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Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 08.12.2005
Aktenzeichen: 4 Ws 163/05
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 261
1. Zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Aussagen von Angeklagten und Zeugen/innen anhand von Realitätskriterien unter Verwendung der "Nullhypothese" oder ausgehend von einer "neutralen Anfangswahrscheinlichkeit" für die Zuverlässigkeit der Angaben.

2. Widersprüchliche oder nicht konstante Aussagen sprechen nur dann gegen die Glaubhaftigkeit, wenn sie das Kerngeschehen betreffen. Dieses ist subjektiv aus der Sicht der Auskunftsperson zu bestimmen. "Objektive Bezüge" zum (behaupteten) Tatgeschehen müssen nicht zwingend hergestellt werden.

3. Es spricht nicht von vornherein gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten eines Sexualdelikts, wenn sie sich nach der Tat wieder freiwillig zum Täter begibt und dort längere Zeit aufhält. Gleiches gilt, wenn erkennbar ist, dass das Opfer sich durch eine belastende Aussage am Täter rächen könnte.

4. Für die Glaubhaftigkeit einer Aussage spricht, wenn Zeugen/innen oder andere Beweismittel benannt werden, durch die der Aussageinhalt überprüft werden kann. Ob er sich sodann bestätigt, ist grundsätzlich von geringerer Bedeutung.


Gründe:

I. Das Landgericht hat die Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 204 Abs. 1 StPO aus tatsächlichen Gründen abgelehnt, da der Angeschuldigte der in der Anklageschrift angeführten Taten (sechs Fälle des teilweise versuchten sexuellen Missbrauchs eines Kindes bzw. einer Schutzbefohlenen in einem Fall in Tateinheit mit sexueller Nötigung zum Nachteil seiner Tochter) nicht hinreichend verdächtig sei. Nach vorläufiger Beurteilung des Akteninhalts sei nicht mit seiner Verurteilung zu rechnen. Hiergegen wendet sich die Nebenklägerin mit ihrer sofortigen Beschwerde. Das Rechtsmittel ist begründet.

II. Die Strafkammer hat bei der Prüfung der Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben einen methodisch unrichtigen Ansatz gewählt. ... Methodisch richtig wäre es gewesen, so wie es die höchstrichterliche Rechtsprechung im Rahmen von § 261 StPO verlangt (BVerfG NJW 2003, 2444; BGHSt 45, 164; vgl. Herdegen, NJW 2003, 3513), anstatt die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin die Frage nach der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben in den Mittelpunkt der Erwägungen zu stellen (BGHSt 45, 164, 167) und bei der Aussageinhaltsanalyse quasi umgekehrt vorzugehen: Nicht zu versuchen, Lügen aufzudecken, sondern in erster Linie darauf abzustellen, was dafür spricht, dass die Auskunftsperson die Wahrheit sagt (BGH, Beschluss vom 29. April 2003 -1 StR 88/2003-). Da vorliegend Aussage gegen Aussage steht, ist von dem (methodischen) Grundprinzip auszugehen, die Glaubhaftigkeit der Aussage solange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Dabei nimmt man zunächst an, die Aussage sei unwahr (so genannte "Nullhypothese" - BGHSt 45, 164, 167 f.). Diese Annahme überprüft man dann anhand verschiedener Hypothesen (vgl. dazu BGH aaO S. 168 ff.). Ergibt sich, dass die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt die Alternativenhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt (BGHSt aaO, 168).

Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man bei der Bewertung von Aussagen von einer neutralen Anfangswahrscheinlichkeit für deren Zuverlässigkeit ausgeht und sodann überprüft, ob anhand von Qualitätsmerkmalen, so genannten Realkennzeichen oder Realitätskriterien, eine (ausreichend) hohe Wahrscheinlichkeit für die Zuverlässigkeit der Aussage erreicht werden kann. Ist das der Fall, so kann grundsätzlich von "subjektiver Wahrheit" ausgegangen werden. Es ist nun festzustellen, ob diese Erinnerungen durch Irrtümer verfälscht sind. Die Auskunftsperson muss die Geschehnisse zutreffend wahrgenommen haben (keine Wahrnehmungsfehler), und es muss sich um echte Erinnerungen handeln (d.h. die Auskunftsperson meint nicht nur, sich zu erinnern), die durch den Zeitablauf nicht verändert worden sind (keine Erinnerungsfehler).

Geht man auf diese Weise vor, so ergibt sich vorliegend ein hinreichender Tatverdacht.

III. ...

3. ... In dem Beschluss (wird) die Auffassung vertreten, das Verhalten der Nebenklägerin, nämlich dass sie trotz der vorangegangenen sexuellen Übergriffe erneut in die Wohnung ihres Vaters gezogen sei und dort mehrere Monate zusammen mit ihm gewohnt habe, lasse sich nicht mit den Tatvorwürfen in Einklang bringen.

Damit stellt die Kammer erkennbar eine "Alltagstheorie" bezüglich des Verhaltens von Opfern von Sexualdelikten auf: Es spreche gegen die Glaubwürdigkeit einer Geschädigten und gegen die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben, wenn sie sich nach den von ihr behaupteten Taten erneut freiwillig (längere Zeit) zum Täter begibt. Eine solche Alltagstheorie wurde bislang, soweit ersichtlich, nicht empirisch überprüft.

Der Senat vertritt ... die Auffassung, dass eine solche Alltagstheorie unzutreffend ist. Ganz im Gegenteil trifft man ein solches Verhalten bei Opfern von sexuellen Übergriffen durchaus häufig an. ... Bei Opfern von ausschließlich körperlicher Gewalt im familiären Umfeld entspricht ein solches Verhalten sogar nahezu der Regel. Es ist bekannt, dass beispielsweise misshandelte Ehefrauen, trotz aller Bemühungen von Seiten Dritter, immer wieder zu ihren Peinigern zurückkehren, auch wenn diese sehr häufig, oft schon nach kurzer Zeit, die Misshandlungen fortsetzen. ...

