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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Zweibrücken
Urteil verkündet am 16.01.2007
Aktenzeichen: 5 U 48/06
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 253 Abs. 2
BGB § 278
BGB § 280 Abs. 1 Satz 1
BGB § 280 Abs. 1 Satz 2
BGB § 823 Abs. 1
Die Verabreichung eines Klysmas (Klistiers, Darmeinlaufs) unterliegt grundsätzlich dem Bereich des voll beherrschbaren Behandlungsgeschehens. Bei einer dabei erfolgten Verletzung der Darmwand ist deshalb nicht der Patient gehalten, einen Behandlungsfehler nachweisen. Wegen Umkehr der Beweislast obliegt es vielmehr der Behandlungsseite, sich zu entlasten. Anderes gilt dann, wenn der Patient infolge einer Prädisposition einen Risikofaktor in das Behandlungsgeschehen einbringt, der den Gefahrenbereich für den Arzt oder das Pflegepersonal nicht mehr uneingeschränkt beherrschbar macht.
Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken IM NAMEN DES VOLKES Urteil

Aktenzeichen: 5 U 48/06

Verkündet am: 16.01.2007

In dem Rechtsstreit

wegen Schmerzensgeldes,

hat der 5. Zivilsenat des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Hoffmann sowie die Richter am Oberlandesgericht Geisert und Kratz auf die mündliche Verhandlung vom 28. November 2006

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Grundurteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Kaiserslautern vom 7. Juni 2006 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagten tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Berufungsverfahrens.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Eine Vollstreckung des Klägers wegen der Kosten des Berufungsverfahrens können die Beklagten gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor Sicherheit in gleicher Höhe geleistet wird.

IV. Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I.

Der heute 77 J alte Kläger beansprucht von den Beklagten Schmerzensgeld wegen einer Darmverletzung bei einer Einlaufbehandlung.

Der Beklagte zu 2), Krankenpfleger in dem von der Beklagten zu 1) betriebenen Klinikum ..., verabreichte dem Kläger am 28. August 2003, 2 Tage nach einer Bypassoperation, einen Darmeinlauf (Klysma). Eine Aufklärung über besondere Risiken der Behandlung erfolgte nicht.

Wegen plötzlich auftretender Bauchschmerzen und danach festgestellten Kontrastmittelaustritts aus dem Enddarm wurde der Kläger notfallmäßig laparotomiert. Wegen einer Rektumperforation erfolgte eine Hartmann-Stumpf-Operation mit Anlage eines Sigmastomas (künstlicher Darmausgang).

Nach Entlassung aus der stationären Krankenhausbehandlung am 10. September 2003 nahm der Kläger an einer Rehabilitationsmaßnahme (15.9. bis 17.10.2003) teil. Am 2. Februar 2004 erfolgte die operative Rückverlegung des künstlichen Darmausganges.

Der Kläger hat behauptet, der Beklagte zu 2) habe bei Einführung des Klysmas den Darm behandlungsfehlerhaft dreifach durchstoßen. Er habe über die Risiken der Einlaufbehandlung aufgeklärt werden müssen und diese dann abgelehnt. Die Verabreichung des Klysmas sei nicht indiziert gewesen. Er leide bis heute unter Stuhlinkontinenz und sei depressiv. Er erachte ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 60.000,00 € für angemessen.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld nebst fünf Prozentpunkten über den Basiszinssatz hieraus seit dem 29.11.2003 zu zahlen.

Die Beklagten sind dem entgegengetreten.

Sie haben einen Behandlungsfehler des Beklagten zu 2) bestritten. Eine Aufklärung über Risiken sei nicht erforderlich gewesen.

Die Zivilkammer hat den Kläger (in teilweise anderer Besetzung) angehört sowie Zeugen- und Sachverständigenbeweis erhoben. In dem angefochtenen Urteil hat sie den Klageanspruch als dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.

Die Verursachung einer Darmperforation durch ein Klysma bei einem darmgesunden Menschen könne nach dem Ergebnis der eingeholten Sachverständigengutachten nur auf einer fehlerhaften Anwendung beruhen. Andere Ursachen, die nicht auf eine behandlungsfehlerhafte Anwendung durch den Beklagten zu 2) schließen lassen müssten, seien hier nicht gegeben.

