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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Zweibrücken
Beschluss verkündet am 09.03.2006
Aktenzeichen: 3 W 36/06
Rechtsgebiete: AufenthG, FGG


Vorschriften:

AufenthG § 62 Abs. 2
FGG § 12
1. Zur Zulässigkeit der Anordnung von Abschiebungshaft gegen Minderjährige.

2. Ob ein Betroffener, der in Abschiebungshaft genommen werden soll, minderjährig ist, hat der Tatrichter von Amts wegen aufzuklären.


Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken Beschluss

Aktenzeichen: 3 W 36/06

In dem Verfahren

betreffend die Anordnung von Abschiebungshaft,

hat der 3. Zivilsenat des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Dury, den Richter am Oberlandesgericht Petry und die Richterin am Oberlandesgericht Stutz auf die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen vom 24. Februar 2006 gegen den seinem Verfahrensbevollmächtigten am 13. Februar 2006 zugestellten Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 9. Februar 2006

ohne mündliche Verhandlung am 9. März 2006

beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Das Verfahren wird zur erneuten Sachbehandlung und Entscheidung, auch über die etwaige Erstattung von Auslagen des Betroffenen im Verfahren der sofortigen weiteren Beschwerde, an das Landgericht Koblenz zurückverwiesen.

Gründe:

Das Rechtsmittel ist zulässig (§ 106 Abs. 2 AufenthG, § 3 Satz 2 FEVG, §§ 27, 29 FGG) und erzielt auch in der Sache einen zumindest vorläufigen Erfolg.

Die angefochtene Entscheidung des Landgerichts beruht auf einer Verletzung des Rechts (§ 27 Abs. 1 FGG, § 546 ZPO), weil die Zivilkammer der sie treffenden Pflicht zur umfassenden Sachaufklärung von Amts wegen (§ 12 FGG) nicht in jeder Hinsicht genügt hat.

1. a) Allerdings bestehen keine rechtlichen Bedenken dagegen, dass das Landgericht bei dem Betroffenen die Voraussetzungen des Haftgrundes nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG als erfüllt angesehen hat. Der Betroffene hat bei seiner Anhörung vor dem Amtsgericht am 16. Januar 2006 selbst eingeräumt, dass er seit dem 1. Oktober 2005 untergetaucht war. Aus diesem Verhalten des Betroffenen, der zudem seine Herkunft verschleiert, durften die Tatrichter ohne Rechtsfehler den Verdacht schöpfen, dass er sich der Abschiebung entziehen will. Auch die weitere Beschwerde hat dagegen nichts zu erinnern.

b) Ob daneben - wie die Vorinstanzen meinen - auch der Haftgrund des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vorliegt, bedürfte weiterer Aufklärung. Voraussetzung hierfür wäre, dass der Betroffene über seine Verpflichtung, den Ausländerbehörden Mitteilung von einem Verlassen der ihm zugewiesenen Unterkunft zu machen, belehrt worden ist (OLG München, Beschluss vom 09.11.2005 - 34 Wx 148/05 -; Melchior, Internetkommentar zur Abschiebungshaft, zu § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG m.w.N.). Hierzu haben die Tatrichter bislang keine Feststellungen getroffen.

2. Nicht ausreichend aufgeklärt ist hingegen, ob nach den konkreten Umständen des vorliegenden Falles eine mögliche Minderjährigkeit des Betroffenen - diese bestimmt sich nach dem BGB (§ 80 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) - der Anordnung von Sicherungshaft nach § 62 Abs. 2 AufenthG entgegensteht.

