Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 08.08.2005
Aktenzeichen: 4 Ws 118/05
Rechtsgebiete: RVG


Vorschriften:

RVG Nr. 4110
RVG Nr. 4111
RVG Nr. 4116
RVG Nr. 4117
1. Für die Berechnung der Dauer der Hauptverhandlung ist in der Regel der in der Ladung bestimmte Zeitpunkt und nicht der tatsächliche Beginn der Sitzung maßgebend. Dies gilt nicht, wenn der verspätete Beginn nachweislich auf Umständen beruht, die der Rechtsanwalt zu vertreten hat.

2. Verhandlungspausen verkürzen die Dauer der Hauptverhandlung nicht. Inwieweit hiervon bei sehr langen Pausen Ausnahmen zu machen sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.


Oberlandesgericht Stuttgart - 4. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 4 Ws 118/05

vom 8. August 2005

in der Strafsache

Tenor:

1. Auf die Beschwerde des Verteidigers wird der Beschluss des Landgerichts - Jugendkammer - H. vom 20. April 2005 aufgehoben.

2. Die Verfügung des Landgerichts H. vom 11. Januar 2005 wird dahin abgeändert, dass die Vergütung des gerichtlich bestellten Verteidigers in Höhe von 1.316,16 € festgesetzt wird. Bereits ausbezahlte Gebühren sind anzurechnen.

3. Die Entscheidung ergeht gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 RVG).

Gründe:

I. Der Beschwerdeführer war im vorliegenden (erstinstanzlichen) Strafverfahren vor der Jugendkammer des Landgerichts H. als bestellter Verteidiger tätig. Die Hauptverhandlung fand am 23. November 2004 in seiner Anwesenheit statt. Am Vormittag dieses Tages begann die auf 9.00 Uhr anberaumte Sitzung um 9.12 Uhr und endete um 12.17 Uhr. Termin zur Fortsetzung wurde bestimmt auf 15.00 Uhr. Tatsächlich nahm die Hauptverhandlung ihren weiteren Verlauf von 15.10 Uhr bis 15.45 Uhr.

Mit Schriftsatz vom 25. November 2004 beantragte Rechtsanwalt W. die Festsetzung seiner Pflichtverteidigervergütung in Höhe von 1.316,16 €. Vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Gerichts wurde die vom Verteidiger gemäß Nr. 4116 des Vergütungsverzeichnisses (VV; Anlage 1 zum RVG) geltend gemachte Zusatzgebühr in Höhe von 108 € abgesetzt. Dagegen hat der Rechtsanwalt Erinnerung eingelegt, der nicht abgeholfen worden ist. Gemäß § 56 RVG hat das Landgericht - Jugendkammer - H. darüber entschieden und die Erinnerung mit Beschluss vom 20. April 2005 zurückgewiesen. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage der Anrechenbarkeit von Verhandlungspausen bei den Gebührentatbeständen der Nrn. 4110, 4111, 4116 und 4117 VV hat die Kammer das Rechtsmittel der Beschwerde zugelassen. Deshalb ist die vom Verteidiger innerhalb der zweiwöchigen Frist eingelegte Beschwerde, obwohl es lediglich um die Absetzung eines Betrags von weniger als 200 € geht, zulässig (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 RVG).

II. Das Rechtsmittel ist begründet.

Da die Kammer in der Besetzung mit drei Richtern entschieden hat, hat auch der Senat in dieser Besetzung zu befinden (§ 56 Abs. 2 Satz1 i.V.m. § 33 Abs. 8 RVG).

Vorliegend geht es um die Fragen, ob bei der Berechnung der Dauer der Hauptverhandlung für die Anerkennung einer Zusatzgebühr nach Nrn. 4110, 4111, 4116 und 4117 VV auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem der/die Verteidiger/in geladen worden ist oder zu dem mit der Hauptverhandlung ausweislich des Protokolls tatsächlich begonnen wurde, und ob Pausen und längere Unterbrechungen der Hauptverhandlung an ein und demselben Tag in Abzug zu bringen sind.

