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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Beschluss verkündet am 08.01.2009
Aktenzeichen: 8 AR 32/08
Rechtsgebiete: InsO, ZPO


Vorschriften:

InsO § 3
InsO § 4
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6 Abs. 2
ZPO § 37
ZPO § 281
1. Ein Verweisungsbeschluss gem. § 281 ZPO ist beim Vorliegen objektiver Willkür nicht verbindlich. Hierzu zählen nicht nur die Gehörsverletzung und die völlige Gesetzlosigkeit, sondern auch die Fälle, bei denen mangels Begründung nicht nachvollziehbar ist, auf welcher gesetzlichen Grundlage die Verweisung erfolgt.

2. Im Insolvenzverfahren ist dieser Begründungspflicht eine Amtsermittlungspflicht (§ 5 InsO) vorgeschaltet, welche sich auf die die Zuständigkeit begründenden Umstände erstreckt.

3. Die Verletzung dieser Ermittlungs- und Begründungspflicht führt zur fehlenden Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses und der Möglichkeit der gerichtlichen Bestimmung des zuständigen Insolvenzgerichts gem. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO.

4. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei einer "gewerbsmäßigen Unternehmensbestattung" im Hinblick auf den Normzweck der Zuständigkeitsregelung des § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO entsprechende Abwicklungstätigkeiten nicht als "selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit" zu qualifizieren sind mit der Folge, dass allein zuständiges Insolvenzgericht das Gericht am Satzungssitz ist (§ 3 Abs. 1 Satz 1 InsO).


Oberlandesgericht Stuttgart 8. Zivilsenat Beschluss

Geschäftsnummer: 8 AR 32/08

08. Januar 2009

In der Insolvenzantragssache

wegen Bestimmung des zuständigen Insolvenzgerichts

hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart unter Mitwirkung von

Vors. Richter am Oberlandesgericht Dr. Tolk Richterin am Oberlandesgericht Tschersich Richter am Oberlandesgericht Grüßhaber

beschlossen:

Tenor:

Das Amtsgericht Stuttgart wird zum zuständigen Insolvenzgericht bestimmt.

Gründe:

I.

Beim Amtsgericht - Insolvenzgericht - Stuttgart ging am 9. September 2008 ein Insolvenzantrag der Gläubigerin bezüglich der Schuldnerin ein. Diese ist derzeit noch im Handelsregister des Amtsgerichts Stuttgart (...) mit Sitz in S. eingetragen. Die Zustellung an den Geschäftsführer der persönlich haftenden Gesellschafterin (...) erfolgte am 19. September 2008 unter der Anschrift B.. Dieser teilte am 10. November 2008 telefonisch mit, dass er seinen privaten Wohnsitz sowie den Sitz der Gesellschaft bereits im Juli 2008 nach Berlin verlegt habe. Der Geschäftsbetrieb in S. sei seit diesem Zeitpunkt geschlossen. Die Abwicklung/Verwaltung erfolge nunmehr in B. - (laut Handelsregisterauszug wurde der Sitz der ... gemäß Beschluss vom 1. August 2008 nach B. verlegt). Er habe dort einen Eigenantrag gestellt. Entsprechende Unterlagen würden binnen einer Woche nachgereicht.

Weitere Ermittlungen durch das Amtsgericht Stuttgart wurden nicht durchgeführt, vielmehr auf Antrag der Gläubigerin vom 27. November 2008 am 1. Dezember 2008 die Insolvenzsache an das Amtsgericht B., verwiesen.

Mit Beschluss vom 15. Dezember 2008 erklärte sich das Amtsgericht Charlottenburg für örtlich nicht zuständig und legte das Verfahren zur Zuständigkeitsbestimmung dem Oberlandesgericht Stuttgart vor.

II.

1. Die Vorlage des Amtsgerichts Charlottenburg ist zulässig. Das Oberlandesgericht Stuttgart ist zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonfliktes zwischen dem zunächst befassten Amtsgericht Stuttgart und dem Amtsgericht Charlottenburg gemäß § 4 InsO i. V. m. §§ 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2, 37 ZPO berufen.

Die Voraussetzungen für die gerichtliche Bestimmung des zuständigen Gerichts gem. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor. Sowohl das Amtsgericht Stuttgart als auch das Amtsgericht Charlottenburg haben sich rechtskräftig für unzuständig erklärt. Letzteres hat die Akten zur Bestimmung des zuständigen Gerichts gem. § 36 Abs. 2 ZPO vorgelegt.

2. Als zuständiges Insolvenzgericht war das Amtsgericht Stuttgart zu bestimmen, weil dessen Verweisungsbeschluss entgegen § 281 Abs.2 S.4 ZPO (i. V. m. § 4 InsO) ausnahmsweise nicht bindend ist.

