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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 11.11.2002
Aktenzeichen: 4 Ws 255/2002
Rechtsgebiete: StGB, JGG


Vorschriften:

StGB § 68 f Abs. 1
JGG § 7
JGG § 31 Abs.1
Die Anordnung von Führungsaufsicht nach §§ 7 JGG, 68 f Abs. 1 StGB im Jugendstrafrecht setzt voraus, dass bei einer zugrundeliegenden Vorsatztat mindestens eine Jugendstrafe von zwei Jahren (in den Fällen des § 181 b StGB von einem Jahr) verwirkt worden wäre (im Anschluss an OLG Hamm NStZ-RR 1998, 61; entgegen OLG München NStZ-RR2002, 183).
Oberlandesgericht Stuttgart - 4. Strafsenat - Beschluss

vom 11. November 2002

Geschäftsnummer: 4 Ws 255/2002

in der Strafvollstreckungssache

wegen räuberischer Erpressung u.a.,

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts - Strafvollstreckungskammer - Tübingen vom 02. Oktober 2002 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Gründe:

I.

Das Jugendschöffengericht Böblingen verurteilte E. G. am 02. Juli 1996 wegen schwerer räuberischer Erpressung und Diebstahls in zwei Fällen zu der Jugendstrafe von drei Jahren. Einbezogen wurde das Urteil des Amtsgerichts Böblingen vom 07. Dezember 1995 wegen Diebstahls in drei Fällen sowie versuchten Diebstahls, bei dem die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe bei G zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dem Urteil vom 02. Juli 1996 liegen zwei Einbrüche in Raiffeisenmärkte in H. und S. zugrunde, bei denen der Verurteilte und sein Mittäter in einem Fall ca. 2.000 DM Bargeld sowie Müllbanderolen im Wert von ca. 10.000 DM entwendeten, im anderen Fall aber keine nennenswerte Beute machten. Darüber hinaus begingen sie einen Überfall auf die Zweigstelle der Volksbank H. in O., bei dem G. mit einer Schreckschusspistole, zusammen mit seinem ebenfalls bewaffneten Mittäter, die Übergabe von 12.600 DM erzwang. Dem Urteil des Amtsgerichts Böblingen vom 07. Dezember 1995 liegen vier Autoaufbrüche zugrunde, bei denen der Verurteilte jeweils Autoradios und Wertgegenstände entwendete, in einem Fall blieb es beim Versuch.

Das Amtsgericht Adelsheim setzte mit Beschluss vom 06. August 1997 die Vollstreckung der Restjugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Böblingen vom 02. Juli 1996 zur Bewährung aus. Die Bewährungszeit betrug drei Jahre. Am 02. Mai 2000 wurde der Beschwerdeführer vom Landgericht Stuttgart wegen Computerbetruges in 14 Fällen, unter Einbeziehung einer dreimonatigen Freiheitsstrafe des Amtsgerichts Böblingen vom 26. Mai 1998 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten und zwei Wochen verurteilt. Das Urteil ist seit 20. Oktober 2000 rechtskräftig. Der Beschwerdeführer hatte abredewidrig mit Kreditkarten seines Vaters insgesamt 9.400 DM von dessen Konto abgehoben und für sich verbraucht. Wegen dieser Verurteilung widerrief das Amtsgericht Böblingen am 13. Februar 2001 die zur Bewährung ausgesetzte Restjugendstrafe. Am 20. April 2001 gab es gemäß §§ 89a Abs. 3, 85 Abs. 6 JGG die Vollstreckung an die Staatsanwaltschaft ab, nachdem es den Verurteilten einen Monat zuvor aus dem Jugendstrafvollzug herausgenommen hatte (§§ 92 Abs. 2, 3 JGG). Mit Beschluss vom 15. August 2002 lehnte das Landgericht - Strafvollstreckungskammer - Tübingen die Aussetzung der Strafreste der Jugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Böblingen vom 02. Juli 1996 sowie der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Böblingen vom 05. Oktober 1998 zur Bewährung ab.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer nach vollständiger Verbüßung der Jugendstrafe festgestellt, dass bei dem Verurteilten Führungsaufsicht eintritt.

Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde ist in der Sache ohne Erfolg.

II.

Die Voraussetzungen für den Eintritt von Führungsaufsicht kraft Gesetzes liegen vor. Nach den §§ 7 JGG, 68 f Abs. 1 StGB tritt mit der Entlassung des Verurteilten aus dem Strafvollzug Führungsaufsicht ein, wenn eine Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat vollständig vollstreckt worden ist.

1. Für das Erwachsenenstrafrecht hat der Senat mehrfach entschieden, dass Führungsaufsicht, die nach § 68 f StGB im Anschluss an eine voll verbüßte Gesamtfreiheitsstrafe verhängt wird, eine hierin enthaltene Einzelstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer Vorsatztat voraussetzt (B. v. 13.09.2002 - 4 Ws 226/02; B. v. 08.08.2002 - 4 Ws 187/02; vgl. OLG Stuttgart Justiz 1991, 550; s. auch Schönke/Schröder StGB, 26. Aufl., § 68 f Rdnr. 4 m.w.N.). Hierfür spricht der Gesetzeswortlaut und der Umstand, dass nur schwerwiegende Taten und nicht eine Summe von leichteren Delikten den automatischen Eintritt der Führungsaufsicht rechtfertigen. Die Gegenmeinung (vgl. Tröndle/Fischer StGB, 50. Aufl., § 68 f Rdnr. 3 m.w.N.), die darauf abstellt, dass die Führungsaufsicht Eingliederungsschwierigkeiten nach einem längeren Strafvollzug entgegenwirken soll, unabhängig davon, ob eine Gesamt- oder Einzelstrafe zum längeren Strafvollzug geführt hat, überzeugt bereits deshalb nicht, weil Führungsaufsicht nach einhelliger Ansicht nicht eintritt, wenn der mehrjährige ununterbrochene Freiheitsentzug auf verschiedenen Urteilen mit nicht gesamtstrafenfähigen Freiheitsstrafen unter zwei Jahren beruht.

2. Diese Auffassung muss auch im Jugendstrafrecht gelten (ebenso OLG Hamm NStZ-RR 1998, 61; Brunner/Dölling JGG, 11. Aufl. § 7 Rdnr. 11; Eisenberg JGG, 9. Aufl. § 7 Rdnr. 33; zur Gegenmeinung vgl. OLG München NStZ-RR 2002, 183). Auch hier ist der Eingriff in die Rechtsstellung des Verurteilten in Form der Führungsaufsicht nur bei schweren Straftaten mit erheblichem Unrechtsgehalt gerechtfertigt. Dies gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der bei Jugendstrafen in gleicher Weise wie bei Freiheitsstrafen anzuwenden ist. Dem kann auch nicht mit Hinweis auf den im Jugendstrafrecht im Vordergrund stehenden Erziehungsgedanken begegnet werden (so aber OLG München a.a.O.), denn für Jugendliche und Erwachsene gilt gleichermaßen, dass die Führungsaufsicht nur in Fällen besonders schwerwiegender Straftaten Anwendung finden soll. Zwar ist im Jugendstrafrecht die Feststellung von "Einzeljugendstrafen" nach § 31 Abs. 1 JGG grundsätzlich nicht möglich. Doch enthebt die Gegenmeinung in Fällen des Zusammentreffens von vorsätzlichen und fahrlässigen Delikten auch nicht von der Feststellung hypothetischer Jugendstrafen für die vorsätzlich begangenen Delikte (vgl. OLG München a.a.O.). Zudem ist nach dieser Auffassung, die im wesentlichen auf die Folgen des langen Vollzugs für die Erziehung des Jugendlichen abstellt, Führungsaufsicht auch bei über zweijährigem Vollzug von Jugendstrafe nicht möglich, wenn dieser auf einer Verurteilung wegen Vorsatz- und Fahrlässigkeitstaten beruht und hypothetisch eine Strafe wegen einer Vorsatztat von mindestens zwei Jahren nicht festgestellt werden kann.