a) Allerdings schließt die Minderjährigkeit eines abzuschiebenden Ausländers nicht generell die Anordnung von Haft aus (BayObLGZ 2000, 203; OLG München OLGR München 2005, 393). Jedoch sind erhöhte Anforderungen an die Beachtung des Beschleunigungsgebots und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu stellen. Minderjährige sind besonders schutzbedürftig. Sie werden durch den Vollzug der Haftanordnung typischerweise erheblich betroffen und können dadurch dauerhafte psychische Schäden davontragen. Die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs wird es deshalb regelmäßig erfordern, dass die Ausländerbehörde prüft, ob mildere Mittel als Haft zur Sicherung der zwangsweisen Ausreise in Betracht kommen, z.B. die Unterbringung in einer Jugendeinrichtung. Das Fehlen einer derartigen Möglichkeit muss die Ausländerbehörde im jeweiligen Einzelfall nachvollziehbar darlegen (OLG München, OLGR München 2005, 393, 394 m.w.N.).

b) Nach dem Inhalt der Akten des Abschiebungshaftverfahrens steht indes keineswegs fest, dass der Betroffene derzeit noch, wie von ihm behauptet, 17 Jahre alt ist. Für den Betroffenen liegen keine Identitätspapiere vor. Nach Aktenlage beruhen die Feststellungen der Tatrichter zu seinem angeblichen Alter allein auf seinen eigenen ungeprüften Angaben, nämlich dem von ihm genannten Geburtsdatum 22. April 1988.

Ob ein Betroffener, der in Abschiebungshaft genommen werden soll, tatsächlich minderjährig ist und deshalb erhöhte Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der Haftanordnung zu stellen sind, haben die Tatgerichte jedoch von Amts wegen nach § 12 FGG aufzuklären (OLG München, OLGR München 2005 aaO).

Die entsprechende Nachprüfung wird das Landgericht nunmehr nachzuholen haben. Dafür kommt neben der Gewinnung eines unmittelbaren Eindrucks von dem Betroffenen im Rahmen der grundsätzlich auch im zweiten Rechtszug gebotenen persönlichen Anhörung (§ 5 Abs. 1 Satz 1 FEVG und Umkehrschluss aus § 7 Abs. 5 FEVG) auch die Einholung von sachverständigem Rat in Betracht (z.B. Überprüfung des Lebensalters durch Röntgen des Handwurzelknochens oder Untersuchung der Gebissentwicklung, vgl. etwa Eisenberg JGG 11. Aufl. 2006 § 1 Rdnr. 11 m.w.N.).

c) Sollte das Landgericht danach erneut zu dem Ergebnis gelangen, der Betroffene sei tatsächlich noch minderjährig, wird die antragstellende Behörde darzulegen haben, warum für sie - auch mit Amtshilfe des zuständigen Jugendamts - keine Möglichkeit besteht, als milderes Mittel gegenüber der Abschiebungshaft den Betroffenen z.B. in einem Jugendheim - ggfs. auch außerhalb von Rheinland-Pfalz - unterzubringen (vgl. OLG München OLGR München 2005, 393, 394; Renner, Ausländerrecht 8. Aufl. § 62 AufenthG Rdnr. 11, jeweils m.w.N.).

d) Im weiteren Fortgang des Verfahrens wird die Zivilkammer schließlich auch Gelegenheit haben, die bislang unterbliebene Prüfung nachzuholen, ob das nach § 72 Abs. 4 AufenthG erforderliche Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft zu der Abschiebung des Betroffenen vorliegt; denn ausweislich des Haftantrages vom 16. Januar 2006 wurde seitens der Polizei anlässlich der vorläufigen Festnahme des Betroffenen (§ 127 StPO) gegen diesen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das AufenthG eingeleitet (§ 163 Abs. 1 StPO).

3. Der vorsorglichen Bestellung eines Ergänzungspflegers für den möglicherweise minderjährigen Betroffenen gemäß § 1909 Abs. 1 Satz 1 BGB bedurfte es nicht, weil er anwaltlich vertreten ist (BayObLGR 1997, 79).

Falls die Kammer auf Grund der weiteren Ermittlungen zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass die Anordnung der Abschiebungshaft nicht zulässig ist, wird sie auch über eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Betroffenen zu befinden haben (§ 16 Satz 1 FEVG).

Ende der Entscheidung

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