5. Weiter berücksichtigt die Kammer ..., dass die Mutter der Nebenklägerin im Scheidungsverfahren bestrebt sei, ihren ehemaligen Ehemann "fertig" zu machen. Das bedeutet, dass die Mutter aufgrund ihrer Motivation auf die Aussage der Nebenklägerin eingewirkt haben müsste, dass es sich mithin um eine angelernte, bewusst falsche Beschuldigung durch die Nebenklägerin handeln würde. Geben, wie vorliegend, konkrete Umstände Anlass zur Annahme von motivisch bedingten Verfälschungen, so ist die so genannte "Rachehypothese" zu prüfen, nämlich ob Rache (hier: der Mutter) als Motiv für eine Falschbezichtigung ausgeschlossen oder für wenig wahrscheinlich erachtet werden kann (BGH NStZ-RR 2003, 206, 208). Aus einer festgestellten Belastungsmotivation lässt sich jedoch nicht zwingend auf eine Falschaussage oder auch nur auf Übertreibungen schließen (BGHSt 45, 164, 175). Deshalb darf ein solcher motivischer Aspekt nicht isoliert berücksichtigt werden. Vielmehr müssen immer weitere tragfähige Umstände hinzukommen, die eindeutig belegen, dass tatsächlich eine solche Beeinflussung stattgefunden hat und dass deshalb die betreffenden Angaben unzutreffend sind (BGH NJW 1988, 566). In diesem Zusammenhang kommt dem "Gleichgewichtsmerkmal" (vgl. Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht Band 1, 2. Aufl., Rn. 279) besondere Bedeutung zu (BGH NStZ-RR aaO): Verzichtet die Auskunftsperson auf ihr mögliche Mehrbelastungen und weisen ihre Angaben zugleich auch selbstbelastende Elemente auf, so spricht das gegen eine falsche Beschuldigung. ...

6. Die Benennung der Zeugin P. stellt ein Realitätskriterium dar (Kriterium der Verflechtung - s. Bender/Nack aaO Rn. 271). Die Nebenklägerin macht durch die Erwähnung der Zeugin P. ihre Aussage überprüfbar. Dabei spielt es grundsätzlich eine eher untergeordnete Rolle, ob die Überprüfung letztlich die Aussage bestätigt. Lügner/innen werden aus ihrer Erwartungshaltung heraus kaum eine Überprüfungsmöglichkeit anbieten, bei der sie selbst davon ausgehen müssen, dass ihre Aussage nachher nicht bestätigt werden wird. Aus ihrer Sicht würde sich das auf die Glaubhaftigkeit der Behauptungen in jedem Fall negativ auswirken. Deshalb ist grundsätzlich allein das "Verflechtungs-Angebot" das Realitätskriterium, das für die Schilderung einer wahren Begebenheit spricht. ...

7. Die Ausführungen der Sachverständigen weisen im Zusammenhang mit den Kriterien der Konstanz bzw. der Widersprüchlichkeit einen Fehler auf: Zum einen wird mit den beiden Begriffen argumentiert, ohne ausreichend festzustellen, ob es sich um Konstanz bzw. Widersprüche im Kern- oder im Randgeschehen handelt. Denn nur im Kerngeschehen ist inhaltliche Konstanz zu erwarten; im Randgeschehen hingegen können Widersprüche oder Veränderungen in der Aussage sogar für deren Glaubhaftigkeit sprechen. Die Sachverständige hat insoweit versäumt festzustellen, was sie bei jedem einzelnen der sexuellen Übergriffe jeweils als Kern- bzw. als Randgeschehen angesehen hat. Dies ist aber erforderlich. Andernfalls kann nicht beurteilt werden, ob Konstanz und Veränderung für oder gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben sprechen (vgl. BGH NStZ-RR 1997, 172 und StV 1992, 555; OLG Stuttgart, Beschluss vom 04. Mai 2001 -2 Ss 174/2001-).

Zum andern besteht aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen Anlass für die Vermutung, dass sie ... das Kern- bzw. Randgeschehen in zumindest angreifbarer Weise bestimmt hat. ... Sie scheint Kern- und Randgeschehen entsprechend einer von Arntzen vertretenen "Definition" zu bestimmen und "objektive Bezüge" zum (behaupteten) Tatgeschehen zu verlangen. Danach fallen unter das Kerngeschehen: Die unmittelbar an einer Straftat Beteiligten, die Örtlichkeit der Tat, die Art und Weise der Fortbewegung bei mehreren Handlungsorten, Einrichtungsgegenstände, die einen zentralen Bezug zum Geschehen haben u.a. (vgl. Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, 3. Aufl., S. 55). Diese Definition des Kern- bzw. Randgeschehens ist jedoch im forensischen Bereich nicht tauglich. Vielmehr muss das Kerngeschehen immer individuell für die jeweilige Auskunftsperson bestimmt werden. Gleich bleiben soll alles aus dem Geschehensablauf, was für die Auskunftsperson im Moment des Erlebnisses subjektiv von zentraler Bedeutung war (Bender/Nack aaO Rn. 290). Anhand dieser Definition ist für jeden einzelnen behaupteten Übergriff das Kern- und Randgeschehen (immer aus Sicht der jeweiligen Auskunftsperson) zu definieren. Erst danach kann beurteilt werden, ob die Konstanz der Aussagen bzw. etwaige Widersprüche gegen oder für die Glaubhaftigkeit verwandt werden können. ...

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