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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Urteil verkündet am 26.10.1995
Aktenzeichen: 3 L 157/94
Rechtsgebiete: BSHG


Vorschriften:

BSHG § 2
BSHG § 27 Abs. 1 Nr. 6
BSHG § 28
BSHG § 43
BSHG §§ 76 ff
BSHG § 81 Abs. 1
BSHG § 84
BSHG § 85
BSHG § 85 Nr. 3
BSHG § 91 n. F.
BSHG § 91 Abs. 2 Satz 2 n. F.
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERVERWALTUNGSGERICHT DES LANDES SACHSEN-ANHALT URTEIL

Aktenz.: 3 L 157/94

Datum: 26.10.1995

Gründe:

Der am 23. Juni 1962 geborene Kläger ist geistig und körperlich wesentlich behindert. Er ist ledig und lebt in einer neben der Wohnung der Eltern gelegenen eigenen Wohnung in Zielitz. Seit dem 1. Januar 1992 erhält der Kläger Hilfe in besonderen Lebenslagen in Form der Eingliederungshilfe für Behinderte durch teilstationäre Betreuung in der Werkstatt für Behinderte in Wolmirstedt (§ 27 Abs. 1 Nr. 6 BSHG). Die Kosten der teilstationären Betreuung betragen 45,80 DM täglich und schließen eine warme Mahlzeit ein. Der Kläger bezieht eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von 1.075,44 DM monatlich. Daneben erhält er für seine Tätigkeit in der Werkstatt für Behinderte einen Arbeitslohn von 75,00 DM monatlich (Stand 1993).

Mit Änderungsbescheid vom 11. Mai 1993 setzte der Landkreis Wolmirstedt namens des beklagten Landesamts (überörtlicher Träger der Sozialhilfe) mit Wirkung vom 1. Juni 1993 eine Eigenleistung des Klägers in Höhe von 20 v. H. des maßgeblichen Regelsatzes fest, da der Kläger durch die Einnahme einer warmen Mahlzeit in der Werkstatt für Behinderte häusliche Aufwendungen erspare. Der Kläger legte Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. November 1993 mit der Maßgabe zurückwies, daß die Eigenleistung sich bei Abwesenheit des Klägers anteilig ermäßige und vierteljährlich zurückgezahlt werde. Mit einem weiteren Änderungsbescheid vom 10. August 1993 setzte der Landkreis Wolmirstedt den Kostenbeitrag in Anpassung an den geänderten Regelsatz auf 100,00 DM monatlich fest. Über den Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid ist noch nicht entschieden.

Am 27. Dezember 1993 hat der Kläger Klage erhoben. Er hat vorgetragen, der Beklagte erhebe den Kostenbeitrag zu Unrecht. Durch die Einnahme einer warmen Mahlzeit in der Werkstatt für Behinderte trete für ihn keine häusliche Ersparnis ein. Ihm entständen keine Aufwendungen für die Zubereitung von Mahlzeiten, da er von seinen Eltern kostenlos verpflegt werde.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid des Landkreises Wolmirstedt vom 11. Mai 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. November 1993 aufzuheben.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat vorgetragen, gem. § 85 Nr. 3 BSHG könne ein Kostenbeitrag in Höhe der häuslichen Ersparnis von Hilfebedürftigen gefordert werden, deren Einkommen unter der Einkommensgrenze liege. Bei dem Kläger trete auch eine häusliche Ersparnis ein. Es sei davon auszugehen, daß er aus seiner Rente ein Kostgeld entrichte. Ein Anlaß, aus Ermessensgründen von der Erhebung des Kostenbeitrags abzusehen, sei bei Berücksichtigung des Rundschreibens Nr. 5/1993 des überörtlichen Träger der Sozialhilfe nicht gegeben. Die höchstrichterliche Rechtsprechung stehe der Heranziehung des Klägers zu einem Kostenbeitrag nicht entgegen. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. März 1992 - 5 C 20/87 - (Buchholz 436.0 § 35 BSHG Nr. 10 = FEVS 43, Nr. 2), in dem eine Kostenbeitragspflicht des Hilfebedürftigen verneint worden sei, betreffe einen anderen Sachverhalt.

