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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Urteil verkündet am 31.10.2002
Aktenzeichen: 12 A 2567/02
Rechtsgebiete: SchbG 1986, SGB IX


Vorschriften:

SchbG 1986 § 5
SchbG 1986 § 11
SchbG 1986 § 13
SGB IX § 71
SGB IX § 77
SGB IX § 80
Zur Zusammenfassung der auf zahlreiche Filialbetriebe (hier: Friseursalons) verteilten Arbeitsplätze im Direktionsbereich einer Dienstleistungs-GmbH bei der Berechnung der Pflichtquote für die Beschäftigung schwerbehinderter Menschen.
Tatbestand:

Der Beklagte fasste die auf zahlreiche Filialbetriebe (hier: Friseursalons) verteilten Arbeitsplätze der L. GmbH - der Rechtsvorgängerin der Klägerin - bei der Berechnung der Zahl der Pflichtplätze für Schwerbehinderte zusammen und bestimmte entsprechend die zu zahlende Ausgleichsabgabe. Die Klägerin war der Auffassung, diese Zusammenfassung sei unzulässig; nur für Filialbetriebe der Gesellschaft, die über mindestens 16 Arbeitsplätze verfügten, seien Ausgleichsabgaben zu zahlen. Das VG wies die Klage unter Zulassung der Berufung ab. Die Berufung hatte keinen Erfolg.

Gründe:

... Die Streitfrage ist dahingehend zu beantworten, dass die L. GmbH Arbeitgeberin im Sinne des § 5 Abs. 1 SchwbG 1986 war und deshalb die Zusammenfassung durch den Beklagten keinen Bedenken begegnet.

1. Der Senat hat von der Verfassungsmäßigkeit des § 5 Abs. 1 und des § 11 Abs. 2 Satz 1 SchwbG 1986 auszugehen.

a) Er ist insoweit nach § 31 Abs. 1 BVerfGG an die Entscheidung des BVerfG vom 26.5.1981 - 1 BvL 56, 57, 58/78 -, BVerfGE 57, 139 ff., gebunden. Dem steht nicht entgegen, dass in diesem Urteil die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz nur für die früher geltenden §§ 4 Abs. 1 und 8 Abs. 1 Satz 1 SchwbG 1974, soweit sie private Arbeitgeber betreffen, festgestellt worden ist. Denn der Streitgegenstand der verfassungsgerichtlichen Entscheidung ist mit dem hier für eine Vorlage an das BVerfG in Rede stehenden identisch. Die §§ 5 Abs. 1 und 11 Abs. 1 Satz 1 SchwbG 1986 weisen zu den überprüften §§ 4 Abs. 1 und 8 Abs. 1 Satz 1 SchwbG 1974 keine inhaltlichen Veränderungen auf. Sie hatten den selben Wortlaut, der auch seiner Bedeutung nach keiner Veränderung unterlegen war. In Bezug auf die streitentscheidenden Normen war eine bloße Änderung der Paragraphenfolge eingetreten, durch die die zu prüfende Norm keine andere als diejenige wurde, deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz das BVerfG bereits festgestellt hatte.

Zu den Anforderungen an einen identischen Streitgegenstand vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 25.21976 - 1 BvL 26/73, 1 BvR 326/73 -, BVerfGE 41, 360 (369), vom 18.10.1983 - 2 BvL 14/83 -, BVerfGE 65, 179 (181), und vom 12.6.1990 - 1 BvL 72/86 -, BVerfGE 82, 198 (205), sowie Urteil vom 27.5.1992 - 2 BvF 1, 2/88, 1/89 und 1/90 -, BVerfGE 86, 148 (211).

b) Grundsätzlich ist ein Antrag an das BVerfG auf erneute Prüfung einer für verfassungsmäßig erklärten Norm unzulässig. Die Zweitvorlage ist aber dann nicht ausgeschlossen, wenn tatsächliche oder rechtliche Veränderungen eingetreten sind, die die Grundlage der früheren Entscheidung berühren und deren Überprüfung nahelegen.

Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 3.7.1985 - 1 BvL 13/83 -, BVerfGE 70, 242 (249 f.), und vom 16.11.1992 - 1 BvL 31/88 und 10, 11/92 -, BVerfGE 87, 341(346); Klein, in Benda/ Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rdnrn. 1332 bis 1335 m.w.N.

Anhaltspunkte für solche Veränderungen (einschließlich eines grundlegenden Wandels der allgemeinen Rechtsauffassung) sind indes weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Insbesondere ist eine Vorlage nicht schon mit der Begründung zulässig, das BVerfG habe in seiner Entscheidung einen bestimmten verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt nicht ausdrücklich erörtert.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3.6.1969 - 1 BvL 1/63, 1/64 und 10/66 -, BVerfGE 26, 44 (56); Nds. OVG, Beschluss vom 20.12.2001 - 12 A 3524/01 -.

