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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Zweibrücken
Beschluss verkündet am 14.12.2001
Aktenzeichen: 1 Ws 680/01
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 454 Abs. 2
StGB § 57
Im Einzelfall kann die Einholung eines Sachverständigengutachtens vor Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung entbehrlich sein, wenn bereits ein in der Hauptverhandlung erstattetes Gutachten eindeutig die fehlende Gefährlichkeit des Verurteilten ergibt, das erkennende Gericht sich dieser Beurteilung angeschlossen und der Verurteilte im Vollzug eine ausschließlich positive Entwicklung genommen hat.
Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken Beschluss

Aktenzeichen: 1 Ws 680/01

In dem Strafvollstreckungsverfahren gegen

wegen versuchten Totschlags u.a., hier: Strafaussetzung zur Bewährung nach Verbüßung der Hälfte der Freiheitsstrafe

hat der 1. Strafsenat des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Ohler, den Richter am Oberlandesgericht Ruppert und den Richter am Amtsgericht Martin

am 14. Dezember 2001

beschlossen:

Tenor:

1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Zweibrücken vom 16. November 2001 aufgehoben.

2. Die Vollstreckung der Hälfte der Gesamtsfreiheitsstrafe von sieben Jahren aus dem Urteil des Landgerichts Zweibrücken vom 15. März 1999 wird mit sofortiger Wirkung zur Bewährung ausgesetzt.

3. Die Bewährungszeit wird auf vier Jahre festgesetzt.

4. Für die Dauer der Bewährungszeit wird der Verurteilte der Aufsicht und Leitung eines amtlichen Bewähungshelfers unterstellt.

5. Der Verurteilte wird mit seiner Zustimmung angewiesen, regelmäßig an Treffen der "Anonymen Alkoholiker" oder einer vergleichbaren Organisation teilzunehmen und die Teilnahme dem Bewährungshelfer auf Anforderung nachzuweisen.

6. Der Verurteilte wird weiter angewiesen, seine Anschrift nach der Entlassung sowie jede Änderung der Anschrift während der Bewährungszeit unverzüglich der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Zweibrücken zu dem Az. 1 StVK 22/01 mitzuteilen.

7. Die Belehrung über die Strafaussetzung zur Bewährung wird der Justizvollzugsanstalt übertragen.

8. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen, die dem Verurteilten darin entstanden sind, werden der Landeskasse auferlegt.

Gründe:

Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Zweibrücken vom 15. März 1999 - Az. 4029 Js 5416/98 - wegen versuchten Totschlags und vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt, deren Hälfte am 24. November 2001 verbüßt war. Den Antrag des Verurteilten auf bedingte Entlassung hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts mit Beschluss vom 16. November 2001 abgelehnt und dies im wesentlichen mit Gesichtspunkten der Schuldschwere, der Generalprävention und damit der Verteidigung der Rechtsordnung begründet

Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde.

Das zulässige Rechtsmittel führt in der Sache zum Erfolg.

Im Gegensatz zur Strafvollstreckungskammer hält der Senat nicht nur eine dem Verurteilten günstige Prognose für gegeben, sondern bejaht auch das Vorliegen der für eine Halbstrafenentlassung gemäß § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB erforderlichen besonderen Umstände.

Besondere Umstände im Sinne dieser Vorschrift sind nicht nur solche Milderungsgründe, die wegen ihres besonderen Gewichts Ausnahmecharakter haben und dem Fall den Stempel des Außergewöhnlichen aufdrücken. Vielmehr genügen als besondere Umstände solche, die im Vergleich mit gewöhnlichen, allgemeinen oder einfachen Milderungsgründen besonderes Gewicht besitzen und eine Aussetzung der weiteren Vollstreckung trotz des erheblichen Unrechts- und Schuldgehalts der Tat, wie er auch im Strafmaß zum Ausdruck gekommen ist, als nicht unangebracht und den vom Strafrecht geschützten Interessen nicht zu widerlaufend erscheinen lassen. Dabei können Tatsachen, die einzeln für sich nur durchschnittliche Milderungsgründe darstellen, durch ihr Zusammentreffen ein solches Gewicht erlangen, dass ihnen in ihrer Gesamtheit die Bedeutung besonderer Umstände zuerkannt werden muss. In die Gesamtabwägung sind dabei auch solche Umstände einzubeziehen, die bereits bei der Strafzumessung Berücksichtigung gefunden haben. Denn § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB verlangt u.a. die Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten, also von Umständen, die bereits zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung gegeben und demgemäß nach § 46 Abs. 2 StGB bei der Festsetzung der Strafe zu berücksichtigen waren (Senat, Beschl. v. 10. 08. 98 1 Ws 387/98; OLG Koblenz, Strafverteidiger 1991, 428; OLG Bamberg, StV 1994, 252; OLG München, NStZ 1987, 74; Thüringisches Oberlandesgericht, Strafverteidiger 1998, 503).

