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Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 22.07.2008
Aktenzeichen: 1 B 266/08
Rechtsgebiete: BremVwVfG, AufenthG, ARB 1/80, RL 04/38, FreizügG/EU, VwGO
Vorschriften:
BremVwVfG § 39 Abs. 2 Satz 3 | |
AufenthG § 55 | |
ARB 1/80 Art. 14 | |
RL 04/38 Art. 28 Abs. 3 | |
FreizügG/EU § 6 Abs. 5 Satz 3 | |
VwGO § 80 Abs. 5 |
Die Frage, ob sich auch türkische Staatsangehörige, die nach dem Assoziationsratsbeschluss 1/80 (ARB 1/80) aufenthaltsberechtigt sind, auf den erhöhten Ausweisungsschutz berufen können, den Art. 28 RL 2004/38/EG für Unionsbürger vorsieht, bedarf höchstrichterlicher Klärung. Gegenwärtig ist deshalb offen, ob die Ausweisung eines solchen türkischen Staatsangehörigen, der zu einer Freiheitsstrafe von weniger als fünf Jahren verurteilt worden ist, Bestand haben wird. Das ist bei der Abwägung, die nach § 80 Abs. 5 VwGO im Rahmen eines gegen die sofortige Vollziehung der Ausweisung gerichteten Eilverfahrens zu seinen Gunsten zu berücksichtigen.
Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss
OVG: 1 B 266/08
In der Verwaltungsrechtssache
hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Prof. Alexy und Göbel sowie die Richterin Feldhusen am 22.07.2008 beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen - 4. Kammer - vom 05.05.2008 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 3.750,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
Die Beschwerde ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ausweisungs- und Abschiebungsverfügung der Antragsgegnerin vom 26.04.2007 im Ergebnis zu Recht teilweise wiederhergestellt. Zwar hält die Begründung der Entscheidung einer Überprüfung anhand der Gründe, auf die die Antragsgegnerin ihre Beschwerde stützt, nicht stand (I.); das Ergebnis des angefochtenen Beschlusses erweist sich jedoch insoweit aus anderen Gründen als zutreffend (II.).
I.
Der Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Antragsgegnerin habe keine Ermessensentscheidung über die Ausweisung des Antragstellers getroffen, kann nicht gefolgt werden.
Ob die Behörde eine Ermessensentscheidung getroffen hat, ergibt sich in erster Linie aus der Begründung des Verwaltungsakts.
Die Begründung von Ermessensentscheidungen soll nach § 39 Abs. 1 Satz 3 BremVwVfG die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Es ist darzustellen, dass und wie die wesentlichen Gesichtspunkte, die für und gegen die getroffene Entscheidung sprechen, gegeneinander abgewogen worden sind. Zu diesem Zweck muss sich die Behörde mit den konkreten in Rede stehenden Rechtspositionen und den widerstreitenden Interessen auseinandersetzen und die Gründe darlegen, die dazu geführt haben, dass bestimmten Gesichtspunkten der Vorrang vor anderen eingeräumt worden ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Antragsgegnerin hat insbesondere alle persönlichen Belange des Antragstellers gewürdigt, die gegen die Ausweisung sprechen, und dargelegt, warum sie den spezialpräventiven Gründen, die für die Ausweisung sprechen, mehr Gewicht einräumt. Das verkennt auch das Verwaltungsgericht nicht.
Nach seiner Auffassung erfolgen die entsprechenden Erörterungen aber nur im Rahmen der Frage, ob die Ausweisung verhältnismäßig und mit Art. 8 EMRK vereinbar ist, also im Rahmen einer bloßen Rechtmäßigkeitsprüfung; diese könne aber eine Ermessensentscheidung nicht ersetzen.
Richtig daran ist, dass die Abwägung der widerstreitenden Belange nicht ausreicht, wenn sie lediglich erfolgt, um Hindernisse auszuräumen, die der Ausweisung aus Rechtsgründen zwingend entgegenstehen. Die Erwägungen der Behörde müssen auch erkennen lassen, dass die Behörde sich bewusst war, dass ihr - nach Überwindung dieser Hindernisse - noch ein Ermessenspielraum zukommt und dass sie davon Gebrauch gemacht hat (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl. 2008, Rn 26 zu § 39). Es reicht deshalb nicht aus, dass bei der Entscheidung über Rechtsfragen Gesichtspunkte erörtert worden sind, die auch als Ermessensgesichtspunkte zu berücksichtigen gewesen wären (Dienelt, in: GK-AufenthG, Rn 1375 vor §§ 53ff). Es muss sichtbar werden, dass es sich bei den angestellten Erwägungen nicht nur um Rechtserwägungen, sondern (auch) um Ermessenserwägungen handelt (BVerwG, Urt. v. 19.11.1996 - 1 C 25.94 - NVwZ-RR 1997, 565 <567>).
