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Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss verkündet am 06.11.2003
Aktenzeichen: 4 A 511/02
Rechtsgebiete: GewO, HwO
Vorschriften:
GewO § 42 Abs. 2 | |
GewO § 55 Abs. 1 Nr. 1 | |
HwO § 16 Abs. 3 Satz 1 |
Tatbestand:
Der Kläger, der gelernter Zimmerer ist, besitzt eine Reisegewerbekarte für Zimmererarbeiten. Nachdem er zwei komplette Dachstühle erstellt hatte, für die er die Hölzer von einem Sägewerk bezogen und dort auch abgelängt hatte, untersagte ihm der Beklagte die weitere Ausübung des Zimmererhandwerks mit der Begründung, die ausgeübten Tätigkeiten stellten sich als stehendes Gewerbe dar, welches er ohne Eintragung in die Handwerksrolle nicht ausüben dürfe. Kennzeichnend für das Reisegewerbe sei die sofortige Leistungsbereitschaft. Vollhandwerkliche Auftragsarbeiten, die erst zu einem späteren Zeitpunkt ausgeführt werden sollten, seien nur im Rahmen der Handwerksordnung, nicht aber als Reisegewerbe zulässig.
Widerspruch und Klage blieben erfolglos; auf die Berufung wurde die Untersagungsverfügung aufgehoben.
Gründe:
Die auf § 16 Abs. 3 HwO gestützte Untersagungsverfügung des Beklagten und der Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung sind rechtswidrig. Die dem Kläger untersagte Tätigkeit fällt nicht unter § 1 Abs. 1 Satz 1 HwO; sie ist als Reisegewerbe nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 GewO erlaubt.
Nach § 16 Abs. 3 Satz 1 HwO kann die Fortsetzung des selbständigen Betriebs eines Handwerks als stehendes Gewerbe (§ 1 Abs. 1 Satz 1 HwO) untersagt werden, wenn dieser entgegen den Vorschriften der Handwerksordnung ausgeübt wird. Der Kläger hat sein Handwerk jedoch nicht als stehendes Gewerbe, sondern als Reisegewerbe betrieben.
Nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 GewO betreibt ein Reisegewerbe, wer gewerbsmäßig ohne vorhergehende Bestellung außerhalb seiner gewerblichen Niederlassung oder ohne eine solche zu haben selbständig oder unselbständig in eigener Person Waren feilbietet oder Bestellungen aufsucht (vertreibt) oder ankauft, Leistungen anbietet oder Bestellungen auf Leistungen aufsucht.
Die Tätigkeiten des Klägers, die zum Erlass der Untersagungsverfügung geführt haben, sind rechtlich als Aufsuchen von Bestellungen auf Leistungen einzuordnen. Denn er ist von sich aus an die Eheleute T. bzw. P. herangetreten, also ohne von diesen bestellt worden zu sein, und hat - im Ergebnis mit Erfolg - versucht, von ihnen einen Auftrag über die Ausführung von Zimmererarbeiten zu erhalten. Letzteres ist durch die schriftlichen Äußerungen der Eheleute T. und. P. nachgewiesen.
Die früher in der Rechtsprechung und Kommentarliteratur vertretene Auffassung, vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urteil vom 12.9.1995 - 14 S 1215/95 -, GewArch 1995, 475, und - im Anschluss an dieses Urteil - OVG NRW, Beschluss vom 10.8.1998 - 4 B 1225/98 -, GewArch 1999, 32 (m. N. aus der Kommentarliteratur), eine nicht sofortige, sondern in Absprache mit dem Kunden auf einen späteren Zeitpunkt verlegte Ausführung handwerklicher Leistungen werde von dem Tatbestandsmerkmal des Aufsuchens von Bestellungen auf Leistungen nicht umfasst, kann nach der Rechtsprechung des BVerfG, Beschluss vom 27.9.2000 - 1 BvR 2176/98 -, NVwZ 2001, 189 = GewArch 2000, 480, der sich der Senat anschließt, nicht mehr aufrecht erhalten werden. Danach ist eine dahingehende Auslegung von § 55 Abs. 1 Nr. 1 GewO, dass beim "Aufsuchen von Bestellungen auf Leistungen" die Bereitschaft zur sofortigen Leistungserbringung gefordert wird, mit Art. 12 Abs. 1 GG nicht vereinbar; vielmehr setze dieser Tatbestand gerade voraus, dass die Erfüllung erst in einem gewissen zeitlichen Abstand erfolge; dem Schutzzweck des § 55 GewO, die Verbraucher vor unlauteren Geschäftsmethoden zu schützen, werde nicht nur genügt, wenn der Reisegewerbetreibende in der Lage sei, die gewerblichen Leistungen sofort auszuführen, sondern auch dann, wenn er sie erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung erbringe.
