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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Urteil verkündet am 01.07.2004
Aktenzeichen: 7 U 18/04
Rechtsgebiete: VVG


Vorschriften:

VVG § 16
VVG § 17
Wenn ein Versicherungsnehmer bei Abschluss eines Lebensversicherungsvertrages mit Berufunfähigkeitsschutz gegenüber dem Versicherungsagenten auf das Vorliegen einer Erbkrankheit (hier: Kleinwüchsigkeit) hinweist, ohne diese und ihre medizinischen Auswirkungen näher bezeichnen zu können, löst dies die Nachfrageobliegenheit der Versicherung aus.
Oberlandesgericht Stuttgart

7. Zivilsenat

Im Namen des Volkes Urteil

In dem Rechtsstreit

Geschäftsnummer: 7 U 18/04

Verkündet am 01. Juli 2004

wegen Feststellung des Bestehens einer Lebensversicherung

hat der 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart auf die mündliche Verhandlung vom 17. Juni 2004 unter Mitwirkung von

Vors. Richter am Oberlandesgericht Gramlich Richter am Oberlandesgericht Taxis Richter am Oberlandesgericht Dr. Ottmann

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der Einzelrichterin der 22. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 18. Dezember 2003

abgeändert:

Es wird festgestellt, dass die bei der Beklagten bestehende Lebensversicherung xxx mit eingeschlossener Berufsunfähigkeits-Versicherung vom 1. September 2001 fortbesteht.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

3. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagten wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrages zuzüglich eines Aufschlags von 10 % abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages zuzüglich eines Aufschlages von 10 % leistet.

Streitwert in beiden Rechtszügen: 34.093,00 €

Gründe:

A

Der Kläger, von Beruf Fahrlehrer, begehrt die Feststellung, dass eine bei der Beklagten abgeschlossene Lebensversicherung mit Berufsunfähigkeitsschutz trotz der Rücktrittserklärung der Beklagten mit Schreiben vom 27. September 2002 fortbesteht.

Der Beklagte leidet seit seiner Geburt an einer erblich bedingten Stoffwechselkrankheit namens Mucopolysaccharidose, Typ Maroteaux-Lamy, die, so auch beim Kläger, zu Kleinwüchsigkeit und Skelettverformungen führt. Bei einem Verkehrsunfall im März 2001 hat der Kläger eine HWS-Distorsion erlitten, wegen der er für 2 Tage krankgeschrieben war. Nach Mitteilung des behandelnden Arztes handelte es sich um eine bloße Verstauchung ohne Folgen.

Den Versicherungsantrag stellte der Kläger unter Mitwirkung des für die Beklagte tätigen Versicherungsagenten. Bei den Gesundheitsfragen gab er ein Nasen-Rachen-Fibrom an und benannte einen Arzt mit Anschrift. Alle sonstigen Gesundheitsfragen, auch die nach gehabten Unfällen, verneinte er. Der Kläger hat behauptet, er habe die für die Beklagte tätigen Versicherungsagenten auch auf die Erbkrankheit hingewiesen, daraufhin aber die Auskunft bekommen, diese Erkrankung müsse nicht in den Antrag aufgenommen werden.

Mit Schreiben vom 3. Juli 2002 teilte der Kläger auf eine entsprechende Anfrage dem Versicherungsagenten die genaue Bezeichnung der Erbkrankheit mit. Der Versicherungsagent leitete diese Information durch Schreiben vom 8. Juli 2002 mit einer telefonisch eingeholten Auskunft des behandelnden Arztes an die Beklagte weiter. Daraufhin schrieb die Beklagte den behandelnden Arzt an und bat um nähere Informationen, woraufhin sie am 10. September 2002 einen schriftlichen Bericht erhielt.