Das ist hier noch der Fall. Zwar werden die persönlichen Belange des Antragstellers im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abgehandelt und nicht noch einmal unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten wiederholt. Die Behörde lässt aber gleichwohl noch hinreichend deutlich erkennen, dass sie eine Ermessensentscheidung treffen will und ihre Abwägung nicht nur aus Rechtsgründen, sondern auch zur Begründung ihrer Zweckmäßigkeitsentscheidung erfolgt. Bereits zu Beginn ihrer Prüfung benennt sie als Rechtsgrundlage ihrer Entscheidung die Vorschrift über die Ermessensausweisung (§ 55 Abs. 1 AufenthG). Am Ende ihrer Prüfung erörtert sie noch einmal gesondert die nach § 55 Abs. 3 AufenthG - also im Rahmen der Ermessensentscheidung über die Ausweisung - zu berücksichtigenden Gesichtspunkte. Dadurch unterscheidet sich der Bescheid der Antragsgegnerin von dem, der der zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde lag. Anders als dort spricht deshalb nichts für die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Behörde könne den ihr zustehenden Spielraum verkannt haben, den besonderen Umständen des konkreten Einzelfalls hinreichend Rechnung zu tragen.
II.
An der angeordneten aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist aber gleichwohl festzuhalten.
Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung ist, wie auch die Antragsgegnerin einräumt, aus anderen Gründen zweifelhaft.
Nach Auffassung des Hessischen VGH (Beschl.v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06 - , Inf-AuslR 2006, 393f.; Beschl. v. 04.12.2006 - 12 TG 2190/06 - InfAuslR 2007, 98) und des OVG Rheinland-Pfalz (Urt. v. 05.12.2006 - 7 A 10924/06 - , NVwZ-RR 2007, 488 <489ff.>) können sich auch türkische Staatsangehörige, die nach dem Assoziationsratsbeschluss 1/80 (ARB 1/80) aufenthaltsberechtigt sind, auf den erhöhten Ausweisungsschutz berufen, den Art. 28 RL 2004/38/EG für Unionsbürger vorsieht. Das OVG Nordrhein-Westfalen (Beschl. v. 15.05.2007 - 18 B 2389/06 - <juris> Leitsatz in DVBl 2007, 852), der Bayerische VGH (Urt. v. 08.01.2008 - 10 B 07.304 - <juris> - und Urt. v. 20.03.2008 - 10 BV 07.1856 <www.landesanwaltschaft.bayern.de/entschei-dungen.htm>) und das Niedersächsische OVG (Urt. v. 27.03.2008 - 11 LB 26/08 - DVBl 2008, 929 - nicht rechtskräftig) sind dem entgegen getreten. Der EuGH hat zwar bereits mehrmals ausgeführt, dass die Grundzüge der Freizügigkeit der Unionsbürger "so weit wie möglich" auf türkische Staatsangehörige mit Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 anzuwenden seien (vgl. z. B. Urt. v. 11.11.2004, C-467/02 - Cetinkaya -, NVwZ 2005, 198 <200>, Rn 42), bisher aber - mangels Entscheidungserheblichkeit - offen gelassen, ob das auch den erhöhten Ausweisungsschutz für Unionsbürger nach Art 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG einschließe (Beschluss vom 04.10.2007, C-349/06 - Polat -, NVwZ 2008, 59 <60>, Rn 27). Diese Rechtsfrage bedarf, wenn es auf sie ankommt, der grundsätzlichen Klärung; sie kann nicht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abschließend beantwortet werden. Einstweilen muss deshalb davon ausgegangen werden, dass die Ausweisung des Antragstellers rechtswidrig sein könnte, wenn sie den Anforderungen des Art. 28 RL 2004/38/EG nicht genügt.
Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG lässt bei Unionsbürgern, die in den letzten zehn Jahren im Aufnahmestaat gewohnt haben, eine Ausweisung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit zu. Nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU, der die Richtlinie umsetzen und konkretisieren soll, können solche zwingenden Gründe nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden oder bei der letzten Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Die Ausweisung wäre daher, wenn sie an den Maßstäben für Unionsbürger zu messen wäre, rechtswidrig.
Zu Recht sieht deshalb auch die Antragsgegnerin den Ausgang des Rechtsmittelverfahrens in der Hauptsache als offen an. Daraus folgt, dass das private Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ausweisung und Abschiebung überwiegt. Die Auffassung der Beschwerde, angesichts der beim Antragsteller zutage getretenen Gewaltneigung sei "das Risiko untragbar, die öffentliche Sicherheit der vom Antragsteller ausgehenden Gefahr auszusetzen", verkennt die Maßstäbe, die zu der in § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU getroffenen Regelung geführt haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 2 GKG.
Ende der Entscheidung
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