Der Amtsrichter hat den ihm obliegenden Ermittlungspflichten nach § 5 InsO, die sich auch auf die stets von Amts wegen zu prüfenden Voraussetzungen der Zuständigkeit beziehen, nicht im hier gebotenen Umfang entsprochen, die Schuldnerin zum Verweisungsantrag der Gläubigerin nicht angehört und außerdem seine Entscheidung über die eigene Unzuständigkeit nicht begründet.

a) Seit langem ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein - grundsätzlich bindender und unanfechtbarer - Verweisungsbeschluss nach § 281 ZPO ausnahmsweise dann nicht verbindlich ist, wenn sich die Verweisung so weit von der gesetzlichen Grundlage entfernt, dass sie im Hinblick auf das Gebot des gesetzlichen Richters und auf das Willkürverbot des Grundgesetzes nicht mehr hingenommen werden kann (so BayObLG in Beschlüssen vom 25.7.2003 -1Z AR 72/03 -, vom 13.8.2003 -1Z AR 84/03 - und vom 19.9.2003 -1Z AR 102/03 - in die Salida GmbH betreffenden Parallelfällen; BGH NJW 1993, 1273; 2004, 3201 ("ständige Rechtsprechung"); BayObLGZ 1993, 317; KGRep 2002, 296; Greger in Zöller, ZPO, 27. Aufl. 2009, § 281 Rn 17 m. w. N.). Dabei sind die Voraussetzungen für die Annahme von objektiver Willkür und damit von Unverbindlichkeit niedriger angesetzt als im Falle der Rechtswegverweisung nach § 17a GVG, weil letztere gesondert anfechtbar ist (vgl. BGH - X ARZ 138/03 - v. 8.7.2003; BGHZ 144, 21).

Als Fälle objektiver Willkür werden nicht nur diejenigen der Gehörsverletzung und der völligen Gesetzlosigkeit angesehen, sondern auch solche, in denen mangels Begründung nicht nachvollziehbar ist, auf welcher gesetzlichen Grundlage die Verweisung erfolgt ist. Dazu gehört nicht nur die formelhafte Benennung einer gesetzlichen Vorschrift, sondern auch die Ermittlung und Darlegung der Umstände, aus denen sich die Unzuständigkeit des verweisenden Gerichts ergeben soll. Soweit die Zuständigkeitsfrage in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedlich beantwortet wird, erfordert dies auch eine nachvollziehbare Auseinandersetzung, warum das Gericht der eine Verweisung befürwortenden Meinung folgt. Ist eine solche Prüfung und Begründung allerdings erfolgt, tritt die Verbindlichkeit der Verweisung ein, und zwar auch dann, wenn sie vom "angewiesenen" Gericht für unzutreffend erachtet wird.

Diese Anforderungen an die Ermittlungs- und Begründungspflicht gelten insbesondere im Insolvenzverfahren, das - im Gegensatz zum Zivilprozess - vom Amtsermittlungs-prinzip (§ 5 InsO) bestimmt ist. An die Ermittlungen der die Zuständigkeit begründenden Umstände sind vor allem dann höhere Ansprüche zu stellen, wenn Anhaltspunkte erkennbar sind, dass über die Bindungswirkung des § 281 ZPO möglicherweise ein Gerichtsstand bei einem an sich unzuständigen Gericht erreicht werden soll.

b) Das Amtsgericht Stuttgart hat diese Ermittlungs- und Begründungspflichten nicht erfüllt und zusätzlich der Schuldnerin auf den am 28. November 2008 eingegangenen Verweisungsantrag der Gläubigerin kein rechtliches Gehör gewährt, so dass hier Unverbindlichkeit der Verweisung wegen objektiver Willkür gegeben ist.

Die Verletzung der Ermittlungs- und Begründungspflicht ergibt sich dabei aus den folgenden Erwägungen:

aa) In § 3 InsO ist die örtliche Zuständigkeit unter Anlehnung an § 71 KO neu formuliert worden. Dadurch hat sich schärfer als früher die Streitfrage gestellt, ob nach Beendigung der aktiven gewerblichen Tätigkeit noch eine Zuständigkeitsveränderung nach § 3 Abs. 1 S. 2 InsO dadurch herbeigeführt werden kann, dass die verbliebenen Geschäftsunterlagen vom Sitz der Schuldnerin als allgemeinem Gerichtsstand (§ 17 ZPO) an einen Ort außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Insolvenzgerichts verbracht werden. Dabei hat sich das Zuständigkeitsproblem auf die Frage zugespitzt, ob "reine Abwicklungstätigkeit" noch als "selbständige wirtschaftliche Tätigkeit" i. S. v. § 3 Abs. 1 S.2 InsO angesehen werden kann, die eine Verlagerung der Zuständigkeit rechtfertigt.

