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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 26.06.2002
Aktenzeichen: 5 Ss 209/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 335 Abs. 3
StPO § 313
Werden in einer sogenannten Bagatellstrafsache sowohl die Berufung der Staatsanwaltschaft wie auch das gemäß § 335 Abs. 3 StPO vorläufig ebenfalls als Berufung behandelte unbestimmte Rechtsmittel des Angeklagten wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß § 313 Abs. 2 Satz 2 StPO vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist als unzulässig verworfen, lebt das vom Angeklagten eingelegte Rechtsmittel in der Weise wieder auf, dass es bei fristgemäßer entsprechender Bezeichnung als (Sprung-)Revision zulässig ist. Der dieses Rechtsmittel verwerfende Beschluss der Berufungskammer wird damit gegenstandslos.
Oberlandesgericht Stuttgart Beschluss

Geschäftsnummer: 5 Ss 209/02

in der Strafsache gegen

wegen fahrlässiger Körperverletzung

Der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts hat auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 26. Juni 2002 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Esslingen vom 20. Februar 2002 wird als unbegründet verworfen, weil die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keine Rechtsfehler ergeben hat (§ 349 Abs. 2 und Abs. 3 StPO).

Der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 27. März 2002 sowie die dagegen eingelegte Revision des Angeklagten sind damit gegenstandslos.

Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Gründe:

I.

Am 20. Februar 2002 hatte das Amtsgericht Esslingen den Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung zu der Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 20,00 Euro verurteilt. Hiergegen legte die Staatsanwaltschaft am 27. Februar 2002 Berufung ein, die sie am 5. März 2002 (wirksam) auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte. Vom Verteidiger des Angeklagten wurde am 27. Februar 2002 "Rechtsmittel" eingelegt. Mit Beschluss vom 27. März 2002 verwarf das Landgericht Stuttgart die Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft jeweils gemäß § 313 Abs. 2 Satz 2 StPO wegen offensichtlicher Unbegründetheit als unzulässig. Mit am 3. April 2002 beim Amtsgericht Esslingen eingegangenen Schriftsatz bezeichnete der Verteidiger, dem das amtsgerichtliche Urteil am 4. März zugestellt worden war, sein Rechtsmittel als Revision, erhob die Verfahrens- und Sachrüge und beantragte die Aufhebung des Urteils. Zudem legte er mit Schriftsatz vom gleichen Tage beim Landgericht Stuttgart vorsorglich gegen das dortige "Urteil" (gemeint ist der Beschluss vom 27. März 2002) Revision ein.

II.

Das Rechtsmittel des Angeklagten ist als (Sprung-) Revision zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg. Der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 27. März 2002 sowie die dagegen eingelegte Revision sind damit gegenstandslos.

1. Die (Sprung-) Revision ist gemäß § 335 Abs. 1 StPO statthaft und zudem form- und fristgerecht eingelegt.

Wenn ein Urteil sowohl mit der Berufung als auch mit der Revision anfechtbar ist, bleibt dem Beschwerdeführer bei zunächst unbestimmter Anfechtung bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist das Wahlrecht erhalten (BGHSt 25, 321, 324). Wird innerhalb dieser Frist das Rechtsmittel als Revision bezeichnet, so ist der Rechtsmittelführer so zu behandeln, als sei von vornherein Revision eingelegt worden (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., § 335 Rdnr. 6 m. w. N.). Die Erklärung, die rechtsgestaltenden Charakter hat, muss bei dem Amtsgericht angebracht werden, das die angegriffene Entscheidung erlassen hat, und zwar auch dann, wenn die Akten bereits dem Berufungsgericht vorgelegt worden sind (BGH StV 1995, 174). Diese Voraussetzung sind vorliegend erfüllt, da der Angeklagte während laufender Revisionsbegründungsfrist sein Rechtsmittel gegenüber dem zuständigen Amtsgericht Esslingen als (Sprung-) Revision bezeichnet hat.

Das Wahlrecht war nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Landgericht Stuttgart zuvor das - bis dahin noch unbezeichnete - Rechtsmittel infolge der von der Staatsanwaltschaft eingelegten Berufung gemäß § 335 Abs. 3 StPO als solche behandelt und bereits wegen offensichtlicher Unbegründetheit als unzulässig verworfen hatte.

Vor Erlöschen des Wahlrechtes erlangt das durch die - vorzeitige - Aktenübersendung bereits mit der Sache befasste Berufungsgericht allenfalls eine bedingte und damit vorläufige Zuständigkeit. Endgültige Entscheidungen vermag es nicht zu treffen (BGH StV 1995, 174). Entscheidet es dennoch, wird der Beschluss gegenstandslos, wenn der Beschwerdeführer nachträglich, aber noch innerhalb der Revisionsbegründungsfrist sein Rechtsmittel als (Sprung-) Revision bezeichnet (OLG Stuttgart, Justiz 1995, 414 ff.; vgl. auch KG Berlin, NStZ-RR 1999, 146f, wonach allerdings der Beschluss auf Beschwerde aufzuheben ist).