1. Im Hinblick auf die Berechnung der Dauer der Hauptverhandlung kommt es grundsätzlich auf den Zeitpunkt an, zu dem der/die Verteidiger/in geladen worden ist. Etwas anderes kann nur gelten, wenn allein aus Gründen, die dem/der Verteidiger/in zuzurechnen sind, erst zu einem späteren Zeitpunkt hat begonnen werden können. Kürzere Pausen sind nicht zu berücksichtigen (ebenso OLG Hamm, Beschluss vom 27. Mai 2005, 2 (s) Sbd. VIII - 54/05; Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, Nr. 4110 VV RVG Rdnr. 8 ff.; Hartmann, Kostengesetze, 35. Aufl., VV 4110, 4111 Rdnr. 1; Riedel/Sußbauer/Schmahl, RVG, 9.Aufl., VV Teil 4 Abschnitt 1, Rdnr. 64 ).

Gegen diese Auffassung spricht auch nicht die in den Bestimmungen des Vergütungsverzeichnisses verwendete Formulierung: "Der gerichtlich bestellte oder beigeordnete Rechtsanwalt nimmt mehr als fünf bis acht Stunden bzw. mehr als acht Stunden an der Hauptverhandlung teil..." Nach § 243 Abs. 1 Satz1 StPO beginnt die Hauptverhandlung zwar (erst) mit dem Aufruf der Sache, woraus gefolgert werden könnte, dass Wartezeiten vom Zeitpunkt der Ladung bis zum Aufruf der Sache bei der Berechnung, wie lange ein/e Rechtsanwalt/anwältin an einer Hauptverhandlung teilgenommen hat, nicht zu berücksichtigen sind. Dem steht jedoch entgegen, dass ausweislich der Gesetzesmaterialien feste Terminsgebühren geschaffen werden sollten, auf deren Höhe die Umstände des Einzelfalls keinen Einfluss haben. Der besondere Zeitaufwand für die anwaltliche Tätigkeit soll angemessen honoriert werden. Insbesondere sollen Rechtsanwälte/innen aufgrund länger dauernder zeitlicher Inanspruchnahme nicht mehr ausschließlich auf die Bewilligung einer Pauschgebühr angewiesen sein. Eine maßgebliche Intention des Gesetzgebers war, durch diese neue Regelung eine Verminderung der Fälle herbeizuführen, in denen Pauschgebühren festgesetzt werden müssen (Begründung im Gesetzentwurf KostRMoG - BT-Drs. 15/1971, S. 224). Dem würde jedoch ein Abzug von Verspätungen und auch von kleineren Verhandlungspausen zuwiderlaufen. Die zeitliche Inanspruchnahme eines/r Rechtsanwalts/anwältin ist genau die gleiche, wenn eine Hauptverhandlung, zu der beispielsweise auf 9.00 Uhr geladen worden ist, erst um 10.00 Uhr beginnt und dann bis 14.05 Uhr andauert, wie wenn sie pünktlich begonnen hätte. Würde der/die Rechtsanwalt/anwältin in diesem Beispielsfall, trotz einer zeitlichen Inanspruchnahme von mehr als fünf Stunden, keine Zusatzgebühr erhalten, wären Anträge auf Bewilligung von Pauschgebühren quasi "vorprogrammiert". Deren Erfolg wäre allerdings im Hinblick auf die engen Voraussetzungen von §§ 42, 51 RVG in hohem Maße fraglich.

Darüber hinaus hat sich der Gesetzgeber mit den zeitlichen Grenzen (fünf bzw. acht Stunden) an der bisherigen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte im Rahmen der Gewährung von Pauschgebühren orientiert (aaO). Denn bislang war die Dauer der Hauptverhandlung in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu § 99 BRAGO ein wesentlicher Umstand für die Gewährung einer Pauschgebühr. Soweit ersichtlich, wurden in der bisherigen Rechtsprechung Verspätungen und kürzere Pausen bei der Berechnung der Dauer einer Hauptverhandlung nicht berücksichtigt (vgl. OLG Karlsruhe, ZfSch 1993, 387; Hanseatisches OLG Hamburg, StV 1991, 120 f.; Thüringer OLG, StV 2000, 132 f.).