bb) Die überwiegende Meinung hat sich auf den Rechtsstandpunkt gestellt, dass nach Einstellung der aktiven Betriebstätigkeit bzw. Eintritt der Insolvenzreife eine wirksame Verlegung des Mittelpunkts der wirtschaftlichen Tätigkeit ausgeschlossen ist mit der Folge, dass allein zuständiges Insolvenzgericht das Gericht am Satzungssitz (§ 3 Abs. 1 S.1 InsO) ist (BayObLG ZIP 1999, 1714 = NJW-RR 2000, 349; ZinsO 2001, 517; ZIP 2003, 676; OLG Düsseldorf NZI 2000, 601; OLG Köln ZIP 2000, 672; OLG Celle OLGRep 2000, 205; OLG Hamm ZinsO 1999, 533; NZI 2000, 220; OLG Braunschweig OLGRep 2000, 105; NZI 2000, 266; OLG Naumburg InVo 2000, 12; ZIP 2001, 753; OLG Zweibrücken, InVo 2002, 367).

cc) Andererseits ist die Ansicht, dass auch eine solche Abwicklungstätigkeit - ggf unter Fortführung der Geschäftsbücher - als "wirtschaftliche Tätigkeit" angesehen werden kann (vgl. BGHZ 132, 195 zum früheren Recht), zumindest als vertretbar qualifiziert worden, so dass eine Verweisung an das Insolvenzgericht am Abwicklungsort als bindend erachtet wurde (z. B. OLG Köln ZIP 2000, 672; OLG Celle OLGRep 2000, 205; anders NZI 2004, 260; OLG Frankfurt NZI 2000, 523; OLG Naumburg InVo 2000, 12 sowie die Beschlüsse des OLG Karlsruhe - 15 AR 35/03 - vom 16.10.2003, des OLG Brandenburg - 1 AR 60/03 - vom 8.8.2003 und des OLG Schleswig - 2 W 117/03 - vom 28.7.2003; anders NZI 2004,264).

dd) Vielfach sind allerdings auch die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen an das abgebende Gericht im Hinblick auf die Gewährung des rechtlichen Gehörs, auf die Begründung des Abgabebeschlusses oder den Umfang der vorher erforderlichen Ermittlungen strenger geprüft worden mit der Folge, dass - jeweils als Einzelfallentscheidung - die Verbindlichkeit der Verweisung verneint wurde (z. B. BayObLG ZinsO 2001, 517; KG NZI 1999, 499; OLG Hamm ZinsO 1999, 533; NZI 2000, 220; OLG Braunschweig OLGRep 2000, 105; OLG Rostock ZinsO 2001, 1064; OLG Naumburg ZIP 2001, 753; OLG Frankfurt ZIP 2002, 1956 sowie die Beschlüsse des BayObLG vom 25.7.2003 (1Z AR 72/03), vom 13.8.2003 (1Z AR 84/03) und vom 19.9.2003 (1Z AR 102/03), des OLG Hamm (1Sbd 71/03) vom 31.7.2003, des OLG Rostock (3 UH 10/03 und 3 UH 11/03) jeweils vom 11.8.2003 und des OLG Dresden (1 AR 69/03) vom 9.9.2003).

ee) Im Falle der "gewerbsmäßigen Unternehmensbestattung" können im Hinblick auf den Normzweck der Zuständigkeitsregelung des § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO entsprechende Abwicklungstätigkeiten nicht als "selbständige wirtschaftliche Tätigkeit" qualifiziert werden, weil sonst einer - in Rechtsprechung und Schrifttum einhellig abgelehnten - rechtsmissbräuchlichen Zuständigkeitserschleichung Vorschub geleistet würde. Der ausdrückliche Verzicht auf eine formelle Sitzverlegung darf nicht dazu führen, die zur missbräuchlichen Sitzverlegung entwickelten Kriterien zu unterlaufen (vgl. zum Ganzen: Ganter in Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, 2. Aufl. 2007, Rdnr. 38 ff; BayObLG NZI 2004, 148; Schleswig-Holsteinisches OLG NZI 2004, 264).

c) Der durch Ermittlungen näher zu prüfende Verdacht einer rechtsmissbräuchlichen Zuständigkeitserschleichung bzw. die nicht festgestellte Art der wirtschaftlichen Tätigkeit des Geschäftsführers der Verwaltungs-GmbH für die Schuldnerin in Berlin musste vom Amtsrichter vor einer Verweisung an das Amtsgericht Charlottenburg im Einzelnen abgeklärt werden. Dies wurde unterlassen und allein von der telefonischen Angabe des Geschäftsführers zur "Abwicklung/Verwaltung" in Berlin ausgegangen, was gerade nicht ausreicht, um die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO als erfüllt annehmen zu können.

Zudem fehlt jegliche Begründung des Verweisungsbeschlusses und die Auseinandersetzung mit der zuvor dargestellten Zuständigkeitsproblematik. Hinzu kommt die Gehörsverletzung auf Seiten der Schuldnerin bezüglich des Verweisungsantrags der Gläubigerin.

d) Da aus diesen Gründen der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 1. Dezember 2008 wegen objektiver Willkür keine Bindungswirkung zu entfalten vermag, war der Zuständigkeitsstreit zwischen den beiden Insolvenzgerichten dahin zu entscheiden, dass das Amtsgericht Stuttgart zum zuständigen Insolvenzgericht bestimmt wird.

Ende der Entscheidung

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