Zur Begründung ihrer Berufung gegen dieses Urteil tragen die Beklagten nun vor:

Das Urteil des Landgerichts beruhe auf einem Zirkelschluss, da ein Behandlungsfehler angenommen worden sei, weil eine instrumentelle Darmperforation sich als ein solcher darstelle. Es sei jedoch unzulässig, vom Eintritt einer Komplikation auf das Vorliegen eines Behandlungsfehlers zu schließen.

Entgegen der Auffassung des Grundurteils hätten die Beklagten nicht zugestanden, dass mit dem Klistier das gesunde Rektum des Klägers durchstoßen worden sei. Die Klageerwiderung sei dazu lediglich unglücklich formuliert. Aus dem gesamten weiteren Vorbringen sei zu schließen, dass ein Durchstoßen eines gesunden Darms von den Beklagten nicht zugestanden werde.

Nach dem für das Landgericht erstatteten Sachverständigengutachten erfordere das Durchstoßen der Darmwand mit einem Klistier eine erhebliche Kraftanstrengung des Anwenders und führe zu erheblichen Schmerzreaktionen. Beides habe das Landgericht nicht festgestellt.

Die Kammer habe unter Verletzung des Gebotes des fairen Verfahrens lediglich den Kläger, nicht aber den Beklagten zu 2) persönlich angehört.

Das Gutachten des Sachverständigenprofessor Dr. Wa... sei letztlich auch deshalb nicht brauchbar, weil dem Sachverständigen die Krankenunterlagen für den Kläger nicht vorgelegen hätten. Daraus hätte sich auch ergeben, dass der Kläger nicht "darmgesund" gewesen sei. Dagegen und gegen ein Durchstoßen eines gesunden Darms sprächen neben fehlender Kraftanwendung und Schmerzreaktionen die Lokalisation und Art der Perforation, wie sie sich nach den vorliegenden Berichten des Radiologen und des Operateurs ergäben, dass bei der Notoperation keine Resektion des Rektums und auch sonst keine Versorgung einer angeblichen Durchstoßungswunde vorgenommen werden musste und die gemäß dem Operationsbericht nach Eröffnung des Beckenbodens ausgetretene Flüssigkeit steril gewesen sei. Die Annahme und Schlussfolgerungen des erstinstanzlichen Sachverständigen seien daher falsch. Das Landgericht habe verfahrensfehlerhaft dem wiederholten Antrag der Beklagten auf Einholung eines viszeralchirurgischen Gutachtens nicht entsprochen.

Lediglich vorsorglich werde darauf hingewiesen, dass die Verabreichung eines Klysmas eine vorherige Risikoaufklärung nicht erfordere.

Die Beklagten beantragen,

das Grundurteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das Urteil erster Instanz und rügt das Vorbringen in der Berufungsbegründung als verspätet.

Der Senat hat den Kläger und den Beklagten zu 2) persönlich angehört; insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift vom 28. November 2006 (Blatt 258 folg. der Akten) Bezug genommen.

Ergänzend wird auf das Urteil erster Instanz sowie die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.

Das Landgericht hat eine vertragliche Haftung der Beklagten zu 1 nach §§ 253 Abs. 2, 280 Abs. 1 Satz 1, 278 BGB und eine deliktische Haftung des Beklagten zu 2) nach §§ 253 Abs. 2, 823 Abs. 1 BGB dem Grunde nach zu Recht angenommen.

Es kann dahingestellt bleiben, ob das Verfahren erster Instanz deshalb zu beanstanden wäre, weil die Kammer lediglich den Kläger, nicht aber den Beklagten zu 2) persönlich angehört und hierdurch den Grundsatz fairen Verfahrens verletzt hat. Denn der Senat hat eine persönliche Anhörung des Beklagten zu 2) nachgeholt und den Kläger nochmals ergänzend angehört.