Diese Grundsätze gelten gleichermaßen, wenn die Berufung des Rechtsmittelgegners gemäß § 313 Abs. 2 Satz 2 StPO als unzulässig verworfen wurde. In diesem Fall lebt das gemäß § 335 Abs. 3 StPO bis dahin nur bedingt als Berufung zu behandelnde Rechtsmittel, und damit das Wahlrecht, wieder vollumfänglich auf, so dass bei einer entsprechenden Bezeichnung innerhalb der Revisionsbegründungsfrist die (Sprung-) Revision (wieder) zulässig ist.

Die Rechtsprechung hierzu erscheint bislang nicht gefestigt. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat in einem weitgehend gleichgelagerten Fall - allerdings ohne nähere Begründung - in diesem Sinne entschieden (StV 1994, 238). Demgegenüber vertritt das Oberlandesgericht Karlsruhe die Auffassung, dass, wenn das Landgericht in einer Bagatellsache (§ 313 StPO) die Berufung des Nebenklägers gegen das den Angeklagten freisprechende Urteil des Amtsgerichts nicht angenommen hat, die dasselbe Rechtsmittelziel verfolgende (Sprung-) Revision der Staatsanwaltschaft weiter als Berufung zu behandeln ist (NStZ 1995, 562 ff.). Die Nichtannahme der Berufung des Nebenklägers nach § 313 StPO stehe im Rahmen des § 335 Abs. 3 StPO weder der Verwerfung der Berufung als unzulässig (§§ 322 Abs. 1, 314 StPO) noch einer Zurücknahme gleich, da das Annahmeverfahren gemäß § 313 StPO nicht nur eine tatsachenbezogene Prüfung, sondern auch eine solche auf Rechtsfehler beinhalte, im Ergebnis also eine "sachliche Nachprüfung" stattfinde. Gleichwohl hat es ausdrücklich offen gelassen, wie - bei ansonsten identischer Verfahrenslage - im Falle der gleichzeitigen Anfechtung mit Berufung und Revision von Rechtsmittelgegnern zu entscheiden wäre.

In der Literatur teilt Meyer-Goßner die letztgenannte Auffassung (NStZ 1998, 19 ff.), während Hartwig sich dafür ausspricht, die Verwerfung als unzulässig gemäß § 313 Abs. 2 Satz 2 StPO - dem Gesetzeswortlaut entsprechend - als einen Fall der Unzulässigkeit im Sinne von § 335 Abs. 3 StPO anzusehen (NStZ 1997, 111 ff.).

Auszugehen ist von Sinn und Zweck der Regelung in § 335 Abs. 3 StPO. Danach soll bei gleichzeitiger Anfechtung eines Urteils mit der Revision und der Berufung durch verschiedene Verfahrensbeteiligte verhindert werden, dass dieselbe Sache vor verschiedene Rechtsmittelgerichte kommt und widersprüchliche Entscheidungen getroffen werden (LR-Hanack, StPO, 25. Aufl., § 335 Rdnr. 20). Weil die Berufung die umfassendere Prüfungskompetenz eröffnet, ist es - selbst bei beschränkter Anfechtung - gerechtfertigt, ihr den Vorrang zu gewähren (Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 335 Rdnr. 14). Dem Beschwerdeführer bleibt es unbenommen, sodann das Berufungsurteil mit dem Rechtmittel der Revision anzufechten.

Fällt die geschilderte Ausgangslage indes nachträglich weg, bedarf es auch keiner weiteren Behandlung der Revision als Berufung. Folgerichtig hat der Gesetzgeber diesen Gesichtpunkt berücksichtigt und in § 335 Abs. 3 StPO bestimmt, dass der Vorrang nur gilt, "solange die Berufung nicht zurückgenommen oder als unzulässig verworfen ist". Die Revision wird also nicht endgültig in eine Berufung umgedeutet, sondern bleibt bis zur Sachentscheidung des Berufungsgerichtes bedingt bestehen (LR-Hanack, § 335 Rdnr. 23 m.w.N.).

Die Verwerfung der Berufung als unzulässig gemäß § 313 Abs. 2 Satz 2 StPO stellt einen Fall der Unzulässigkeit im Sinne von § 335 Abs. 3 StPO dar. Hierfür spricht der identische Wortlaut in den beiden Bestimmungen sowie der vom Gesetzgeber damit zum Ausdruck gebrachte Wille. Ausdrücklich hat er in § 313 Abs. 2 StPO bestimmt, dass die Berufung bei offensichtlicher Unbegründetheit als unzulässig zu verwerfen ist. Die Nichtannahme der Berufung wird also - trotz Begründetheitsprüfung - bewusst als ein Fall der Unzulässigkeit behandelt. Hätte der Gesetzgeber diesen Fall der Unzulässigkeit in § 335 Abs. 3 StPO - entgegen dem Wortlaut - ausnehmen wollen, so hätte es einer dahingehenden gesetzlichen Klarstellung bedurft.

