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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 16.09.2005
Aktenzeichen: OVG 1 S 103.05
Rechtsgebiete: VwGO, VersG, BbgStrG, StVO 1974, GräbG-AGBbg


Vorschriften:

VwGO § 80 Abs. 5 Satz 1
VwGO § 146 Abs. 4 Satz 6
VersG § 15 Abs. 1
BbgStrG § 48
BbgStrG § 48 Abs. 7 Satz 1
StVO 1974 § 3 Abs. 1
StVO 1974 § 3 Abs. 1 Satz 1
StVO 1974 § 3 Abs. 3
StVO 1974 § 4 Abs. 1 Satz 1
GräbG-AGBbg § 2
GräbG-AGBbg § 4 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 1 S 103.05

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 1. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg durch den Richter am Oberverwaltungsgericht Seiler, den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Bodanowitz und die Richterin am Oberverwaltungsgericht Dr. Blumenberg am 16. September 2005 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 15. September 2005 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Antragsgegner.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 EUR festgesetzt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat mit dem angegriffenen Beschluss die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 9. September 2005 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom selben Tage hinsichtlich der verfügten Auflage, dass die Versammlung - abweichend von der angemeldeten Route - nur bis zur Straßenkreuzung Lindenstraße - Baruhter Straße - Teupitzer Straße und wieder zum Ausgangspunkt in der Lindenstraße zurück zu verlaufen hat, wiederhergestellt, so dass sich die Versammlung - entsprechend ihrer Anmeldung - bis zu dem Parkplatz vor dem "Waldfriedhof Halbe" begeben und die Zwischenkundgebung auf diesem stattfinden darf. Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung mit der Maßgabe versehen, die bei der Zwischenkundgebung verwendeten Lautsprecher derart aufzustellen, dass sie mit der Schallöffnung nicht auf dem "Waldfriedhof Halbe" gerichtet sind, und die Lautstärke so einzustellen, dass die Wirkung der Lautsprecher auf den Kreis der Versammlungsteilnehmer beschränkt ist.

Gegen diese erstinstanzliche Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung richtet sich die Beschwerde des Antragsgegners. Das Vorbringen der Beschwerde, auf dessen Prüfung das Oberverwaltungsgericht gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt es nicht, den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben oder abzuändern.

Maßstab der gerichtlichen Entscheidung ist nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eine umfassende Interessenabwägung zwischen dem privaten Aufschubinteresse und dem öffentlichen Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes. Hat - wie hier - die Behörde die sofortige Vollziehung angeordnet, ist zu prüfen, ob sie zu Recht das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung höher gewichtet hat als das private Interesse, bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens oder des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens von dem Verwaltungsakt verschont zu bleiben. Im Rahmen der Abwägung ist auch von Belang, ob sich der Verwaltungsakt als rechtmäßig oder rechtswidrig erweist.

Gemessen hieran überwiegt bezüglich der vom Antragsgegner abweichend von der Anmeldung des Antragstellers verfügten Durchführung der Versammlung das private Interesse, dieser Auflage nicht folgen zu müssen, das öffentliche Interesse. Im Zuge der Interessenabwägung sprechen überwiegende Gründe dafür, dass diese allein streitgegenständliche Auflage nicht durch § 15 Abs. 1 VersG gerechtfertigt ist. Das Beschwerdevorbringen gibt keine Veranlassung zu einer von der erstinstanzlichen Entscheidung abweichenden Bewertung.

Gemäß § 15 Abs. 1 VersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung oder einen Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zurzeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Auch Auflagen, zu denen diese Vorschrift ausdrücklich ermächtigt, verlangen eine durch Tatsachen gesicherte Gefahrenprognose.