Auf die weiteren tatsächlichen Feststellungen des landgerichtlichen Urteils wird Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme abgewiesen. Zwar stehe aufgrund der Vernehmung der Versicherungsagenten fest, dass der Kläger auf eine Erbkrankheit und die dadurch bedingte geringere Körpergröße hingewiesen hat, nicht hingegen auf dadurch bedingte Skelettverformungen und auch nicht auf die HWS-Distorsion durch den Unfall im März 2001. Damit habe der Kläger die ihn nach § 16 VVG treffenden Anzeigepflichten verletzt. Der Rücktritt der Beklagten sei deshalb berechtigt. Die Frist des § 20 Abs. 1 VVG sei eingehalten, weil der schriftliche ärztliche Bericht eine hinreichende Entscheidungsgrundlage hinsichtlich der Ausübung des Rücktrittsrechts darstelle.

Dagegen wendet sich der Kläger unter Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens mit der Berufung. Er ist weiter der Auffassung, dass er mit dem Hinweis auf die Erbkrankheit und die Kleinwüchsigkeit seiner Anzeigepflicht nachgekommen sei. Bereits die Kenntnis dieser Umstände hätte die Beklagte veranlassen müssen, weitere Informationen über die Erkrankung einzuholen, sodass sie einen Rücktritt nicht auf diese Umstände stützen könne. Bei der HWS-Distorsion handele es sich um eine nicht anzeigepflichtige Bagatellerkrankung, jedenfalls sei die Nichtangabe nicht schuldhaft erfolgt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 18. Dezember 2003 abzuändern und festzustellen, dass die bei der Beklagten bestehende Lebensversicherung xxx mit eingeschlossener Berufsunfähigkeits-Versicherung vom 1.9.2001 fortbestehe.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil. Im vorliegenden Fall sei nicht ausreichend gewesen, dass der Kläger auf seine offensichtliche Kleinwüchsigkeit hingewiesen habe; er sei gehalten gewesen, auch über die ersichtlich für den Versicherungsabschluss relevanten vorliegenden Skelettverformungen zu informieren. Da der Kläger insoweit keine weiteren Gesundheitsbeeinträchtigungen angegeben habe, habe auf Seiten der Beklagten keine Obliegenheit zur Nachfrage bestanden. Auch die HWS-Distorsion sei, gerade im Hinblick auf die bei dem Kläger vorhandene Skelettverformung, als erheblicher Gefahrenumstand zu werten und anzeigepflichtig. Das vom Kläger eingeräumte "Vergessen" sei schuldhaft.

Auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen wird Bezug genommen.

B

Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.

I.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts endete der zwischen den Parteien geschlossene Renten-Lebensversicherungsvertrag mit eingeschlossener Berufsunfähigkeits-Versicherung nicht durch den von der Beklagten mit Schreiben vom 27. September 2002 erklärten Rücktritt (§§ 16, 20 VVG).

1.

Der von der Beklagten erklärte Rücktritt scheitert allerdings nicht - wie der Kläger meint - bereits an einer Versäumung der Frist des § 20 Abs. 1 VVG. Die dort vorgesehene Monatsfrist beginnt mit der sicheren und zuverlässigen Kenntnis des Versicherers von der Anzeigepflichtverletzung des Versicherungsnehmers. Auf bloßen Verdacht hin muss der Rücktritt nicht ausgeübt werden (BGH NVersZ 2001, 69). Eine solche sichere Kenntnis liegt in der Regel erst mit Eingang der Auskunft des behandelnden Arztes vor.

Zu Recht hat das Landgericht darauf hingewiesen, dass das Schreiben des Klägers vom 3. Juli 2002 nicht geeignet war, für die Beklagte eine hinreichende Entscheidungsgrundlage herbeizuführen. In diesem Schreiben wurde lediglich die beim Kläger vorliegende Erbkrankheit bezeichnet, ohne dass Auswirkungen und das Stadium der Krankheit angegeben wurden. Gleiches gilt für das Schreiben des Zeugen xxx an die Beklagte, in welchem der Zeuge eine telefonische Auskunft durch den behandelnden Arzt wiedergibt. Als zusätzliche Information ist dort lediglich die Einschätzung des behandelnden Arztes im Hinblick auf das Berufsunfähigkeitsrisiko wiedergegeben. Bei dieser Sachlage war es der Beklagten nicht verwehrt, vor Ausübung des Rücktrittsrechts eine ausführliche ärztliche Stellungnahme einzuholen. Eine solche ist erst in dem ärztlichen Bericht vom 3.9.2002 zu sehen. Bezogen auf dieses Schreiben ist die Erklärung des Rücktritts rechtzeitig erfolgt.