Abgesehen hiervor ist eine (Zweit-)Vorlage nicht etwa aus sachlich-rechtlichen Gründen deswegen veranlasst, weil es - wie die Klägerin meint - an einem nachvollziehbaren Grund fehlte, Arbeitgeber mit weniger als 16 Arbeitsplätzen von der Pflicht, Schwerbehinderte zu beschäftigen, freizustellen. Vielmehr trägt gerade die gesetzliche Regelung, Kleinarbeitgeber nicht im Übermaß mit Beschäftigungs- und Ausgleichsabgabenpflichten zu belasten, zur Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz bei. Zutreffend hat die Klägerin in diesem Zusammenhang auf das Urteil des BVerfG zu § 128 AFG a.F. vom 4.4.1989 - 1 BvL 44/86 und 48/87 -, BVerfGE 81, 156 ff., hingewiesen. Da es sich indes bei der L. GmbH auf Grund der zwingend vorzunehmenden Zusammenfassung aller Arbeitsplätze nicht um einen Kleinarbeitgeber handelte, kommt es nicht darauf an, ob erst die im heute geltenden Recht (vgl. § 77 SGB IX) vorgenommene gestufte Herabsetzung der Höhe der Ausgleichsabgabe der von Verfassungs wegen gebotenen Differenzierung genügte.

2. Der Senat ist nicht nach europarechtlichen Vorschriften an der Anwendung der §§ 5 Abs. 1 und 11 Abs. 2 Satz 1 SchwbG 1986 gehindert. Die zutreffende Auffassung des VG, die Befreiung der Arbeitgeber mit weniger als 16 Arbeitsplätzen von der Beschäftigungs- und Abgabepflicht verstoße nicht gegen das Beihilfeverbot des Art. 92 Abs. 1 EGV bzw. Art. 87 EG, hat die Klägerin nicht angegriffen. Der Senat bewertet die Befreiung schon nicht als (indirekte) Beihilfe. Sie erweist sich vielmehr als Konkretisierung des gesetzgeberischen Willens, für Kleinarbeitgeber einen besonderen rechtlichen Rahmen zu erstellen und zu verhindern, dass diesen finanzielle Lasten auferlegt werden, die ihre Entwicklung behindern können.

In diesem Sinne zur Befreiung von Kleinbetrieben von einer nationalen Kündigungsschutzregelung für Arbeitnehmer EuGH, Urteil vom 30.11.1993 - C-189/91 -, juris; zur Ausnahme der Kleinarbeitgeber von der Beschäftigungspflicht vgl. Cramer, Schwerbehindertengesetz, 4. Aufl. 1992, § 5 Rdnr. 7.

Dieser Wille steht im Übrigen im Einklang mit dem im EG-Vertrag verankerten Gedanken, bei allgemeinen staatlichen Maßnahmen im Bereich der Sozialpolitik insbesondere auch kleine Unternehmen zu schützen (etwa Art. 118 EGV, Art. 137 EG).

Vgl. Mederer/Wenig, in v.d.Groeben/ Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Band 2/II, 5. Aufl. 1999, Art. 92 Rdnr. 52, Bär-Bouyssière, in Schwarze, EU-Kommentar, 1. Aufl. 2000, Art. 87 EG Rdnr. 47, Rebhahn, in Schwarze, EU-Kommentar, a.a.O., Art. 137 EG Rdnr. 40.

3. Die Anwendung der sonach unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt durchgreifenden Bedenken unterliegenden §§ 5 Abs. 1 und 11 Abs. 1, 2 SchwbG 1986 führt hier zur Zusammenfassung der in den einzelnen Betrieben vorhandenen Arbeitsplätze.

Der Senat verneint allerdings die Bindungswirkung des oben genannten Urteils des BVerfG, soweit es um die Frage geht, wer Arbeitgeber im Sinne der §§ 4, 8 SchwbG 1974 bzw. 5, 11 SchwbG 1986 ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG nehmen außer der Entscheidungsformel auch die tragenden Gründe seiner jeweiligen Entscheidung an der Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG teil.

Vgl. BVerfG, Urteil vom 31.1.1989 - 1 BvL 17/87 -, BVerfGE 79, 256 (264).

Aus diesen sind die Ausführungen herauszunehmen, die nur die Auslegung einfacher Gesetze zum Gegenstand haben, es sei denn, es handelte sich um eine verfassungskonforme Auslegung.

Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 10.6.1975 - 2 BvR 1018/74 -, BVerfGE 40, 88 (94), vom 30.6.1976 - 2 BvR 284/76 -, BVerfGE 42, 258 (260) und vom 6.5.1986 - 1 BvR 677/84 -, BVerfGE 72, 119 (121); Klein, in Benda/Klein, a.a.O., Rdnr. 1323 ff. m.w.N.

Das BVerfG konnte in der Entscheidung zum Schwerbehindertengesetz 1974 nicht zu mehreren Möglichkeiten der Bestimmung des Arbeitgeberbegriffs gelangen, aus denen es die verfassungskonforme Auslegung hätte auswählen müssen. Das Urteil verhält sich nämlich nicht zum Begriff des Arbeitgebers.