Entgegen der von dem Beklagten vertretenen Auffassung ist im Reisegewerbe die Ausführung vollhandwerklicher Leistungen ohne großen Befähigungsnachweis zulässig.
Ebenso Honig, HwO, 2. Aufl., § 1 HwO Rn. 20; Schönleiter, in: Landmann/Rohmer, GewO, Stand: Juli 2002, § 55 Rn. 84 und § 56 Rn. 97; Aberle, Die deutsche Handwerksordnung, 315, § 1 Rn. 4; Steib, GewArch 2001, 57.
Deshalb ist es rechtlich unerheblich, ob die dem Kläger im Reisegewerbe untersagten Tätigkeiten - wie der Beklagte meint - dem "Vollhandwerk" zuzuordnen seien, weil sie den Kernbereich des Zimmererhandwerks beträfen. Soweit der Beklagte den genannten Beschluss des BVerfG dahingehend interpretiert, dass dieses ein "Regel-Ausnahme-Verhältnis" konstatiere, also Tätigkeiten im Reisegewerbe, die dem Vollhandwerk unterfallen, keinesfalls die Regel sein solle, vermag der Senat dem nicht zu folgen. In dem Beschluss wird lediglich ausgeführt, dass es in der Praxis beim Reisegewerbe tendenziell um Minderhandwerk gehe. Im Anschluss daran stellt das BVerfG jedoch fest: "Letztlich ist aber nicht ausgeschlossen, dass im Reisegewerbe auch einmal die volle Kunstfertigkeit eingesetzt wird". Mit anderen Worten: Im Rahmen des Reisegewerbes ist auch die Ausführung vollhandwerklicher Tätigkeiten ohne großen Befähigungsnachweis zulässig. Abgesehen davon bleibt nach den Ausführungen des Beklagten offen, welche rechtlichen Folgerungen er aus dem von ihm gesehenen "Regel-Ausnahme-Verhältnis" ziehen will. Entgegen dem rechtlichen Ansatz des Beklagten können die Vorschriften der Handwerksordnung, "um der Gefahr einer Umgehung zu begegnen", nicht in § 55 GewO "hineingelesen" werden. Der Regelungsgehalt dieser Vorschrift ist unabhängig von § 1 Abs. 1 HwO allein nach ihrem Wortlaut und unter Berücksichtigung von Art. 12 Abs. 1 GG festzustellen. Der Auffassung des VG, § 55 GewO sei eng zu verstehen und biete keine Grundlage für die Ausübung wesentlicher, vollhandwerklicher Tätigkeiten, kann deshalb nicht gefolgt werden. Vielmehr ist nach dem genannten Beschluss des BVerfG bei Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Ausübung eines Handwerks im Reisegewerbe die Ausstrahlungswirkung der Berufsfreiheit zu beachten.
Entgegen der Ansicht des Beklagten unterfällt die untersagte Tätigkeit auch nicht wegen der Inanspruchnahme der Betriebsstätte eines Sägewerksbesitzers, in der der Kläger die zu verarbeitenden Hölzer zuvor eingekauft und abgelängt hatte, dem stehenden Gewerbe.
Entscheidend für die Abgrenzung, ob ein Handwerk als stehendes Gewerbe betrieben oder aber im Rahmen des Reisegewerbes ausgeübt wird, ist das Zustandekommen des Auftrags über die Handwerksleistung. Geht die Initiative zum Erbringen der Leistung vom Handwerker aus - sofern der Gewerbetreibende eine gewerbliche Niederlassung besitzt gilt das nur im Rahmen seiner "Außentätigkeit" -, kommt er also, wie im Falle des Klägers, auf potenzielle Kunden zu ("ohne vorhergehende Bestellung"), liegt Reisegewerbe vor. Beim stehenden Gewerbe geht hingegen die Initiative vom Kunden aus, der seinerseits um ein Angebot nachsucht.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.9.2000, a.a.O.; Honig, a.a.O., § 1 HwO Rn. 22.