2.

In Bezug auf die beim Kläger vorliegende erblich bedingte Mucopolysaccharidose, Typ Maroteaux-Lamy, ist die Beklagte ihrer Nachfrageobliegenheit nicht nachgekommen, sodass ihr nach Treu und Glauben verwehrt ist, ein Rücktrittsrecht auszuüben, weil sie eine vor Vertragsschluss gebotene Risikoprüfung unterlassen hat (vgl. Römer/Langheid, VVG, 2. Aufl., §§ 16, 17 Rn. 49; Prölss/Martin, VVG, 27. Aufl., §§ 16, 17 VVG Rn. 25, jeweils m.w.N.).

a) Das Landgericht hat durch Vernehmung der Zeugen xxx und xxx festgestellt, dass der Kläger den Zeugen, Versicherungsagenten der Beklagten, gegenüber angegeben hat, an einer Erbkrankheit zu leiden, wodurch seine geringe Körpergröße bedingt sei. Skelettverformungen, die ebenfalls Folge der Erbkrankheit sind, hat der Kläger nicht angegeben. Aus der Aussage des Zeugen xxx ergibt sich weiter, dass der Kläger die Erbkrankheit nicht bezeichnen konnte. Der Zeuge xxx hat noch angegeben, der Kläger habe auch von einer im Jahre 1985 durchgeführten, zielgerichteten Untersuchung unter Benennung des behandelnden Arztes berichtet. Weiter hat der Zeuge bekundet, dass er von einer Aufnahme dieser Untersuchung in das Antragsformular deshalb abgesehen habe, weil sie außerhalb des dort vorgesehenen Zeitraums für die Angabe von Vorerkrankungen von 10 Jahren gelegen habe.

b) Die Nachfrageobliegenheit des Versicherers entsteht nur, wenn die Angaben des Versicherungsnehmers entsprechende Erkundigungen des Versicherers nahe legen. Zu Recht weist die Beklagte darauf hin, dass es keiner ergänzenden Rückfrage des Versicherers bedarf, wenn klare Fragen ebenso klar - aber falsch - beantwortet werden (BGH VersR 1995, 901). Sinn und Zweck der Nachfrageobliegenheit ist nicht die Überprüfung der Wahrheitsliebe des Versicherungsnehmers, sondern die baldige Klärung im Hinblick auf den voraussehbar bestandskräftigen Versicherungsschutz. Weitere Aufklärung muss der Versicherer allerdings dann betreiben, wenn er ernsthafte Anhaltspunkte dafür hat, dass die bislang erteilten Auskünfte noch nicht abschließend oder nicht vollständig richtig sein können. Dabei ist die bloße Angabe eines behandelnden Arztes nicht ausreichend, den Versicherer zu einer entsprechenden Nachfrage zu veranlassen. Andererseits liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (VersR 1995, 80) ohne Ursachenaufklärung bei tatsächlich angegebenen Rückenschmerzen keine ordnungsgemäße Risikoprüfung vor, da Rückenschmerzen Anzeichen für schwerwiegende Erkrankungen sein können.

