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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 22.08.2000
Aktenzeichen: 4 Ws 157/00
Rechtsgebiete: StPO
Vorschriften:
StPO § 313 Abs. 1 Satz 2 | |
StPO § 322 a Satz 2 |
Hat das Amtsgericht entsprechend dem Antrag des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft den Angeklagten freigesprochen und legt der Nebenkläger gegen das Urteil Berufung ein, so ist auch dann kein Fall der Annahmeberufung gegeben, wenn die Staatsanwaltschaft in ihrem vorausgegangenen Strafbefehlsantrag eine Geldstrafe von nicht mehr als 30 Tagessätzen beantragt hatte (abweichend von OLG Hamm NStZ 1996,455).
Oberlandesgericht Stuttgart - 4. Strafsenat - Beschluss
Geschäftsnummer: 4 Ws 157/00 1 Ns 39 Js 16990/99 1 AK 102/00 LG Tübingen Cs 39 Js 16990/99 AG Nagold 39 Js 16990/99 StA Tübingen
vom 22. August 2000
in der Strafsache gegen
wegen fahrlässiger Körperverletzung,
Tenor:
Auf die sofortige Beschwerde des Nebenklägers wird der Beschluss des Landgerichts Tübingen vom 25. Juli 2000 aufgehoben.
Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der sofortigen Beschwerde, an die erste kleine Strafkammer des Landgerichts Tübingen zurückgegeben.
Gründe:
I.
Mit Urteil vom 01. Februar 2000 sprach das Amtsgericht Nagold den Angeklagten vom Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung frei. Der Vorwurf war dahin gegangen, der Angeklagte habe als Lenker eines Wohnmobils beim Einfahren von einem land- und forstwirtschaftlichen Weg in eine Kreisstraße aus Unachtsamkeit die Vorfahrt eines von links nahenden Motorradfahrers, des Nebenklägers, mißachtet, wodurch es zum Frontalzusammenstoß des Motorrads mit dem Wohnmobil und einer Schlüsselbeinfraktur sowie multiplen Prellungen beim Nebenkläger gekommen sei. Im vorangegangenen Strafbefehlsantrag hatte die Staatsanwaltschaft eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 60,00 DM beantragt.
In der Hauptverhandlung beantragte die Staatsanwaltschaft hingegen Freispruch, weil - nach Anhörung zweier Sachverständiger - davon auszugehen sei, dass der Angeklagte, als er in die bevorrechtigte Straße einfuhr, den Nebenkläger - noch nicht sehen konnte. Der Nebenkläger beantragte die Verurteilung des Angeklagten und stellte die Höhe der Strafe in das Ermessen des Gerichts.
Gegen dieses Urteil legte der Nebenkläger am 08. Februar rechtzeitig "Rechtsmittel" ein, das er jedoch nicht begründete. Auf den Hinweis des Landgerichts, es sei beabsichtigt, das als Berufung zu behandelnde Rechtsmittel nicht anzunehmen, reagierte der Nebenklägervertreter nicht.
Mit Beschluss vom 25. Juli 2000 verwarf das Landgericht die Berufung des Nebenklägers als unzulässig, weil sie offensichtlich unbegründet sei (§§ 313, 322 a StPO). Das Landgericht ist im Anschluss an OLG Hamm (NStZ 1996, 455) der Auffassung, dass jedenfalls in Fällen, in dem wie hier die Staatsanwaltschaft im vorhergehenden Strafbefehlsantrag nicht mehr als 30 Tagessätze beantragt und damit das Geschehen der Bagatellkriminalität zugeordnet habe, § 313 StPO entsprechend anzuwenden sei.
Gegen diesen dem Nebenklägervertreter am 03. August 2000 zugestellten Beschluss hat er am 10. August sofortige Beschwerde eingelegt mit dem Hinweis, § 313 StPO sei nicht einschlägig.
II.
Die Beschwerde des Nebenklägers, der sich gemäß § 401 Abs. 1 StPO unabhängig von der Staatsanwaltschaft der Rechtsmittel bedienen darf, ist trotz § 322 a Satz 2 StPO statthaft(h. M.: KK-Ruß StPO 4. Auflage § 322 a Rdnr. 1; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Auflage § 322 a Rdnr. 8 und die dort zit. Rspr.), weil das Landgericht irrig die Voraussetzungen des § 313 StPO bejaht hat und das Rechtsmittel des Nebenklägers, das als Berufung zu behandeln war, nicht der Annahme bedurfte.
