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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Urteil verkündet am 28.09.2006
Aktenzeichen: 7 U 111/06
Rechtsgebiete: VVG


Vorschriften:

VVG § 20 Abs. 1 S. 2
1. Maßgeblich für Kenntnis des Versicherers von einer Anzeigepflichtverletzung ist die Kenntnis desjenigen Mitarbeiters, der mit der Bearbeitung des Falles befasst ist, regelmäßig also des zuständigen Sachbearbeiters in der Leistungsabteilung, zu dessen Aufgabe die Überprüfung der Antragsangeben gehört.

2. Da der Versicherungsnehmer regelmäßig über keine Kenntnisse der Verwaltungsabläufe, insbesondere der Postverteilung, im Geschäftsbreich des Versicherers verfügt, obliegt dem Versicherer insoweit eine sekundäre Darlegungslast.


Oberlandesgericht Stuttgart 7. Zivilsenat Im Namen des Volkes Urteil

Geschäftsnummer: 7 U 111/06

Verkündet am 28. September 2006

In dem Rechtsstreit

wegen Leistung aus Lebensversicherung

hat der 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart auf die mündliche Verhandlung vom 14. September 2006 unter Mitwirkung von

Vors. Richter am Oberlandesgericht Gramlich Richter am Oberlandesgericht Taxis Richter am Landgericht Schindler

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Einzelrichters der 22. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 17. März 2006 - 22 O 408/05 - abgeändert und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 9.035,09 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10.05.2005, sowie vorgerichtliche Kosten in Höhe von 449,64 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 08.09.2005 zu zahlen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

3. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Streitwert des Berufungsverfahrens: 9.035,00 €

Gründe:

A

Die Klägerin begehrt als Bezugsberechtigte aus einer von ihrem am 19.12.2004 verstorbenen Ehemann bei der Beklagten genommenen Lebensversicherung die vereinbarte Todesfallleistung (abzüglich von der Beklagten auf den Rückkaufswert und als Beitragsrückerstattung geleisteter Zahlungen) sowie den Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten.

Die Beklagte macht geltend, wegen unrichtiger Beantwortung der Gesundheitsfragen durch den Versicherungsnehmer im Versicherungsantrag sei sie rechtzeitig und wirksam zurückgetreten, weshalb sie nicht zur Zahlung der vereinbarten Todesfallleistung verpflichtet sei. Der im Rahmen der Leistungsprüfung erbetene Bericht des Hausarztes des Versicherungsnehmers, auf dessen Inhalt die Beklagte ihren Rücktritt stützt, ist bei der zentralen Posteingangsstelle des Konzerns, dem die Beklagte angehört, am 10.02.2005, 7.42 Uhr eingegangen. Einen weiteren Eingangs- oder Kenntnisnahmevermerk des zuständigen Sachbearbeiters trägt der Arztbericht nicht. Das Schreiben, mit welchem die Beklagte den Rücktritt erklärt hat, ist der Klägerin am 11.03.2005 zugegangen.

Die Beklagte behauptet, der zuständige Sachbearbeiter in ihrer Leistungsabteilung, auf dessen Kenntnis es ankomme, habe von dem Arztbericht erst einige Tage nach Eingang in der zentralen Poststelle, jedenfalls nicht vor dem 11.02.2005, Kenntnis erlangt.

Die Klägerin bestreitet dies und ist weiter der Auffassung, dass maßgeblich ohnehin der Eingang im zentralen Posteinlauf eines Versicherungskonzerns sei. Darüber hinaus bestreitet sie die Rücktrittsberechtigung der Beklagten.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Insbesondere habe die Beklagte ihr Rücktrittsrecht rechtzeitig ausgeübt .

Dagegen wendet sich die Klägerin mit dem Rechtsmittel der Berufung unter Erweiterung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags.

Die Klägerin beantragt,

wie erkannt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen M. R.. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift vom 14.09.2006 Bezug genommen.

B

Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.

I.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist die Klage begründet. Der Klägerin steht die im Versicherungsvertrag vereinbarte Todesfallleistung zu, weil der Rücktritt der Beklagten nicht fristgerecht - innerhalb eines Monats nach Kenntniserlangung des Versicherers von der Verletzung der Anzeigepflicht (§ 20 Abs. 1 VVG) - erfolgt ist.

1.