c) Vergleichbar liegt der vorliegende Fall. Der Kläger hat die bei ihm vorliegende Erbkrankheit weder als Mucopolysaccharidose benannt noch ihre Auswirkungen vollumfänglich beschrieben. Er hat sich auf einen Teil davon, die auch äußerlich sichtbare Kleinwüchsigkeit, beschränkt. Andererseits hat er auf die im Jahr 1985 durchgeführte eingehende Untersuchung der Erkrankung hingewiesen. Diese Kenntnisse, die ihre Agenten im Rahmen der Antragsaufnahme erlangt haben, sind dem Versicherer als eigene Kenntnisse zuzurechnen (sog. Auge-und-Ohr-Rechtsprechung, BGHZ 102, 194 und ständig). Danach ist der Beklagten die Kenntnis vom Vorliegen einer Erbkrankheit zuzurechnen, ohne dass ihr Versicherungsnehmer diese näher bezeichnet hat. Sie wusste weiter, dass es im Jahr 1985 eine zielgerichtete Untersuchung dieser Erbkrankheit gegeben hatte. Ohne Aufklärung des Umfangs und der Auswirkungen der Erbkrankheit ließ sich im vorliegenden Fall eine ordnungsgemäße Risikoprüfung nicht durchführen. Vor dieser Situation darf der Versicherer seine Augen nicht verschließen, weil er andernfalls als der durch Sachwissen und Geschäftserfahrung überlegene Partner dieser Stellung nicht gerecht wird (vgl. BGH VersR 1992, 603).

Der Senat geht davon aus, dass Nachfragen seitens der Beklagten erfolgt wären, wenn ihr wenigstens die ihren Versicherungsagenten bekannten und ihr zuzurechnenden Umstände zur Kenntnis gebracht worden wären. Die Nichtaufnahme in das Antragsformular ist jedoch auf das Verhalten der Agenten zurückzuführen, nachdem diese der Auffassung waren, eine Angabe sei nicht notwendig, weil die entsprechenden Untersuchungen außerhalb des 10-Jahres-Zeitraumes erfolgt seien.

e) Von einer Bagatellisierung der Erkrankung durch den Kläger, um so ohne nähere Überprüfung in den Genuss des vorliegenden Versicherungsschutzes zu gelangen, ist nicht auszugehen. Die weiteren Angaben des Klägers im Zusammenhang mit der Antragstellung, die Angaben des 1988 diagnostizierten Nasen-Rachen-Fibroms und seines risikobehafteten Hobbys, zeigen, dass er bemüht war, die Gesundheitsfragen vollständig und richtig zu beantworten.

3.

Eine Rücktrittsberechtigung der Beklagten ergibt sich auch nicht aus der unterlassenen Angabe der HWS-Distorsion, die der Kläger durch einen Unfall im März 2001 erlitten hatte.

Zwar gilt ein Umstand, nach welchem der Versicherer ausdrücklich und schriftlich gefragt hat, nach § 16 Abs. 3 S. 3 VVG im Zweifel als erheblich. Damit werden die Antragsfragen für den Versicherungsnehmer erkennbar weit gefasst. Er wird aufgefordert, Störungen und Beschwerden, unabhängig von deren Schwere oder dem Stadium, in dem sie sich befinden, anzugeben. Damit wird dem Versicherungsnehmer eine Wertung nicht abverlangt. Erfragt wird vielmehr jede Gesundheitsbeeinträchtigung, die nicht offensichtlich belanglos ist oder alsbald vergeht (BGH VersR 1994, 711).

Letzteres gilt für die unfallbedingte HWS - Distorsion auch in Anbetracht der erblich bedingten Skelettverformung. Es handelte sich um eine leichte Verletzung, die zu keinen weiteren Beschwerden führte und die nach Auskunft des behandelnden Arztes ohne Folgen abgeklungen ist. Auswirkungen auf die zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls beschwerdefreie Mucopolysaccharidose sind nicht ersichtlich. Deshalb liegen bereits die objektiven Voraussetzungen einer Verletzung der Anzeigepflicht nicht vor.

Jedensfall ist Kläger entschuldigt, weil er die nicht angezeigte unfallbedingte Verletzung subjektiv, aufgrund des folgenlosen Abklingens, für unerheblich halten durfte (vgl. BGHZ 121, 6 = LM § 16 VVG Nr. 17).

II.

Die Zulassung der Revision ist entgegen der Ansicht der Beklagten nicht geboten. Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung, die höchstrichterlich noch nicht entschieden wären, stellen sich nicht. Zur Frage der Voraussetzungen einer Nachfrageobliegenheit folgt der Senat der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.

III.

Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 91, 708 Nr. 10, 711 ZPO.



Ende der Entscheidung

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