Entsprechend § 322 Abs. 2 StPO ist die Beschwerde des Nebenklägers als zulässige sofortige und nicht als einfache Beschwerde zu behandeln, denn der Eintritt der Rechtskraft des Urteils muss im Interesse der Verfahrensbeteiligten alsbald feststehen (OLG Koblenz NStZ 1994, 601; OLG Oldenburg NdsRpfl 1995, 135; OLG Köln NStZ 1996, 150; OLG Hamm NStZ 1996, 455; OLG Hamburg OLGSt § 313 Nr. 6; KK-Ruß a.a.O. § 322 a Rdnr. 1; Pfeiffer/Fischer StPO 2. Auflage § 322 a Rdnr. 2; unentschieden: OLG Zweibrücken NStZ 1994, 601; OLG Celle JR 1995, 522 a.A.: Gegenvorstellung oder einfache Beschwerde: Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O. § 322 a Rdnr. 8, BayObLG StV 1994, 238).
Die sofortige Beschwerde ist auch begründet: Ob § 313 Abs. 1 Satz 2 StPO bei Berufungen der Staatsanwaltschaft bzw. des Nebenklägers auch auf solche Fälle. anwendbar ist, in denen der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft - wie hier - Freispruch beantragt hatte, ist umstritten (verneinend: OLG Koblenz NStZ 1994, 601, OLG Oldenburg NdsRpfl 1995, 135; OLG Karlsruhe MDR 1996, 517; OLG Köln NStZ 1996, 150; OLG Celle NStZ-RR 1996, 43; OLG Hamm, 4. Strafsenat VRS 95, 382; OLG Stuttgart Beschluss vom 02. Oktober 1996 - 1 Ws 142/96; KK-Ruß a.a.O. § 313 Rdnr. 2 c, Pfeiffer/Fischer a.a.O. § 313 Rdnr. 2, Heidelberger Kommentar StPO 2. Auflage § 313 Rdnr. 6, Tolksdorf in Festschrift für Salger 1995 S. 401; Feuerhelm StV 1997, 99, 100; a.A.: Kleinknecht/MeyerGoßner, a.a.O. § 313 Rdnr. 4 a).
Zwar ist der Angeklagte freigesprochen worden, weitere tatbestandliche Voraussetzung für eine Anwendung des § 313 Abs. 1 Satz 2 StPO wäre jedoch, dass der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft eine Geldstrafe von nicht mehr als 30 Tagessätzen beantragt hätte. Das war jedoch nicht der Fall. Vielmehr hatte er Freispruch beantragt. Auf die Fallkonstellation ist § 313 Abs. 1 Satz 2 StPO jedoch nicht, auch nicht entsprechend, anwendbar. § 313 StPO will die Bagatellkriminalität erfassen, im Fall eines Freispruchs jedoch nur, wenn aus Sicht der Staatsanwaltschaft eine Straftat erwiesen ist und diese der Bagatellkriminalität zuzurechnen ist und die Staatsanwaltschaft deshalb eine Geldstrafe von nicht mehr als 30 Tagessätzen beantragt hatte. Kommt hingegen die Staatsanwaltschaft, wie hier, nach durchgeführter Beweisaufnahme zum Ergebnis, ein strafrechtlicher Schuldnachweis sei überhaupt nicht zu führen, kann aus ihrem Antrag auf Freispruch keinesfalls auf ein Bagatelldelikt geschlossen werden, denn eine strafrechtliche Bagatellstraftat hat sich aus Sicht der Staatsanwaltschaft gerade nicht ereignet. Es geht nicht an, der Anwendung des § 313 Abs. 1 Satz 2 StPO eine fiktive Tat und eine fiktive Rechtsfolge zugrundezulegen.
Diese Überlegungen stehen aus Sicht des Senats auch der vom 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm (NStZ 1996, 455) in einem gleichgelagerten Fall vertretenen Meinung entgegen, § 313 Abs. 1 Satz 2 StPO sei auch im Fall des vom Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft beantragten Freispruchs anwendbar, wenn die Staatsanwaltschaft im vorausgegangenen Strafbefehlsantrag eine Geldstrafe von nicht mehr als 30 Tagessätzen beantragt hatte.
Ergibt die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung, dass ein pflichtwidriges schuldhaftes Verhalten des Angeklagten nicht vorliegt, so ist es denkgesetzlich nicht zulässig, im Rahmen der Anwendbarkeit des § 313 Abs. 1 Satz 2 StPO einen fiktiven Sachverhalt als Bagatellstraftat zugrundezulegen, der sich jedenfalls so erwiesenermaßen nicht ereignet hat.
Dass der Nebenklägervertreter in der Hauptverhandlung über die Verurteilung des Angeklagten hinaus keinen Antrag zur Rechtsfolgen gestellt hat, sondern das Strafmaß in das Ermessen des Gerichts gestellt hat, ändert am Ergebnis der Zulässigkeit seiner Berufung nichts.
Ende der Entscheidung
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