Der am 11.03.2005 gegenüber der Klägerin erklärte Rücktritt ist verfristet. Der Senat ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu der Auffassung gelangt, dass die Beklagte Kenntnis von den nach § 20 Abs. 1 S. 2 VVG maßgeblichen Umständen bereits am 10.02.2005 erlangt hat. Für den Beginn der Frist gilt § 187 Abs. 1 BGB (Ereignis, das in den Lauf des Tages fällt), für deren Ende § 188 Abs. 2 BGB.

a) Beweisbelastet für die Kenntnis des Versicherers von der Anzeigepflichtverletzung und damit auch für den Zeitpunkt der Kenntniserlangung ist der Versicherungsnehmer (BGH VersR 1991, 179; Römer/Langheid, VVG, 2. Aufl., § 20 Rn. 7). Maßgeblich ist insoweit die Kenntnis desjenigen Mitarbeiters der Versicherung, der mit der Bearbeitung des Falles befasst ist, regelmäßig der zuständige Sachbearbeiter in der Leistungsabteilung, zu dessen Aufgaben die Überprüfung der Antragsangaben gehört (OLG Stuttgart VersR 1990, 76; OLG Köln VersR 1974, 849; Römer/Langheid a.a.O. Rn. 2).

aa) Der weitergehenden Auffassung des Oberlandesgerichts Nürnberg (VersR 1990, 1337), wonach für die Kenntniserlangung des Versicherers von der Verletzung der Anzeigepflicht bereits ausreichend sein soll, dass die entsprechende schriftliche Mitteilung in den zentralen Posteinlauf eines Versicherungskonzerns gelange, weil das Risiko und die Laufzeit der Verteilung der eingehenden Post an einzelne Fachabteilungen und Sachbearbeiter der Versicherer zu tragen habe, vermag sich der Senat nicht anzuschließen.

bb) Auf den Zeitpunkt, wann das zur Kenntniserlangung führende Schreiben erstmals in den Machtbereich des Versicherers gelangte, würde es nur dann ankommen, wenn der Zeitpunkt des Zugangs einer Willenserklärung im Sinne von § 130 BGB zu bestimmen wäre. Vorliegend geht es jedoch nicht um den Zugang einer Willenserklärung, sondern um die Erlangung einer Kenntnis. Dabei ist nicht auf den Zugang einer die Kenntnisnahme ermöglichenden Urkunde abzustellen, sondern auf die positive Kenntnis (ebenso OLG Köln VersR 1974, 849). Dazu muss die die entsprechenden Tatsachen vermittelnde Urkunde dem Sachbearbeiter vorliegen, zu dessen Aufgaben die Überprüfung der Antragsangaben gehört.

b) Da der Versicherungsnehmer regelmäßig über keine Kenntnisse der Verwaltungsabläufe, insbesondere der Postverteilung, im Geschäftbereich des Versicherers verfügt, obliegt der Beklagten insoweit eine sekundäre Darlegungslast. Die Beklagte hat dazu vorgetragen, der Konzern, dem sie angehöre, verfüge über eine zentrale Posteinlaufstelle. Die Abläufe in der Postverteilung würden dazu führen, dass dem zuständigen Sachbearbeiter eingehende Post regelmäßig erst am folgenden Tag vorliege. Eine Dokumentation des Eingangs bei der zuständigen Stelle erfolgt nach den Angaben des Zeugen R. weder durch Anbringen eines zweiten Eingangsvermerks auf dem Schriftstück noch in elektronischer Form. Auch in der bei der Beklagten angelegten elektronischen Akte werde nur der Posteingang erfasst.

c) Aufgrund der Gesamtumstände, insbesondere der Angaben des Zeugen R., die sich auch die Klägerin zu Eigen gemacht hat, ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass der die Kenntnis vermittelnde Arztbericht dem zuständigen Sachbearbeiter bereits am Tag des Eingangs vorgelegen hat. Der Zeuge R. hat angegeben, dass eingehende Post den zuständigen Abteilungen zweimal am Tag zugetragen bzw. zugefahren wird. Die zuständigen Mitarbeiter leeren im Anschluss daran ihre Postfächer. Im Vertretungsfall werde dies von einem Vertreter nach festen Vertretungsregeln übernommen. Da der relevante Arztbericht ausweislich des Eingangsstempels der zentralen Posteingangsstelle dort bereits am Morgen - um 7.42 Uhr - eingegangen ist, ist davon auszugehen, dass er mit einer der beiden Postverteilungen am selben Tag zur zuständigen Abteilung gelangte und damit auch dem zuständigen Sachbearbeiter vorlag. Der Schilderung des Zeugen R. ist nicht zu entnehmen, dass eingehende Post, wie die Beklagte behauptet, der zuständigen Stelle frühestens am Folgetag vorliegt. Irgendwelche Störungen im Ablauf der Postverteilung hat der Zeuge nicht berichtet.

2.

Da die Rücktrittserklärung der Beklagten verfristet war, kann dahinstehen, ob der Ehemann der Klägerin Anzeigepflichten bei der Beantwortung der Gesundheitsfragen im Zusammenhang mit dem Abschluss der Lebensversicherung verletzt hat.

II.

Die Zulassung der Revision ist nicht geboten. Zwar weicht der Senat bei der Beantwortung der Frage, ob für die Kenntniserlangung des Versicherers von einer Verletzung der Anzeigepflicht der Eingang einer entsprechenden schriftlichen Mitteilung im zentralen Posteinlauf eines Versicherungskonzerns genügt, von der zitierten Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 15.03.1990 ab. Wie oben dargelegt, kommt es auf die Beantwortung dieser Rechtsfrage vorliegend jedoch nicht entscheidend an.

III.

Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 91, 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Ende der Entscheidung

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