A.A. Nds. OVG, Beschluss vom 20.12.2001 - 12 A 3524/01 -.

a) Mit der Aufgabe des Trennungsprinzips seit Inkrafttreten des Schwerbehindertengesetzes 1974 kommt es nach der Rechtsprechung des BVerwG - vgl. die Urteile vom 6.7.1989 - 5 C 64/84 -, ZfSH/SGB 1989, S. 650 ff., und vom 20.10.1987 - 5 C 42.86 -, Buchholz 436.61 § 7 SchwbG Nr. 1, jeweils m.w.N. - auf die Summe der Arbeitsplätze im Direktionsbereich ein und desselben Arbeitgebers an, unabhängig davon, ob die Arbeitsplätze über mehrere Betriebe verteilt sind oder nicht. Dem entspricht insbesondere die Begrifflichkeit in § 13 Abs. 1 SchwbG 1986. Dort wurde - wie nunmehr auch in § 80 Abs. 1 SGB IX - ausdrücklich zwischen Arbeitgeber und Betrieb unterschieden. Da nicht auf Art und Ort der Beschäftigung abzustellen, sondern ausschlaggebend die Tatsache der Beschäftigung ist, kann grundsätzlich allein das (Vertrags-)Arbeitsverhältnis von Bedeutung sein.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 13.12.2001 - 5 C 26/01 -, BVerwGE 115, 312 ff.; OVG NRW, Urteil vom 19.9.2000 - 22 A 3820/98 -.

Danach war hier die Gesellschaft Arbeitgeber im Sinne des Gesetzes.

b) Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob in Ausnahmefällen besonderer Unternehmensorganisationen diese an die juristisch formale Arbeitgeberstellung anknüpfende Auslegung zu nicht verfassungskonformen Ergebnissen führte und deshalb zur Vermeidung verfassungswidriger Anwendung des Gesetzes ein sog. "funktionaler" Arbeitgeberbegriff zu Grunde zu legen wäre.

Zum "funktionalen Arbeitgeberbegriff" vgl. Großmann, in Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, Stand 9/2002, § 71 Rdnrn. 70 ff,. m.w.N.

Das könnte allenfalls dann zu erwägen sein, wenn die Einbindung einzelner rechtlich unselbständiger Betriebe in ein Unternehmen ausschließlich formaler Art wäre. Die L. GmbH hatte keine Unternehmensorganisation, die die Annahme eines solchen Ausnahmefalles rechtfertigte.

Entgegen der Einschätzung der Klägerin waren die Einzelbetriebe wirtschaftlich nicht völlig verselbständigt. Das ergibt sich - ungeachtet der Frage, ob im streitbefangenen Jahr bereits ein Regionalleiter vorhanden war - jedenfalls schon deshalb, weil jeweils ca. 20 Einzelbetriebe von einem Bereichsleiter betreut wurden. Aus der von der Klägerin eingereichten Übersicht der Aufgabenstellung und des Umfangs der Bereichsleitertätigkeit lässt sich die Verzahnung der Einzelbetriebe ohne Weiteres erkennen: So gehört(e) etwa die Einsatzplanung und Kontrolle des Personals, die Sicherstellung der Qualität der Mitarbeiter und ggf. sogar der Personalaustausch in Randgebieten bzw. die Unterstützung der Salon-Leiter bei der Suche nach neuem Personal zu den Hauptaufgaben des Bereichsleiters. Ferner hat(te) er das Erscheinungsbild der einzelnen Salons zu überprüfen, im Rahmen der Teilnahme und der Überwachung von Neueröffnungen insbesondere die Einweisung der Salon-Leiter vorzunehmen. Aber auch die Grobplanung der Zielvorgaben für die eigenen Salons und die Überwachung der genehmigten Zielvorgaben bis hin zur Einleitung von Maßnahmen bei Gefährdung der Zielvorgaben gehör(t)en zu seinen Aufgaben.

Da bereits aus den vorstehenden Erwägungen kein die Zusammenfassung der Arbeitsplätze in den einzelnen Betrieben fraglich erscheinen lassender Ausnahmefall vorliegt, treten lediglich ergänzend - wiewohl selbständig einen Ausnahmefall ausschließend - die Feststellungen zum Gegenstand der L. GmbH hinzu. Dieser bestand nämlich nicht nur in dem Betrieb von Frisörgeschäften, sondern ging mit deren Verwaltung sowie der Vermietung und Verpachtung von Geschäftslokalen aller Art, der Produktion und dem Handel mit Körper- und Haarpflegemitteln aller Art auf natürlicher oder chemischer Basis im Groß- und Einzelhandel und schließlich der Berechtigung zum Abschluss von Kooperations- und Know-How-Verträgen sowie der Zulässigkeit von Beteiligungen an Unternehmen ähnlicher Art und der Errichtung von Zweigniederlassungen im In- und Ausland deutlich über einen Unternehmensgegenstand hinaus, der die Einzelbetrachtung in Bezug auf die Zahl der Arbeitsplätze wegen der Vergleichbarkeit mit kleinen Frisörgeschäften hätte nahe legen können.

Ende der Entscheidung

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