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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 10.01.2001
Aktenzeichen: 4 Ws 1/2001
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 140 Abs. 2
StPO § 143
Der Vorsitzende einer Berufungskammer kann eine im Ermittlungsverfahren nach § 140 Abs. 2 StPO erfolgte Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht allein deswegen zurücknehmen, weil der Angeklagte in erster Instanz lediglich zu einer 6-monatigen Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt wurde und einer Verschärfung der Strafe das Verschlechterungsverbot entgegensteht, da nur der Angeklagte Berufung eingelegt hat.
Oberlandesgericht Stuttgart - 4. Strafsenat - Beschluss

vom 10. Januar 2001

Geschäftsnummer: 4 Ws 1/2001 7 Ns 43 Js 44314/00 - 20/00 LG Stuttgart 3 Ls 43 Js 44314/00 - 20/00 AG Waiblingen 43 Js 44314/00 - 20/00 StA Stuttgart

in der Strafsache gegen

wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln,

Tenor:

Auf die Beschwerde des Angeklagten W... wird die Verfügung des Vorsitzenden der 7. Strafkammer des Landgerichts Stuttgart vom 21. Dezember 2000 aufgehoben.

Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

Gründe:

Gegen den von Anfang an geständigen Angeklagten W... erging am 08. Juni 2000 Haftbefehl des Amtsgerichts Waiblingen wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (3,245 g Heroin mit einem Gehalt von 10% und 4,47 g Kokain mit einem Kokaingehalt von 40 bis 50%; insgesamt 109 Plomben). Gleichzeitig wurde Haftbefehl gegen den vormals Mitangeklagten, den Jugendlichen B..., als Haupttäter erlassen. Am 13. Juni 2000 legitimierte sich Rechtsanwalt N... W... als Verteidiger für den Beschwerdeführer; am 07. Juli 2000 beantragte er - ohne nähere Begründung - diesem als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Nachdem dieser Antrag der Staatsanwaltschaft zur Kenntnis gebracht worden war, beantragte diese am 14. Juli 2000, Rechtsanwalt W... dem Angeklagten gemäß § 140 Abs. 2 StPO als Pflichtverteidiger beizuordnen (EA. Bl. 111). Der Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Waiblingen bestellte daraufhin am 18. Juli 2000 Rechtsanwalt W... zum Verteidiger des Beschwerdeführers, ohne diese Entscheidung zu begründen. Am 23. August 2000 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zum Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Waiblingen, bezüglich W... wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln. In der Hauptverhandlung vom 17. Oktober 2000 erschien der Pflichtverteidiger nicht, sondern sein Kanzleikollege Rechtsanwalt M.... E.... Dieser wurde sodann "anstelle von Rechtsanwalt N... W..." dem Beschwerdeführer als Pflichtverteidiger beigeordnet. H... W... und der Mitangeklagte B... wurden am selben Tag wegen gemeinschaftlich begangenen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln schuldig gesprochen; W... wurde zu sechs Monaten Freiheitsstrafe, B... zu einem Jahr Jugendstrafe verurteilt, deren Vollstreckung jeweils zur Bewährung ausgesetzt wurde. Den Haftbefehl hob das Amtsgericht auf. Nur der Beschwerdeführer legte gegen das Urteil (unbeschränkt) Berufung ein.

Mit der angefochtenen Verfügung nahm der Vorsitzende der Berufungskammer die Beiordnung des Verteidigers des Angeklagten W... zurück. Hiergegen wendet sich dieser nun mit seiner Beschwerde.

Das statthafte (vgl. etwa OLG Stuttgart StV 1998, 123) Rechtsmittel hat Erfolg.

Ausgangspunkt der Beurteilung ist die erste Beiordnungsentscheidung des Ermittlungsrichters des Amtsgerichts Waiblingen vom 18. Juli 2000. In der Hauptverhandlung vom 17. Oktober 2000 erfolgte dem Grunde nach keine neue Entscheidung über die Verteidigerbestellung. Es sollte vielmehr, obwohl nunmehr (auch) die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorlagen, nach dem Wortlaut jener Verfügung des Vorsitzenden die ursprüngliche Entscheidung aufrechterhalten werden; lediglich die Person des Verteidigers wurde ausgewechselt ("anstelle von Rechtsanwalt N... W...").