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 29. Juli 1994 den Bescheid vom 11. Mai 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. November 1993 aufgehoben und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger erspare durch die Einnahme des Mittagessens in der Werkstatt für Behinderte keine Aufwendungen. Für ein häusliches Mittagessen entständen ihm keine Kosten, denn er brauche für die Verpflegung bei den Eltern kein Kostgeld entrichten. Auf den Rechtsgrund für die unentgeltliche Gewährung der häuslichen Mahlzeiten komme es nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BVerwG, aaO) nicht an. Entscheidend sei, daß bei dem allein einsatzpflichtigen Kläger eine Ersparnis nicht eintrete.

Der Senat hat auf den Antrag des Beklagten mit Beschluß vom 20. September 1995 die Berufung gegen dieses Urteil zugelassen. Der Beklagte trägt zur Begründung seiner Berufung vor, der Kläger dürfe bei Berücksichtigung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) gegenüber anderen Hilfebedürftigen in der Werkstatt für Behinderte nicht allein deshalb besser gestellt werden, weil er ohne die Einnahme der Mahlzeit kostenlos von seinen Eltern verpflegt werden würde. Es sei absurd zu nennen, daß Hilfeempfänger, deren Eltern mangels eigener Mittel keine freie Kost gewähren könnten, anders als der Kläger den Kostenbeitrag entrichten müßten. Die Bevorzugung des Klägers verstoße auch gegen das Nachrangprinzip. Auf die höchstrichterliche Rechtsprechung (BVerwG, aaO) könne er sich nicht berufen. Er habe - anders als im dortigen Sachverhalt - im Hinblick auf die Höhe seiner Rente keine Unterhaltsansprüche gegen seine Eltern.

Der Beklagte beantragt,

die Klage unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsggerichts Magdeburg - 4. Kammer - vom 29. Juli 1994 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt vor, nach der gesetzlichen Regelung des § 85 Nr. 3 BSHG komme es nicht auf die Höhe seiner Rente, sondern nur darauf an, ob ihm eine häusliche Ersparnis entstehe. Dies sei - wie das Verwaltungsgericht unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zutreffend festgestellt habe - nicht der Fall.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird ergänzend auf die Schriftsätze der Parteien sowie den Verwaltungsvorgang des Beklagten (Beiakte A) Bezug genommen.

II.

Die Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den angefochtenen Bescheid vom 11. Mai 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. November 1993 zu Recht aufgehoben. Einer Einbeziehung des Änderungsbescheids vom 10. August 1993 in das Verfahren bedarf es nicht. Der Änderungsbescheid vom 10. August 1993 ist wegen der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Klägers nicht vollziehbar und berührt deshalb den Gegenstand des vorliegenden Verfahrens nicht.

Der angefochtene Bescheid ist mangels einer Rechtsgrundlage rechtswidrig. Der Kläger erhält Hilfe in besonderen Lebenslagen durch die Gewährung von Eingliederungshilfe gem. § 27 Abs. 1 Nr. 6 BSHG. Diese Hilfe wird gem. § 28 BSHG gewährt, soweit dem Hilfesuchenden, seinem nicht getrenntlebenden Ehegatten und, wenn er minderjährig und unverheiratet ist, auch seinen Eltern die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Bestimmungen des Abschnitts 4 nicht zuzumuten ist. Eine Einsatzgemeinschaft gem. § 28 BSHG besteht hiernach nicht. Der ledige Kläger ist volljährig. Die Einkommensverhältnisse der Eltern müssen deshalb bei der Ermittlung des Kostenbeitrags außer Betracht bleiben.

In welchem Umfang dem Hilfeempfänger selbst die Aufbringung der Mittel zumutbar ist, bestimmt sich nach den §§ 76 ff BSHG. Einkommen i. S. d. § 76 BSHG, das unter der besonderen Einkommensgrenze des § 81 Abs. 1 BSHG liegt, ist ihm grundsätzlich zu belassen. Dieses Einkommen muß der Kläger nur einsetzen, soweit dies in § 85 BSHG ausdrücklich bestimmt ist.

