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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 17.01.2001
Aktenzeichen: 5 Ws 1/2001
Rechtsgebiete: StPO, JGG


Vorschriften:

StPO § 406 g
JGG § 80 Abs. 3
Im Strafverfahren gegen einen Jugendlichen ist § 406 g StPO nicht anwendbar, weil die dort geregelten Befugnisse in einem engen Zusammenhang mit der nach §§ 2, 80 Abs. 3 JGG im Jugendstrafverfahren unzulässigen Nebenklage stehen (entgegen OLG Koblenz, Beschluß vom 2. Mai 2000, NJW 2000, S 2436).
Oberlandesgericht Stuttgart - 5. Strafsenat - Beschluss

Geschäftsnummer: 5 Ws 1/2001 3 KLs 43 Js 38351/00 LG Stuttgart 43 Js 38351/00 StA Stuttgart

vom 17. Januar 2001

in der Strafsache gegen

wegen versuchten Mordes u.a.,

hier: Beschwerde der Verletzten E. S.

Tenor:

Die Beschwerde der Verletzten gegen den Beschluß des Landgerichts - Jugendkammer - Stuttgart vom 13. Dezember 2000 wird als unbegründet verworfen.

Die Beschwerdeführerin trägt die Kosten ihres Rechtsmittels.

Gründe:

Der zu den Tatzeiten 16 Jahre alte Angeklagte ist am 18. Dezember 2000 - nicht rechtskräftig - wegen versuchten Mordes, sexueller Nötigung, gefährlicher Körperverletzung und anderem zu sechs Jahren Jugendstrafe verurteilt worden. Die durch diese Taten Verletzte hatte - nach Erhebung der Anklage - über ihren gewählten Beistand, Rechtsanwältin T. - zunächst ihren Anschluß als Nebenklägerin erklärt und die Zulassung der Nebenklage beantragt, diesen Antrag indes im Hinblick auf das Alter des Angeklagten zurückgenommen. Sodann hat die Verletzte am 11. Dezember 2000 beantragt, ihr Rechtsanwältin T. nach § 406 g StPO als Beistand zu bestellen, hilfsweise sie ihr nach § 68 b StPO beizuordnen. In der Hauptverhandlung hat die Jugendkammer mit Beschluß vom 13. Dezember 2000 die Bestellung der Rechtsanwältin zum Verletztenbeistand abgelehnt, weil § 406 g StPO im Verfahren gegen einen Jugendlichen nicht anwendbar sei. Zugleich hat der Vorsitzende der Kammer die Beiordnung der Rechtsanwältin als Zeugenbeistand gemäß § 68 b StPO verfügt.

Gegen den Kammerbeschluß vom 13. Dezember 2000 hat die Verletzte Beschwerde erhoben. Zu deren Begründung nimmt sie - wie schon zur Begründung des zugrunde liegenden Antrages - Bezug auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz vom 2. Mai 2000 (NJW 2000, S. 2436).

Das gemäß § 304 Abs. 1 StPO zulässige Rechtsmittel bleibt in der Sache ohne Erfolg.

Zu Recht hat es die Jugendkammer abgelehnt, der Verletzten die von ihr beauftragte Rechtsanwältin nach § 406 g StPO als Beistand zu bestellen, denn diese Vorschrift ist im Verfahren gegen Jugendliche nicht anwendbar. Der Senat folgt insoweit der im Schrifttum ganz überwiegend vertretenen Auffassung (Nilger in Löwe-Rosenberg, 25. Aufl., 11. Lieferung, Rdnr. 6 vor § 406 d; Stöckel in KMRStPO, Rdnr. 6 vor § 406 d; Kleinknecht/Meyer-Goßner, 44. Aufl., Rdnr. 5 zu § 406 g; Brunner/Dölling, JGG, 10. Aufl., Rdnr. 17 zu § 48; Ostendorf, JGG, 4. Aufl., Rdnr. 1 zu § 80; Eisenberg, JGG, 8. Aufl., Rdnr. 13 zu § 80; Schaal/Eisenberg, NStZ 1988, 49 f.; Rieß/Nilger, NStZ 1987, 145 f. (153 FN 193); Kaster, MDR 1994, 1073 f.).

Demgegenüber beruft sich die Beschwerdeführerin ausdrücklich auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz vom 2. Mai 2000 (a.a.O.), nach der § 406 g StPO ohne Einschränkung auch im Jugendverfahren gelten soll. In den Gründen seiner Entscheidung stützt sich das Oberlandesgericht Koblenz unter eingehender Zitierung von Hilger (a.a.O., Rdnr. 3 und 4, der aber im übrigen - vgl. oben - in Rdnr. 6 gleichwohl gerade die entgegengesetzte Auffassung vertritt), auf das Ziel der durch das Opferschutzgesetz vom 18. Dezember 1986 in die StPO eingeführten Bestimmungen und die dadurch für den nebenklageberechtigten Verletzten und seinen anwaltlichen Beistand eröffneten Möglichkeiten. Wenn sodann das Oberlandesgericht Koblenz vor dem Hintergrund dieser berechtigten Belange ausführt, es gebe keinen vernünftigen Grund, bei der Anwendung der Vorschrift (§ 406 g StPO) danach zu differenzieren, ob das - im dort entschiedenen Fall zehn Jahre alte - Tatopfer von einem Jugendlichen oder von einem Heranwachsenden vergewaltigt worden sei, denn "für die Schutzwürdigkeit des Tatopfers ist das Alter des Täters ohne jeden Belang", dann ist dem aus der Sicht des Opferschutzes zuzustimmen.