Derartige Wartezeiten eines/r Rechtsanwalts/anwältin werden auch nicht durch die neu geschaffene Verfahrensgebühr abgegolten, und zwar selbst dann nicht, wenn man unterstellt, dass der/die Rechtsanwalt/anwältin während solcher Pausen mit anderen Beteiligten das Verfahren fördernde Gespräche führt. Zwar werden von der Verfahrensgebühr tatsächlich Besprechungen mit Verfahrensbeteiligten, (außergerichtliche) Termine und auch die (allgemeine) Vorbereitung der Hauptverhandlung (und vieles mehr) erfasst, aber gerade nicht die Teilnahme an gerichtlichen Terminen.

Weiter spricht für die Auffassung des Senats die Vorbemerkung 4 Abs. 3 Satz 2 in Teil 4 VV. Auch wenn es dort nicht um die Höhe einer Gebühr, sondern um die Frage, ob eine Gebühr überhaupt ausgelöst wird, geht, kann der darin enthaltene Rechtsgedanke, die Teilnahme an einem Termin, der tatsächlich überhaupt nicht stattgefunden hat, soll dennoch honoriert werden, durchaus herangezogen werden (so auch Burhoff aaO).

Hieraus ergibt sich, dass auch kürzere Verhandlungspausen bei der Berechnung der Dauer der Hauptverhandlung nicht in Abzug zu bringen sind.

Anders mag es sich bei extrem langen Verhandlungspausen verhalten, wenn beispielsweise eine Hauptverhandlung, die um 9.00 Uhr begonnen hat, um 10.00 Uhr unterbrochen und dann erst um 15.00 Uhr fortgesetzt wird. Ab welcher Länge eine Unterbrechung zu berücksichtigen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Dabei wird maßgebend sein, inwieweit der/die Rechtsanwalt/wältin die Pause im Hinblick auf seine/ihre berufliche Tätigkeit hat sinnvoll nützen können. Folglich werden zahlreiche Umstände von Bedeutung sein, wie beispielsweise neben der Länge der Pause auch die Entfernung der Kanzlei zum Gerichtsort, die tatsächliche (der/die Rechtsanwalt/anwältin muss wählen können, ob er/sie öffentliche Verkehrsmittel oder ein Kraftfahrzeug benutzt) Fahrtzeit, die zurückzulegen ist, und ähnliches. Bei Mittagspausen muss ein ausreichender Zeitraum zur Verköstigung zugebilligt werden, der wiederum von der Dauer der Pause abzuziehen ist.

2. Im angefochtenen Beschluss hat das Landgericht dem Beschwerdeführer eine Mittagspause von "einer halben bis etwa einer Stunde" zugebilligt. Dies erscheint recht knapp bemessen. Doch selbst wenn hiervon ausgegangen wird, ist die Zusatzgebühr nach § 4116 VV entstanden, denn bei deren Feststellung ist - wie dargelegt - in der Regel bezüglich des Beginns der Hauptverhandlung die Ladung und nicht der tatsächliche Beginn maßgebend. Vorliegend war der Rechtsanwalt auf 9.00 Uhr geladen. Die Hauptverhandlung wurde um 12.17 Uhr unterbrochen und sollte um 15.00 Uhr fortgesetzt werden. Am Nachmittag war Verhandlungsende um 15.45 Uhr. Daraus ergibt sich eine "reine" Teilnahme an der Hauptverhandlung von vier Stunden zwei Minuten. Räumt man dem Rechtsanwalt auch nur eine Stunde Mittagspause ein, so ist bereits dann die in Nr. 4116 VV enthaltene Grenze von fünf Stunden überschritten.

Mithin ist dem Rechtsanwalt vorliegend die Zusatzgebühr Nr. 4116 VV zuzubilligen.

Ende der Entscheidung

Zurück