Das Landgericht hat auf der Grundlage der eingeholten schriftlichen Sachverständigengutachten des Professor Dr. Wa..., einem Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie und internistische Intensivmedizin, und deren mündlicher Erläuterung in rechtlich nicht zu beanstandender Weise einen Behandlungsfehler des Beklagten zu 2) bejaht.

Danach sind Klysmen in Apotheken und Drogerien frei käuflich und auch von Laien anwendbar. In den Gebrauchsinformationen werde lediglich davor gewarnt, die Verabreichung bei Auftreten von lokalem Widerstand fortzusetzen. Dies entspreche ärztlicher und pflegerischer Erfahrung, nach der Komplikationen nahezu nicht vorkommen und Statistiken hierüber in der Literatur nicht geführt werden. Ausnahmsweise können anatomische Verhältnisse, wie etwa ein extremer ventraler Rektumprolabs, oder lokale Entzündungen eine Verletzung der Darmwand begünstigen. Die Verabreichung eines Klysmas ist im Hinblick auf das Verletzungsrisiko dagegen nicht einem Kontrastmitteleinlauf mit Einführen eines Darmrohres oder mit einer endoskopischen Untersuchung oder Behandlung des Darmes vergleichbar.

Diese Ausführungen des Sachverständigen sind auch für den Senat nachvollziehbar und überzeugend. Die von den Beklagten angeführten Entscheidungen des OLG Hamm (AHRS 0930/17) und des OLG Köln (AHRS 2260/18), wonach wegen der bestehenden Risiken Kontrastmitteleinläufe regelmäßig medizinischen Hilfskräften nicht überlassen werden dürfen, sind daher für die hier zu treffende Entscheidung ohne Bedeutung. Vielmehr ist die Verwendung eines Klysmas einem Bereich zuzuordnen, der von der Behandlungsseite voll beherrscht werden kann und muss. In einem solchen Bereich muss nicht der Patient einen Behandlungsfehler nachweisen, sondern der Krankenhausträger muss sich in Umkehr der Beweislast analog § 282 BGB alter Fassung (entspricht §§ 275, 280 Abs. 1 Satz 2 BGB) entlasten (BGH VersR 1984, 386; VersR 1991, 467; VersR 1995, 539). Für den nur deliktisch haftenden Beklagten zu 2) kann nichts anderes gelten. Dieser Grundsatz gilt ausnahmsweise dann nicht, wenn der Patient infolge einer Prädisposition einen Risikofaktor in ein Behandlungsgeschehen einbringt, der den betreffenden Gefahrenbereich vom Arzt oder dem Pflegepersonal nicht mehr uneingeschränkt beherrschbar macht. Liegt eine solche mit vertretbarem Aufwand nicht vorab aufdeckbare Anomalie vor, ist für eine Beweislastumkehr kein Raum. Dass ein entsprechender Ausnahmefall gegeben ist, hat die Behandlungsseite zu beweisen (BGH VersR 1995, 539).

Die Beklagten berufen sich ohne Erfolg darauf, beim Kläger sei ein solcher Ausnahmefall gegeben, da er nicht »darmgesund« gewesen sei. Hierzu fehlt es an konkreten Behauptungen der Beklagten. Entgegen der Berufungsbegründung sprechen die dort aufgeführten Indizien auch nicht dafür, dass der Kläger an einer Darmerkrankung gelitten hat, die für die aufgetretene Darmperforation mitursächlich geworden sein könnte.