Im Verfahren gegen einen Jugendlichen sind demgegenüber aber auch die besonderen Ziele und Grundzüge dieses Verfahrens zu berücksichtigen. Denn nach § 2 JGG gelten die allgemeinen Vorschriften somit auch die im Zuge des Opferschutzgesetzes in die StPO aufgenommenen Bestimmungen nur soweit im JGG nichts anderes bestimmt ist bzw. soweit sie den Grundzügen des JGG nicht widersprechen (Nilger a.a.O., Rdnr. 6). Daß der Gesetzgeber diesen Vorrang des JGG aufgegeben oder sogar den Bestimmungen des Opferschutzgesetzes bei dessen Erlaß den Vorrang eingeräumt haben könnte, läßt sich weder diesem Gesetz noch den Gesetzesmaterialien, nach denen dieser Problemkreis offenbar nicht erörtert wurde, entnehmen (Kaster a.a.O., 1076; Schaal/Eisenberg a.a.O., 49).

Der grundsätzliche Vorrang der Bestimmungen und Grundsätze des JGG bedeutet, daß die Verwirklichung des Erziehungsgedankens, der das jugendgerichtliche Verfahren prägt, vor möglichen Beeinträchtigungen, sei es auch durch die Geltendmachung berechtigter eigener Interessen des Geschädigten, geschützt werden soll. So erklärt sich der ausdrückliche Ausschluß der Nebenklage und des Adhäsionsverfahrens gegen einen Jugendlichen in § 80 Abs. 3 bzw. in § 81 JGG offensichtlich aus der Erwägung des Gesetzgebers, daß der Erziehungsgedanke des JGG Vorrang vor den Interessen des Geschädigten haben soll und beispielsweise zivilrechtliche Auseinandersetzungen in der Regel diesem vorrangigen Anliegen abträglich sein werden (BGH in BGHR zu § 406 Abs. 1 StPO, Entscheidung 1).

Wegen der nach §§ 2, 80 Abs. 3 JGG unzulässigen Nebenklage gelten folgerichtig auch die mit ihr in engem Zusammenhang stehenden, häufig ihrer Vorbereitung dienenden Regelungen im Verfahren gegen einen Jugendlichen nicht (vgl. u.a. Hilger a.a.O.; Stöckel a.a.O.). Daß zu anderen Regelungen des Opferschutzgesetzes, die nicht an die Nebenklage geknüpft sind, so die Befugnisse des Verletzten, die nicht seinem Genugtuungs- oder Schadensersatzinteresse dienen, sondern seinem verstärkten Informationsbedürfnis oder seinem Schutz vor Sekundärverletzungen - etwa durch eine besonders belastende Befragung als Zeuge in der Hauptverhandlung - die erforderlichen Abwägungen zwischen den Belangen des Opferschutzes und denen des jugendlichen Straftäters zu anderen Ergebnissen führen können, versteht sich von selbst.

Hinsichtlich § 406 g StPO, um dessen Anwendbarkeit es hier allein geht, ist ein solcher enger Zusammenhang mit dem Institut der Nebenklage zu bejahen. Dafür spricht bereits der Wortlaut der Vorschrift. Denn die besonderen Befugnisse und Rechte des § 406 g StPO, die über die jedem Verletzten nach § 406 a-f und h zustehenden hinausgehen, sollen demjenigen zukommen, der "zum Anschluß als Nebenkläger befugt ist". Dies kann durchaus dahin ausgelegt werden, daß die rechtliche Zulässigkeit der Nebenklage Voraussetzung der Anwendbarkeit des § 406 g StPO ist, der somit wegen § 80 Abs. 3 JGG schon deshalb im Verfahren gegen Jugendliche nicht gilt (so Schaal/Eisenberg a.a.O., 51; Stöckel a.a.O.; Ostendorf a.a.O.; Brunner/Dölling a.a.O.).

Das Oberlandesgericht Koblenz (a.a.O., 2437 rechte Spalte) vermeidet diese Konsequenz wie folgt: Zum einen diene der Verweis in § 406 g Abs. 1 StPO auf die Befugnis zum Anschluß als Nebenkläger nach § 395 StPO allein dem Zweck, den Personenkreis, dem die Rechte aus § 406 g StPO zustehen sollen, zu umschreiben. Damit ist offenbar gemeint, daß die fragliche Formulierung nur aus Gründen einer einfachen Gesetzesfassung, jedenfalls nicht zur Kopplung der durch § 406 g StPO gewährten Rechte an die rechtliche Zulässigkeit der Nebenklage gewählt worden sei. Zum anderen seien die Stellung als Nebenkläger und die als nebenklageberechtigter Verletzter "scharf voneinander zu trennen", zumal der Letztere die Rechte aus § 406 g StPO wahrnehmen könne, ohne die Zulassung als Nebenkläger zu beantragen.