Dem steht nicht entgegen, dass der Begriff "zulässig" in Absatz 1 von § 335 StPO nicht wörtlich (und damit gerade nicht im Sinne von § 313 StPO), sondern als "statthaft" verstanden wird, weswegen die Prüfung der Zulässigkeit der (Sprung-) Revision grundsätzlich nicht die Frage umfasst, ob eine stattdessen eingelegte Berufung hätte angenommen werden müssen (BayObLG StV 1993, 572; OLG Düsseldorf MDR 1995, 406; OLG Stuttgart NStZ-RR 1996, 75; OLG Zweibrücken NStZ 1994, 203; KK-Kuckein, StPO, 4. Aufl., § 335 Rdnr. 16 m.w.N.; a.A. Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 335 Rdnr. 21, wonach im Falle des § 313 StPO erst Berufung eingelegt werden müsse; werde diese nicht angenommen, sei auch die Revision nach § 331 StPO ausgeschlossen). Indes lassen sachliche Gründe die differenzierte Deutung der Begriffe "zulässig" beziehungsweise "unzulässig" in Absatz 1 und 3 von § 335 StPO zu:

Mit der Auslegung des Begriffs "zulässig" als "statthaft" in § 335 Abs. 1 StPO werden dem Beschwerdeführer seine Rechte nicht verkürzt, sondern letztlich erweitert, da die Zulässigkeitsschranken des § 313 StPO entfallen. Demgegenüber würde jede vom Wortlaut abweichende Auslegung des Begriffs "unzulässig" in § 335 Abs. 3 StPO dazu führen, den Beschwerdeführer in seinen Rechten zu beschneiden. Dies beruht auf der Überlegung, dass dem Beschwerdeführer bei einer Nichtannahme der Berufung das eigentlich gewollte Rechtsmittel der Revision wegen Unanfechtbarkeit (§ 322 a StPO) genommen wäre, obwohl - wie oben dargelegt - die (Sprung-) Revision gerade nicht der Schranke des § 313 StPO unterliegt. Eine (unzulässige) Beschränkung bei der Wahl des Rechtsmittels würde demnach nur dann nicht vorliegen, wenn die Prämisse zutreffend wäre, die Prüfung durch das Berufungsgericht im Rahmen einer Annahmeentscheidung stehe derjenigen durch das Revisionsgericht gleich. So verhält es sich jedoch nicht. Zwar eröffnet die Annahmeprüfung dem Berufungsgericht eine gegenüber dem Revisionsgericht weitergehende Möglichkeit der Überprüfung, da der gesamte Akteninhalt Berücksichtigung finden kann. "Offensichtlich unbegründet" ist die Berufung dann, wenn für jeden Sachkundigen anhand der Urteilsgründe und einer eventuell vorliegenden Berufungsbegründung sowie des Protokolls der Hauptverhandlung ohne längere Prüfung erkennbar ist, dass das Urteil sachlich-rechtlich nicht zu beanstanden ist und keine Verfahrensfehler begangen worden sind, die die Revision begründen würden (Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 313 Rdnr. 9; KK-Ruß, StPO, 4. Aufl., § 313 Rdnr. 5 m. w. N.). Jedoch verbleibt es im Ergebnis bei einer (bloßen) Evidenzprüfung eines einzelnen Richters (das Revisionsgericht entscheidet stets mit drei Berufsrichtern), der üblicherweise nicht mit Problemen des Revisionsrechts befasst ist. Ferner handelt es sich bei der Annahmeentscheidung lediglich um eine Prognose, wie die Entscheidung nach Durchführung der Berufungshauptverhandlung ergehen würde (Hartwig, a.a.O, S. 112).

Im übrigen spricht für die hiesige Auffassung, dass andernfalls in systemwidriger Weise das Berufungs- mit dem Revisionsverfahren vermengt würde und es einem Beteiligten ermöglicht würde, durch Einlegung einer offensichtlich unbegründeten Berufung dem Verfahrensgegner das Rechtsmittel der (Sprung-) Revision endgültig zu nehmen. Ein Ergebnis, das sich - ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung - mit den hergebrachten strafprozessualen Grundsätzen nicht vereinbaren lässt.

Nach alledem ist die (Sprung-) Revision des Angeklagten zulässig, mit der Folge, dass zugleich der landgerichtliche Nichtannahmebeschluss sowie die dagegen gerichtete Revision gegenstandlos geworden sind.

2. Die Revision des Angeklagten gegen das amtsgerichtliche Urteil ist indes unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO, da die Nachprüfung aufgrund des Revisionsvorbringens keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat.

Ende der Entscheidung

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