Aus der Anwendung dieser Rechtsgrundsätze folgt, dass im vorliegenden Fall bei dem Verurteilten besondere Umstände zu bejahen sind. Der Senat verkennt dabei nicht, dass die zu berücksichtigenden Milderungsgründe - einzeln für sich genommen - kein besonderes Gewicht haben mögen. In ihrer Gesamtheit kommt ihnen jedoch die Bedeutung besonderer Umstände zu, die es ausnahmsweise rechtfertigen, bei dem Verurteilten die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung schon vor Ablauf von zwei Dritteln der Strafe anzuordnen.

Der Verurteilte war vor Begehung der Tat, die ihn in Strafhaft gebracht hat, straf- rechtlich nie in Erscheinung getreten. Er führte ein unauffälliges Leben im Kreis seiner Familie, das im wesentlichen von Arbeit geprägt war. Er hat nunmehr erstmals Freiheitsentzug erlebt, wovon er sich stark beeindruckt zeigt. Er hat sich über die gesamte Haftzeit hinweg im Strafvollzug ordnungsgemäß geführt und positiv weiter entwickelt. Durch sein Verhalten im Strafvollzug hat er gezeigt, dass er bereit ist, an der Erreichung des Vollzugsziels aktiv mitzuarbieten. Ihm gewährte Vollzugslockerungen hat er stets ohne Beanstandung bewältigt. Er befindet sich bereits seit Juli 2001 im offenen Strafvollzug und arbeitet im Rahmen eines freien Beschäftigungs- verhältnisses bei seinem vormaligen Arbeitgeber, der ihn als zuverlässigen Bauarbeiter schätzt und der ihn deshalb auch nach der Haftentlassung weiter beschäftigen wird. Der Verurteilte unterhält weiterhin soziale Kontakte zu seinen Kindern, Verwandten und Bekannten. Nach Haftentlassung wird er bei seiner ältesten Tochter, einer Tochter aus erster Ehe, Wohnung nehmen können, bis er eine eigene Wohnung gefunden haben wird.

Nach den Feststellungen des der Inhaftierung zugrundeliegenden Urteils beging der Verurteilte die Tat zum Nachteil seiner damaligen Ehefrau auf dem Hintergrund einer sich anbahnenden Ehescheidung in einer Situation, die von einer krisenhaften Zuspitzung der Trennungsauseinandersetzung und einem verstärkten Alkoholkonsum des Verurteilten geprägt war, eine Tat, zu der sich der Angeklagte nach den Angaben des Tatopfers ohne Alkoholisierung nie bereit gefunden hätte. Gerade seine Alkoholproblematik aber hat der Verurteilte im Rahmen des Strafvollzugs angegangen, indem er sich vom Beginn der Strafhaft bis zu seiner Verlegung in den offenen Vollzug freiwillig einem Kreis der "Anonymen Alkoholiker" angeschlossen hat, an deren Treffen er regelmäßig teilnahm. Hierdurch hat er von Anfang an sein ernsthaftes Bemühen gezeigt an der alsbaldigen Erreichung des Vollzugszieles mitzuwirken. Gerade dieser Umstand ist es, der dem Verurteilten in besonderer Weise positiv angerechnet werden muss.

Der Senat verkennt nicht, dass der Verurteilte erhebliche Schuld auf sich geladen hat, in dem er das Tatopfer von hinten niederstach. In diesem Zusammenhang bleibt