Der Beklagte hat den Kläger hiernach zu Unrecht zu einem Kostenbeitrag herangezogen. Unter den Parteien besteht kein Streit, daß der Kläger weder Vermögen i. S. d. § 88 BSHG besitzt noch über Einkünfte über der Einkommensgrenze des § 81 Abs. 1 BSHG verfügt, die gem. § 84 BSHG einzusetzen wären. Nach der Berechnung des Beklagten unterschreitet er die besondere Einkommensgrenze des § 81 Abs. 1 BSHG um 244,88 DM (Stand vom 1.7.1993, Bl. 59 d. PA). Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger entgegen dieser Berechnung mit seinem Einkommen über der Einkommensgrenze liegt, sieht der Senat nicht. Die Aufbringung der Mittel kann dem Kläger deshalb nach Lage des Falles nur zugemutet werden, soweit er durch die Hilfe in der Werkstatt für Behinderte - WfB - Aufwendungen für den häuslichen Lebensunterhalt erspart, § 85 Nr. 3 BSHG. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend entschieden, daß der Kläger durch die hier allein streitige Einnahme einer warmen Mahlzeit in der WfB häuslich nichts erspart.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in der den Beteiligten bekannten Entscheidung vom 19. März 1992 (aaO) unter Hinweis auf den gesetzessystematischen Zusammenhang von § 85 Nr. 3 BSHG und § 28 BSHG ausgeführt, daß ein Kostenbeitrag wegen häuslicher Ersparnis nur dann verlangt werden kann, wenn die Ersparnis bei einem Einsatzpflichtigen gem. § 28 BSHG eintritt. Dies sei bei unverheirateten volljährigen Hilfeempfängern allein der Hilfeempfänger selbst. Auf eine Kostenersparnis bei den Eltern komme es nicht an, weil sie nach den §§ 28, 43 BSHG schon dem Grunde nach nicht einkommenseinsatzpflichtig seien. Dieser Rechtsprechung ist beizupflichten. Sie kann sich auf den eindeutigen Wortlaut des Gesetzes stützen.

Nach der o. a. höchstrichterlichen Rechtsprechung liegt im Falle des Klägers keine Ersparnis i. S. des § 85 Nr. 3 BSHG vor. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist es in diesem Zusammenhang unerheblich, aus welchen Gründen es nicht zu einer häuslichen Ersparnis kommt. Tritt die Ersparnis deshalb nicht ein, weil der Hilfeempfänger ohne die Mahlzeit in der WfB von seinen Eltern aufgrund eines bürgerlichrechtlichen Unterhaltsanspruchs verpflegt werden würde, ist § 85 Nr. 3 BSHG ebensowenig anwendbar wie in Fällen, in denen der Hilfsbedürftige die Mahlzeit von den Eltern ohne Rechtsanspruch als Zuwendung innerhalb des Familienverbands erhalten würde. Das Bundesverwaltungsgericht hat in der genannten Entscheidung anhand des unterhaltsrechtlichen Anspruchs auf ein häusliches Mittagessen nur beispielhaft ausgeführt, daß für den Hilfeempfänger durch das Mittagessen in der teilstationären Einrichtung eine häusliche Ersparnis nicht eintrete. An dieser Ersparnis kann es auch in anderen Fällen fehlen, wenn nur ein Kostenvergleich ergibt, daß dem Hilfeempfänger durch die Leistungen der WfB kein wirtschaftlicher Vorteil erwächst.

Dies bedeutet nicht, daß ein Unterhaltsanspruch des Hilfeempfängers gegen seine Eltern ohne jede rechtliche Bedeutung ist. Er hat diese Bedeutung jedoch nicht für die Anwendung des § 85 Nr. 3 BSHG sondern für die Frage, ob das allgemeine Nachrangprinzip des § 2 BSHG durch einen Anspruchsübergang gem. § 91 BSHG n. F. zur Geltung gebracht werden soll (vgl. BVerwGE 68, 299). In der Regel wird dies allerdings wegen einer unbilligen Härte i. S. des § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG n. F. ausgeschlossen sein (vgl. LPK, 4. Aufl., Rdnr. 19 zu § 91).

