG an den Bundesgerichtshof bedarf es trotz der Abweichung von der in der o. g. Entscheidung des OLG Hamm geäußerten Rechtsauffassung nicht, da in dem dort zu beurteilenden Fall nicht im beschleunigten Verfahren entschieden wurde.

III.

Die Revision ist auch im Übrigen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Auf die Sachrüge ist lediglich noch zu erwähnen, dass es grundsätzlich nicht rechtsfehlerhaft ist, frühere Verfahren, unabhängig von deren Ausgang, hinsichtlich der Warnungswirkung dieser Verfahren straferschwerend zu berücksichtigen (Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl., § 46 Rdnr. 40; OLG Köln NJW 1973, 378, Schäfer Praxis der Strafzumessung, 3. Aufl., Rdnr. 135).

Ende der Entscheidung

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