Der Senat vermag sich dieser Auffassung nicht anzuschließen. Selbst dann, wenn man - entgegen dem Wortlaut der Vorschrift - die rechtliche Zulässigkeit der Nebenklage nicht als unerläßliche Voraussetzung der Anwendbarkeit des § 406 g StPO sieht, würde das nichts daran ändern, daß die dort getroffenen Regelungen in einem engen Zusammenhang mit der Nebenklage stehen (sowohl Hilger a.a.O.; Kaster a.a.O., 1076). So verweist § 406 g StPO nicht nur hinsichtlich des Kreises der Berechtigten, sondern ebenso hinsichtlich der Bestellung eines Rechtsanwaltes, der Prozeßkostenhilfe sowie der Bestellung eines einstweiligen Verletztenbeistandes auf die für den Nebenkläger geltende Regelung (§ 406 g Abs. 3 und 4, § 397 a StPO). Zudem wird die Wahrnehmung der Rechte aus § 406 g StPO nicht selten der Vorbereitung der beabsichtigten Nebenklage dienen. Da die Anschlußerklärung als Nebenkläger gemäß § 396 Abs. 1 StPO erst mit der Anklageerhebung wirksam wird, werden hier dem als besonders schutzbedürftig anzusehenden nebenklagebefugten Verletzten bereits im Ermittlungsverfahren verstärkte Informations- und Mitwirkungsrechte - etwa die Teilnahme seines Rechtsanwaltes an richterlichen Vernehmungen des Beschuldigten oder von Zeugen (§ 406 g Abs. 2 StPO) - gewährt. Ob er sich dann tatsächlich als Nebenkläger am Verfahren beteiligt oder er sich weiterhin mit seinen verstärkten Verletztenrechten begnügt, ist ihm allerdings freigestellt. Dieser Umstand allein rechtfertigt indes nicht die vom Oberlandesgericht Koblenz auf ihn gestützte "scharfe Trennung" der Stellung des Nebenklägers von der des nebenklageberechtigten Verletzten, zumal dieser jederzeit seinen Anschluß als Nebenkläger erklären kann.

Der Senat verkennt dabei nicht, daß auch die verstärkten Mitwirkungsrechte des nebenklageberechtigten Verletzten nach § 406 g StPO deutlich hinter den Befugnissen des Nebenklägers (vor allem nach § 397 StPO) zurückbleiben. Damit sind die für das am Erziehungszweck ausgerichtete Jugendstrafverfahren zu besorgenden Beeinträchtigungen zwar geringer, jedoch nicht ausgeräumt. Der Verletzte wird, sei es als Nebenkläger oder als nur Nebenklagebefugter, neben seinem Bedürfnis nach Schutz vor weiteren Belastungen auch seine Interessen auf Genugtuung und Schadensersatz verfolgen. So hatte auch in vorliegender Sache die Beschwerdeführerin zunächst ihre Rechtsanwältin zwecks "Nebenklage und Schadensersatz" beauftragt und ihren Anschluß als Nebenklägerin erklärt. Wenn der Gesetzgeber - wie bereits ausgeführt - mit dem Ausschluß der Nebenklage und des Adhäsionsverfahrens die Verfolgung solcher persönlicher Belange des Verletzten im Verfahren gegen einen Jugendlichen zurückdrängen wollte, dann würde diese Regelung durch eine Anwendung des § 406 g StPO im Jugendgerichtsverfahren erheblich ausgehöhlt.

Die Nichtanwendung des § 406 g StPO stellt den Verletzten hinsichtlich seines verstärkten Informationsbedürfnisses, vor allem aber hinsichtlich der auf ihn in seiner Stellung als Zeuge zukommenden besonderen Belastungen nicht schutzlos. Hierzu sei nur angemerkt: Der Vorsitzende der Jugendkammer hat in dieser Sache die Beiordnung nach § 68 b StPO gewählt, um die durch das Tatgeschehen fortwirkend psychisch belastete Verletzte vor weiteren Beeinträchtigungen durch ihre Vernehmung zu bewahren. Dieser Weg wird häufig in Betracht kommen, wenn kindliche und/oder sexuell mißbrauchte Verletzte eines besonderen Schutzes bedürfen, aber - etwa aus finanziellen Gründen - keinen Beistand haben. Im übrigen wird für die Befugnisse des von dem Verletzten beauftragten anwaltlichen Beistandes § 406 f StPO, der für jeden Verletzten gilt, anzuwenden sein (zu dessen grundsätzlicher Anwendbarkeit im Jugendstrafverfahren: Brunner/Dölling a.a.O., Rdnr. 15; Hilger a.a.O.; mit Einschränkungen Schaal/Eisenberg a.a.O., S. 52; a.A. Stöckel a.a.O., Rdnr. 8).

Ende der Entscheidung

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