Es kann hiernach nur bei den tatsächlichen Feststellungen zur Ersparnis bedeutsam werden, ob der Hilfeempfänger ohne die Mahlzeit in der teilstationären Einrichtung einen entsprechenden Unterhaltsanspruch hätte oder ob er sich auf eine unentgeltliche familiäre Unterstützung beruft. Die Gewähr, daß Leistungen außerhalb der teilstationären Einrichtung erbracht werden würden, besteht eher bei rechtsverbindlichen Unterhaltsansprüchen als bei einer freiwilligen Unterstützung im Familienverband. Es ist in Betracht zu ziehen, daß Erklärungen zur Leistungsbereitschaft mißbräuchlich abgegeben werden, um die Anrechnung der Mahlzeit in der teilstationären Einrichtung zu vermeiden. Im Verhältnis der Eltern zu ihren im Haushalt lebenden Kindern sind solche Zweifel allerdings in der Regel nicht angebracht.

Die Freistellung des Hilfeempfänger vom Kostenbeitrag im Hinblick auf Leistungen Dritter, die nicht zur Einsatzgemeinschaft des § 28 BSHG gehören, bedeutet keine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) gegenüber denjenigen Hilfeempfängern, die solche Leistungen nicht erhalten und deshalb den Kostenbeitrag leisten müssen. Beide Sachverhalte unterscheiden sich dadurch, daß in einem Falle eine häusliche Ersparnis beim Hilfeempfänger eintritt, im anderen Falle nicht. Hieran konnte der Gesetzgeber in Ausübung seiner Gestaltungs- und Systematisierungsbefugnis anknüpfen. Das Gesetz selbst erlaubt eine Ergebniskorrektur nach Maßgabe des § 91 BSHG, sofern Unterhaltsansprüche des Hilfeempfängers bestehen. In den übrigen Fällen relativiert sich das Gewicht der ungleichen Behandlung dadurch, daß die Hilfeempfänger in jedem Falle unterhalb der Einkommensgrenze des § 81 Abs. 1 BSHG liegen. Besonders beengten wirtschaftlichen Verhältnissen eines dem Grunde nach beitragspflichtigen Hilfeempfängers kann zudem im Rahmen der Ermessensbetätigung gem. § 85 BSHG Rechnung getragen werden. Letztlich ist auch zu berücksichtigen, daß eine gesetzliche Regelung als unangemessen erscheinen kann, die einen in der Familiensolidarität wurzelnden geldwerten Vorteil von Staats wegen wieder abschöpft.

Der Kläger hat dargelegt, daß er ohne das tägliche Mittagessen in der Werkstatt für Behinderte unentgeltlich von seinen Eltern verpflegt werden würde. Dies erscheint glaubhaft. Der Kläger lebt in unmittelbarer Nachbarschaft der Eltern und wird von den Eltern betreut, soweit er sich nicht in der WfB aufhält. Zur Zubereitung von warmen Mahlzeiten wäre er aufgrund seiner Behinderung selbst nicht in der Lage. Es besteht auch kein Anlaß, an der ausdrücklichen Erklärung der Eltern zur unentgeltlichen Verpflegung ihres Sohnes zu zweifeln. Damit liegt ein Sachverhalt vor, bei dem durch die Einnahme des Mittagessens in der teilstationären Einrichtung eine häusliche Ersparnis nicht eintritt. Der Kläger kann deshalb nicht gem. § 85 Nr. 3 BSHG zu einem Kostenbeitrag herangezogen werden. Der Bescheid des Beklagten, der gegenteiliges anordnet, ist aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Gerichtskosten werden gem. § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO bezeichneten Gründe vorliegt.

Ende der Entscheidung

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