jedoch von entscheidender Bedeutung, dass das erkennende Gericht das versuchte Tötungsdelikt als "minderschweren Fall" bewertet und seiner Entscheidung damit eine verminderte Schuldschwere zugrundegelegt hat. Mit der Annahme eines minder- schweren Falles des Totschlags im Sinne des § 213 StGB ist zwar nicht zwingend die Annahme besonderer Umstände im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB verbunden. Die Annahme eines minderschweren Falles bildet jedoch wegen der weitgehenden Gleichheit der für die Halbstrafenaussetzung maßgeblichen Faktoren ein ganz gewichtiges Indiz für das Vorliegen besonderer Umstände im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB. Hat das erkennende Gericht die Annahme eines minderschweren Falles deshalb auf Umstände in der Tat und der Person des Täters gestützt, in dem es, wie hier, auf eine starke Alkoholisierung des Verurteilten und eine psychische Ausnahme- situation abgestellt hat, so liegt auch nach der ausgeurteilten Tat die Annahme einer Halbstrafenaussetzung nahe (vgl. Barton, JR 1991, 344 ff). Der Senat hält es deshalb auch aus Gründen der Anlasstat für angezeigt, dem Verurteilten bereits nach Verbüßung der Hälfte der erkannten Freiheitsstrafe Strafaussetzung zur Bewährung zu bewilligen, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die bedingte vorzeitige Entlassung des Beschwerdeführers anzuordnen.

Der Gesichtspunkt der Verteidigung der Rechtsordnung als Ausformung des Gedankens der Generalprävention steht der Aussetzung nach Halbstrafe nicht entgegen. Die Entlassung des Verurteilten schon nach Halbstrafe würde von der Rechtsgemeinschaft in Kenntnis der vorstehend aufgezeigten Besonderheiten des Falles als nicht unangemessen akzeptiert. Nicht zu besorgen ist daher, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts durch die vorzeitige Entlassung des Verurteilten erschüttert werden könnte.

Von der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Beurteilung der Entlassvoraussetzungen konnte der Senat hier ausnahmsweise deshalb absehen, weil die für die Prognoseentscheidung gemäß § 57 StGB heranzuziehenden Umstände die Beurteilung zulassen, dass von dem Verurteilten praktisch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit mehr ausgeht.

Zwar ist nach § 454 Abs. 2 Satz 1 StPO grundsätzlich das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen, wenn das Gericht - wie hier - die Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB bezeichneten Art gemäß § 57 StGB erwägt. Damit wollte der Gesetzgeber die Gewähr dafür schaffen, dass Verurteilte künftig vorzeitig nur dann entlassen werden, wenn ein Rückfallrisiko nach menschlichem Ermessen weitestgehend ausgeschlossen werden kann (vgl. BTDrS 13/8586 zu Art. 5 - Änderung der StPO § 454). Deshalb wird ein Absehen von der Einholung eines Gutachtens nur ausnahmsweise in solchen Fällen zulässig sein, in denen alle für eine Prognoseentscheidung gemäß § 57 Abs. 1 StGB heranzuziehenden Umstände auf hinreichender Tatsachengrundlage zweifelsfrei die Beurteilung zulassen, dass vom Verurteilten praktisch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne des § 454 Abs. 2 StPO mehr ausgeht.. Eine solche Ausnahme liegt hier angesichts der Besonderheiten des Falles vor.

In der Rückschau erweist sich die Tat des Verurteilten als Einzelfall, deren Wiederholung nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen ist. Bei der vom Angeklagten zum Nachteil seiner damaligen Ehefrau begangenen Straftat handelt es sich um ein einmaliges Ereignis i. S. einer Konflikttat, die sich nur auf dem Hintergrund der sich anbahnenden Scheidung, der vom Verurteilten nicht akzeptierten Trennung und seiner affektiven Anspannung bei hohem Alkoholisierungsgrad erklären lässt, eine Konstellation, die es so nicht mehr gibt, und deren erneute Entstehung nach Vollzug der Scheidung auch nicht zu erwarten ist. Mit dieser Beurteilung befindet sich der Senat in Übereinstimmung mit dem psychiatrischen Sachverständigen, der den Verurteilten im Anschluss an die Tat im Rahmen des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens mit dem Ergebnis begutachtet hat, dass von der Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB abgesehen werden könne, weil von dem grundsätzlich nicht gewaltbereiten Verurteilten künftig keine (der Anlasstat vergleichbaren) erheblichen rechtswidrigen Taten zu erwarten stünden, eine Einschätzung, der sich die Strafkammer angeschlossen und an deren Richtigkeit zu zweifeln der Senat nach den Gesamtumständen keine Veranlassung hat. Angesicht der weiterhin positiven Entwicklung, wie sie der Verurteilte im Strafvollzug genommen hat, erschiene die erneute Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage einer fort- bestehenden Gefährlichkeit des Verurteilten vielmehr als bloße Förmelei.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 StPO.

Ende der Entscheidung

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