Für die Zuordnung einer Tätigkeit zum Reisegewerbe ist das Vorhandensein einer gewerblichen Niederlassung unerheblich. § 55 Abs. 1 GewO verweist hinsichtlich der gewerblichen Niederlassung auf § 42 Abs. 2 GewO und stellt klar, dass ein Reisegewerbe vorliegt, wenn zwar eine eigene gewerbliche Niederlassung vorhanden ist, die genannten Tätigkeiten aber außerhalb dieser (oder ohne eine solche zu haben) ohne vorhergehende Bestellung erfolgen. Deshalb kann ein selbständiger Gewerbetreibender, der eine gewerbliche Niederlassung besitzt, hinsichtlich seiner Außentätigkeit unter das Reisegewerbe fallen.
Vgl. Stober, in: Friauf, GewO, Stand August 1996, § 55 Rn. 7.
Es kann schließlich dahinstehen, ob ein Reisegewerbe nicht ausgeübt wird, wenn außerhalb der eigenen gewerblichen Niederlassung eine Bestellung auf handwerkliche Leistungen aufgesucht wird und die Erfüllung des Vertrages, also die Ausführung der geschuldeten Handwerksleistung, anschließend in der gewerblichen Niederlassung erfolgt.
Vgl. dazu Landmann/Rohmer, a.a.O., § 55 Rn. 51.
Denn der Kläger besaß keine gewerbliche Niederlassung im Sinne des § 42 Abs. 2 GewO. Danach liegt eine gewerbliche Niederlassung nur dann vor, wenn der Gewerbetreibende einen zum dauernden Gebrauch eingerichteten, ständig oder in regelmäßiger Wiederkehr von ihm benutzten Raum für den Betrieb seines Gewerbes besitzt. Dass diese Voraussetzungen im Hinblick auf das Sägewerk für den Kläger nicht vorliegen, bedarf keiner weiteren Ausführung. Der Kläger hat dieses auch nicht, wie der Beklagte meint, wie eine eigene Betriebsstätte genutzt, um auf diese Weise die Anforderungen nach § 1 Abs. 1 HwO für ein stehendes Gewerbe zu umgehen. Denn kennzeichnend für eine gewerbliche Niederlassung ist, dass sie zum dauernden Gebrauch eingerichtet ist, also den Mittelpunkt des geschäftlichen Lebens des Gewerbetreibenden bildet.
Vgl. Landmann/Rohmer, a.a.O., § 42 Rn. 5, 6, § 55 Rn. 43, 44.
Das Sägewerk war nicht der geschäftliche Mittelpunkt des Klägers. Wenn man hier überhaupt von einem solchen sprechen kann, so kann er nur in den jeweiligen Baustellen gesehen werden. Hier hat er Bestellungen auf Leistungen aufgesucht und - letztlich - seine Leistungen auch erbracht. Schließlich besitzt der Kläger auch mit seiner Wohnung, in der er die Rechnungen geschrieben hat, keine gewerbliche Niederlassung. Insoweit handelt es sich nur um eine unwesentliche Tätigkeit, die nicht den Schwerpunkt des gewerblichen Handelns des Klägers darstellt.
Vgl. in diesem Zusammenhang Landmann/Rohmer, a.a.O, § 55 Rn. 44.
Die vom Beklagten mit Blick auf die Benutzung des Sägewerks aufgezeigten Bedenken an der Bereitschaft und Fähigkeit zur sofortigen Leistung teilt der Senat nicht. In dem Sägewerk hat der Kläger lediglich die für das Anfertigen des Dachstuhls erforderlichen Hölzer eingekauft und - auch zur Erleichterung des Transports - auf die erforderliche Länge gekürzt. Gemessen an der von ihm geschuldeten Leistung liegt deshalb nur eine untergeordnete Vorbereitungshandlung vor. An Stelle des Klägers hätte auch der Kunde die Hölzer beschaffen und dem Kläger zur Verfügung stellen können. Die grundsätzliche Bereitschaft und Fähigkeit zur Sofortleistung des Gewerbetreibenden, vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 27.9.2000 - 1 BvR 2176/98 -, a.a.O., wird dadurch nicht in Frage gestellt.
Ende der Entscheidung
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