Führungsaufsicht darf im Falle der Einheitsjugendstrafe deshalb nur dann angeordnet werden, wenn wegen einer zugrunde liegenden Straftat mindestens zwei Jahre Jugendstrafe oder wegen einer in § 181 b StGB genannten Tat ein Jahr Jugendstrafe verwirkt worden wäre. Dabei ist auch dem Gedanken Rechnung zu tragen, dass im Jugendstrafrecht für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Anordnung der Führungsaufsicht keine strengeren Voraussetzungen als im Erwachsenenstrafrecht gelten können (OLG Hamm a.a.O.).

Der Senat verkennt nicht die Schwierigkeiten, die mit einer derartigen "Feststellung" verbunden sind, denn anders als im Erwachsenenstrafrecht fehlt es an Einsatzstrafen, an die angeknüpft werden kann. Zwar kann nicht im nachhinein eine hypothetische Festsetzung von "Einzeljugendstrafe" erfolgen, jedoch muss ausgeschlossen werden können, dass für eine Vorsatztat weniger als zwei Jahre Jugendstrafe verhängt worden wäre.

3. Es ist auszuschließen, dass für die im Urteil des Amtsgerichts Böblingen vom 02. Juli 1996 enthaltene schwere räuberische Erpressung eine unter zwei Jahre liegende Jugendstrafe verhängt worden wäre. Der Strafrahmen für diese Tat sah gemäß §§ 253, 255, 250 Abs. 1 Nr. 2 StGB in der bis zum 31.3.1998 geltenden Fassung Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren vor. Auch angesichts der Vorstrafen des Verurteilten und dessen bereits damals zu Tage getretenen schädlichen Neigungen kann von einer hypothetisch für diese Tat zu verhängende Jugendstrafe von weniger als zwei Jahren nicht ausgegangen werden. Die weiteren in der Jugendstrafe von drei Jahren berücksichtigten Straftaten waren demgegenüber von weit geringerem Gewicht.

Eine auch ohne Führungsaufsicht günstige Prognose im Sinne von § 68 f Abs. 2 StGB kann dem Verurteilten nicht gestellt werden. Die Anordnung nach § 68 f Abs. 2 StGB hat Ausnahmecharakter, denn sonst wäre es zur Aussetzung des Strafrestes gekommen (vgl. Tröndle/Fischer a.a.O. § 68 f Rdnr. 7). Sie betrifft überwiegend Fälle, bei denen die Aussetzung des Strafrestes an der fehlenden Einwilligung des Verurteilten gescheitert ist oder im letzten Stadium der Strafvollstreckung Umstände eingetreten sind, die eine positive Prognose ermöglichten, die Aussetzung des Strafrests aber nicht mehr beschlossen werden konnte (Tröndle/Fischer a.a.O.).

Der Verurteilte hat bereits während der Bewährungszeit erhebliche Straftaten begangen. Dies wiegt umso schwerer, als er zur Befriedigung seines Geldbedarfes selbst das Vertrauen seiner Eltern missbrauchte. Hinzu kommt, dass er seit Anfang 1999 auch keinen Kontakt mehr zu seinem damaligen Bewährungshelfer hielt und trotz zahlreicher Aufforderungen sich nicht mehr bei ihm meldete. Dies belegt die hohe kriminelle Energie, die er auch nach dem teilweisen Vollzug von Jugendstrafe an den Tag gelegt hat. Der Senat verkennt nicht die Tragik, die mit dem schweren Arbeitsunfall verbunden ist, den der Beschwerdeführer in der Haft erlitten hat. Für die Sozialprognose ist dies jedoch ohne Bedeutung.

Soweit E. G. in Zukunft auf die Hilfe seiner Familie angewiesen ist, sein Vater ihm die Taten verziehen hat und er nach seiner Entlassung wieder bei seinen Eltern zunächst Wohnung nehmen konnte, mag dies zu einer gewissen Stabilisierung führen. Ob ihn dies von weiteren Straftaten abhalten wird, ist aber nicht sicher. Er hat bereits einmal das in ihn gesetzte Vertrauen seiner Familie enttäuscht. Um der Gefahr weiterer Straftaten entgegenzuwirken bedarf es der Anordnung von Führungsaufsicht und der Unterstützung durch einen Bewährungshelfer.

Ende der Entscheidung

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