Auf der Basis summarischer Prüfung erweist sich die Auffassung des Antragsgegners, dass die Ernst-Teichmann-Straße einschließlich des "Wendehammers" (Parkplatz vor dem "Waldfriedhof Halbe") keine dem öffentlichen Verkehr gewidmete öffentliche Straße, sondern eine Privatstraße im Sinne des Brandenburgischen Straßengesetzes sei und daher die Durchführung der Versammlung auf diesen Flächen die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährde, weil die rechtliche Verfügungsmacht der Gemeinde Halbe durch ein Unterlassen der Versammlungsbehörde rechtswidrig beeinträchtigt werde, als nicht tragfähig. Nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung stellen sich die Ernst-Teichmann-Straße in dem hier maßgeblichen Bereich und der Parkplatz vor dem "Waldfriedhof Halbe" aufgrund der Widmungsfiktion des § 48 Abs. 7 Satz 1 BbgStrG als öffentliche Straße dar. Diese Vorschrift fingiert die Widmung für Straßen, die "nach bisherigem Recht öffentlich genutzt wurden", d.h. nach Maßgabe der Bestimmungen der Straßenverordnung der DDR vom 26. November 1974, die kraft Einigungsvertrages bis zum Inkrafttreten des Brandenburgischen Straßengesetzes am 16. Juni 1992 fortgalt. Nach der Rechtsprechung des bis zum 30. Juni 2005 für das Landesstraßenrecht zuständige Oberverwaltungsgerichts für das Land Brandenburg war entscheidend für die Einstufung als öffentliche Straße nach DDR-Recht die Freigabe für die öffentliche Nutzung durch die zuständigen Stellen, also in der Regel der tatsächliche Anschluss an das bestehende öffentliche Straßennetz. § 3 Abs. 1 Satz 1 Straßenverordnung 1974 definiert öffentliche Straßen als alle Straßen, Wege und Plätze einschließlich Parkplätze, die der öffentlichen Nutzung durch den Fahrzeug- und Fußgängerverkehr dienen. Die Vorschrift stellt ersichtlich allein auf den tatsächlichen Gebrauch der Verkehrsfläche für die öffentliche Nutzung, nicht auf eine förmliche Indienststellung durch eine Widmung oder einen widmungsähnlichen Akt ab. Nichts anderes folgt aus § 4 Abs. 1 Satz 1 Straßenverordnung 1974; danach entschied der Rat der Stadt bzw. der Gemeinde durch Beschluss über die öffentliche Nutzung und über die Zuordnung zu den Straßen, die ausschließlich der öffentlichen Nutzung dienen oder zu den betrieblich-öffentlichen Straßen. Die Entscheidung über die öffentliche Nutzung bezog sich nicht auf das "Ob", sondern auf das "Wie" des Gemeingebrauchs an der Verkehrsfläche (vgl. OVG Brandenburg, Beschluss vom 19. August 2004 - 3 B 119/04 -).

Gemessen hieran besteht kein Anlass, im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Widmungsfiktion der in Rede stehenden Verkehrsflächen in Frage zu stellen. Bisher stand ersichtlich außer Frage, dass die fraglichen Grundflächen einer öffentlichen Nutzung durch den Fahrzeug- und Fußgängerverkehr dienten. Die Richtigkeit dieser Annahme drängt sich bei lebensnaher Betrachtung auch deshalb auf, weil die Gräberstätte "Waldfriedhof Halbe" seit annähernd 50 Jahren öffentlichen Verkehr erzeugte, der auf der fraglichen Wegefläche - vom Antragsgegner unbestritten - stattfand und von der Gemeinde geduldet wurde. Dass auch die Gemeinde Halbe über Jahre hieran keine Zweifel hatte, muss daraus geschlossen werden, dass sie erst unlängst ein straßenrechtliches Einziehungsverfahren betrieb, wozu anderenfalls keinerlei Veranlassung bestanden hätte.

Wenn der Antragsgegner nunmehr von dieser bislang allgemein angenommenen straßenrechtlichen Qualität abweichen und die Ernst-Teichmann-Straße unter der Geltung der Straßenverordnung 1974 als betrieblich-öffentliche Straße im Sinne von § 3 Abs. 3 Straßenverordnung 1974 verstanden wissen will, überzeugt dies den Senat nicht. Soweit er in diesem Zusammenhang auch mit der Straßenbaulast für die umstrittenen Flächen (vgl. § 10 Abs. 2 Nr. 3 Gräbergesetz) argumentiert, gibt diese Vorschrift jedenfalls keinen Aufschluss über die straßenrechtliche Lage zu Zeiten der DDR. Die Frage, ob die Wegeflächen seinerzeit als öffentliche Straße im Sinne von § 3 Abs. 1 Straßenverordnung 1974 oder als betrieblich-öffentliche Straße im Sinne von § 3 Abs. 3 Straßenverordnung 1974 einzuordnen waren und wie sich die eine oder andere Bewertung auf die derzeitige straßenrechtliche Situation anhand von § 48 BbgStrG auswirkt, erfordert im Übrigen eine umfassende Würdigung verschiedener tatsächlicher Umstände, insbesondere auch zu der Frage, ob der Besucherverkehr der Grabstätte gegenüber dem forstwirtschaftlichen Verkehr eine untergeordnete Rolle gespielt hat, die im vorliegenden Eilverfahren ausgeschlossen und nur im Verfahren zur Hauptsache möglich ist.