Entgegen der Auffassung des Vorsitzenden der Berufungskammer ist nach dem Akteninhalt und der Prozessgeschichte davon auszugehen, dass der Ermittlungsrichter am 18. Juli 2000 die Bestellung des Verteidigers nicht im Hinblick auf § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vornahm, sondern das Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO als gegeben ansah. Der Senat verkennt dabei nicht, dass eine Bestellung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO durchaus auch vor Ablauf der Dreimonatsfrist in Betracht kommt, wenn davon auszugehen ist, dass bis zur Hauptverhandlung die Voraussetzungen dieser Vorschrift gegeben sind (vgl. Laufhütte in KK StPO, 4. Auflage, § 140 Rdnr. 14). Zu bedenken ist allerdings, dass die Staatsanwaltschaft von der Möglichkeit, ihren eigenen Beiordnungsantrag auf diese Vorschrift zu stützen, im Rahmen ihrer Stellungnahme zum Antrag des Verteidigers keinen Gebrauch machte. Dies drängte sich zum damaligen Zeitpunkt angesichts des frühen Stadiums des Ermittlungsverfahrens (circa fünf Wochen nach Erlass des Haftbefehls) auch nicht auf. Die Staatsanwaltschaft unterstützte den Antrag des Verteidigers vielmehr ausdrücklich unter Hinweis auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO. In Ermangelung einer Begründung der Entscheidung des Ermittlungsrichters ist deshalb, nicht zuletzt aus Gründen des Vertrauensschutzes, davon auszugehen, dass die Beiordnung am 18. Juli 2000 ebenfalls aus Gründen des § 140 Abs. 2 StPO vorgenommen wurde. Dass in der Hauptverhandlung am 17. Oktober 2000 schließlich auch die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorlagen, lässt die Begründung für die Ausgangsentscheidung nicht entfallen.

Ist aber einmal ein Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO bestellt worden, so ist die Rücknahme der Beiordnung nach ständiger Rechtsprechung unzulässig, wenn der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts lediglich seine Ansicht über die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geändert hat. Einer solchen Rücknahme steht der Grundsatz des prozessualen Vertrauensschutzes entgegen. Etwas anderes kann nur gelten, wenn sich die Sach- oder Rechtslage gegenüber dem Verfahrensstand, der die Grundlage für die Bestellung eines Pflichtverteidigers bildete, wesentlich verändert hat (vgl. BGHSt 7, 69; OLG Stuttgart StV 1985, 140; OLG Düsseldorf StV 1995, 117, 118). Eine wesentliche Änderung liegt beispielsweise dann vor, wenn das Verfahren nicht vor der Strafkammer, sondern einem Gericht niederer Ordnung eröffnet oder mit dem Eröffnungsbeschluss eine von dem Anklagevorwurf abweichende Einordnung des Strafvorwurfs vorgenommen wird (vgl. OLG Düsseldorf a. a. O.).

Eine solche Veränderung ist hier indes nicht gegeben. Zwar hat vorliegend nur der Angeklagte gegen das Urteil des Amtsgerichts Berufung eingelegt und deshalb wegen des Verschlechterungsverbots allenfalls mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung auszusetzen ist, zu rechnen. Die dem Verfahren zu Grunde liegende Sach- und Rechtslage hat sich gleichwohl nicht geändert; im Gegenteil: der Schuldvorwurf hat durch das erstinstanzliche Urteil sogar gegenüber dem Inhalt des Haftbefehls und der Anklageschrift eine Verschärfung dahin erfahren, dass dem Angeklagten nunmehr statt Beihilfe mittäterschaftliches Handeln vorgeworfen wird. Nicht fernliegend ist auch, was bislang ersichtlich noch nicht bedacht wurde, dass er sich als Täter auch des gewerbsmäßigen unerlaubten Betäubungsmittelhandelns schuldig gemacht haben könnte (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. mit Abs. 3 Nr. 1 BtMG; vgl. etwa Weber BtmG § 29 Rdnr. 943 m. w. N.). Das Verschlechterungsverbot stünde auch einer entsprechenden Änderung des Schuldspruchs nicht entgegen. An der Tatsachengrundlage, wie sie auch schon der Ausgangsentscheidung über die Beiordnung zu Grunde lag, hat sich jedenfalls zu Gunsten des Angeklagten nichts verändert.

Die ursprüngliche Beiordnung nach § 140 Abs. 2 StPO ist auch nicht etwa ermessensfehlerhaft gewesen, weshalb auch aus diesem Grunde eine Rücknahme der ursprünglichen Bestellung nicht in Betracht zu ziehen ist (vgl. hierzu Hilgendorf in NStZ 1996, 2 und 3). Der Beschwerdeführer stammt aus einem fremden Kulturkreis, ist der deutschen Sprache nicht mächtig und verfügt angeblich nur über eine geringe Schulausbildung. Ihm stand und steht zwar ein Dolmetscher für die englische Sprache zur Seite. Dies beseitigt jedoch nicht sämtliche Sprachhindernisse, da Englisch nicht seine Muttersprache ist. Vor allem in Anbetracht der oben angesprochenen Fragen zur Schwere der Tat (Vorliegen des Regelbeispiels nach § 29 Abs. 3 Nr. 1 BtmG) war die ursprüngliche Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO jedenfalls nicht ermessensfehlerhaft.

Ende der Entscheidung

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