Die Lokalisation und Art der Perforation im mittleren Rektum an der ventralen Seite sind nach dem schriftlichen Ergänzungsgutachten des erstinstanzlichen Sachverständigen vom 24. Januar 2006, Seite 4 (= Blatt 131 der Akten), gerade kein Anhaltspunkt für eine anatomische Besonderheit beim Kläger, da sich die Verletzung der Darmwand dort fand, wo sie bei unsachgemäßer Anwendung des Klysmas zu erwarten war. Auch der Operationsbericht vom 28. August 2003 (Blatt 160 der Akten) enthält keine Anhaltspunkte für eine Anomalie oder entzündliche Veränderungen der Darmwand. Dies geht zu Lasten der Beklagten, die für eine andere in Betracht kommende Ursache darlegungs- und beweispflichtig sind. Deshalb wirkt es sich zu ihrem Nachteil aus, dass der Operationsbericht keine weiteren Feststellungen zu Aussehen und Art der festgestellten Perforation des Rektums enthält. Kein Indiz zu Gunsten der Beklagten ist es, dass der Abstrich der bei Eröffnung des Beckenbodens entleerten Flüssigkeit keimfrei war. Dies mag mit dem Kontrastmittelaustritt im Rahmen der radiologischen Untersuchung zu erklären sein, mit welcher die Rektumsperforation diagnostiziert wurde. Ein Anhalt, dass und in welcher Weise der Kläger an einer Vorerkrankung gelitten haben sollte, ergibt sich hieraus nicht.

Die Beklagten legen in der Berufungsbegründung auch nicht näher dar, welche Erkenntnisse über eine Vorerkrankung oder sonstige Beeinträchtigung der Darmgesundheit aus den Krankenakten entnommen werden könnten. Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, weshalb der Sachverständige in erster Instanz bei Vorlage der Krankenunterlagen zu anderen Schlussfolgerungen gekommen wäre. Dem Sachverständigen lagen die Krankenunterlagen nur für das erste schriftliche Gutachten nicht vor. Mit dem Auftrag für das Ergänzungsgutachten wurden ihm die von den Beklagten mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2005 eingereichten Krankenunterlagen übersandt (Blatt 127 Rückseite der Akten). Auch im Rahmen der mündlichen Erläuterung in der Sitzung der 4. Zivilkammer des Landgerichts am 3. Mai 2006 konnte der Sachverständige andere in Betracht kommende Ursachen der Darmverletzung nicht nennen.

Die Parteianhörung durch den Senat hat keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür ergeben, dass den Beklagten der Entlastungsbeweis durch eine Parteivernehmung gelingen könnte. Sowohl der Kläger selbst als auch der Beklagte zu 2) konnten sich an die Verabreichung des Klysmas nur mit Einschränkungen erinnern. Der Beklagte zu 2) meinte jedenfalls deshalb besondere Komplikationen ausschließen zu können, weil ihm Besonderheiten nicht erinnerlich seien. Außerdem hat der Kläger, wenn auch erstmals im Rahmen seiner Anhörung im Berufungsverfahren, erklärt, beim Einführen des Klysmas Schmerzen empfunden und hierüber auch geklagt zu haben.

Ein weiteres Sachverständigengutachten, insbesondere aus dem Fachgebiet der Viszeralchirurgie, war weder in erster noch in zweiter Instanz einzuholen. Die - unterschiedlichen - Risiken bei Kathetermaßnahmen am Enddarm sind durch die Gutachten des Prof. Dr. Wa... geklärt. Es ist nicht ersichtlich, weshalb einem Viszeralchirurgen für die Risikobeurteilung eine höhere Fachkunde zukommen sollte.

Das Landgericht hat zu Recht eine gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten für einen Schmerzensgeldanspruch des Klägers bejaht. Da die Parteien weiterhin über bleibende Folgen der Darmverletzung, insbesondere eine fortbestehende Inkontinenz des Klägers streiten und für die Entscheidung dieser Frage die Einholung eines weiteren medizinischen Gutachtens erforderlich ist, ist der Rechtsstreit nicht für eine Entscheidung auch über die Höhe des Anspruchs reif.

Die Beklagten haben als Gesamtschuldner die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 26. Aufl., § 304 Rdnr. 26 mit weiteren Nachweisen).

Das Urteil ist gem. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO vorläufig vollstreckbar.

Der Senat hat gem. § 543 Abs. 2 ZPO die Revision zugelassen, weil der Frage, ob die Rechtsprechung zum voll beherrschbaren Behandlungsgeschehen vorliegend Anwendung findet, grundsätzliche Bedeutung zukommt.

Beschluss

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 60.000,00 € - entsprechend der Streitwertfestsetzung für die erste Instanz - festgesetzt, § 3 ZPO.

Ende der Entscheidung

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