Das Verbot zur Durchführung der Versammlung auf der Ernst-Teichmann-Straße und dem Parkplatz vor dem "Waldfriedhof" kann bei Würdigung aller Umstände auch nicht auf § 4 Abs. 2 des Gesetzes zur Ausführung des Gräbergesetzes im Land Brandenburg (GräbG-AGBbg) gestützt werden. Danach sollen Veranstaltungen, die auf einer Gräberstätte nicht erlaubt sind oder dort nicht erlaubt wären, auch in ihrer unmittelbaren und engen räumlichen Nähe nicht durchgeführt werden, soweit sie den Zugang zu ihr unzumutbar erschweren würden oder mit dem Widmungszweck nicht in Einklang stünden. Ausweislich der Gesetzesbegründung (LT-Drs. 4/1117 zu § 4) konkretisiert diese Vorschrift den Begriff der öffentlichen Sicherheit und richtet sich auch an die Versammlungsbehörden. Sie werden durch diese Regelung dazu verpflichtet, bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen, dass nach dem in der Norm zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers, Veranstaltungen, die auf einer Gräberstätte nicht erlaubt sind oder nicht erlaubt wären, auch nicht in einer solchen Nähe zu ihr durchgeführt werden sollen, dass dadurch der Widmungszweck nach § 2 kaum weniger beeinträchtigt wäre, als wenn die Veranstaltung auf der Gräberstätte selbst durchgeführt würde. Weiter heißt es in der Gesetzesbegründung, dass § 4 Abs. 2 GräbG-AGBbg das verfassungsrechtliche Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme auf andere geschützte Rechtspositionen konkretisiert. Damit bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass er mit § 4 Abs. 2 GräbG-AGBbG keinen strikten Umgebungsschutz für Gräberstätten vorsehen wollte, was auch in der gesetzlichen Wendung "sollen" Niederschlag gefunden hat. Die Versammlungsbehörde hatte daher im Wege einer Abwägung die widerstreitenden Rechtspositionen zu bewerten und nach Möglichkeit im Wege praktischer Konkordanz zu einem schonenden Ausgleich zu bringen. Dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit wird vor allem in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein besonderer Rang in einem freiheitlichen und demokratischen Staatswesen beigemessen; dieses Grundrecht soll vor allem andersdenkenden Minderheiten die wirksame Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung ermöglichen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass dem Grundrechtsträger das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung zukommt und der Inhalt der Versammlung einer Bewertung grundsätzlich entzogen ist. Im Hinblick auf das Motto der Versammlung "Ruhm und Ehre dem deutschen Frontsoldaten" ist von Bedeutung, dass das Demonstrationsanliegen nach dem Willen des Veranstalters durch die räumliche Nähe zu dem "Waldfriedhof Halbe" in besonderer Weise zum Ausdruck gebracht werden soll.

Dass die Versammlung auch dann, wenn sie entsprechend dem angemeldeten Verlauf und der angemeldeten Route folgend stattfindet, bei einer voraussichtlichen Teilnehmerzahl von 100 Personen und einer Dauer der Zwischenkundgebung auf dem Parkplatz von maximal 30 Minuten den Zugang zum "Waldfriedhof Halbe" nicht unzumutbar im Sinne von § 4 Abs. 2 GräbG-AGBbg erschwert, räumt der Antragsgegner selbst ein. Aber auch der Widmungszweck der Gräberstätte, den § 4 Abs. 2 GräbG-AGBbg in Bezug nimmt und den § 2 GräbG-AGBbg mit der stillen Einkehr und dem ungestörten Gedenken der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft beschreibt, wird nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt, dass die streitgegenständliche Auflage gerechtfertigt wäre. Dies gilt zunächst für die Besucher, die den "Waldfriedhof Halbe" zur stillen Einkehr und zum ungestörten Totengedenken aufsuchen. Dieser Personenkreis, der von seiner allgemeinen Handlungsfreiheit und unter Umständen auch von seiner Religionsausübungsfreiheit Gebrauch macht, wird durch die in unmittelbarer Nähe zur Grabstätte stattfindende Versammlung schon im Hinblick auf die Dauer der Kundgebung und die voraussichtlich geringe Teilnehmerzahl nicht erheblich beeinträchtigt. Nichts anderes gilt im Ergebnis auch im Hinblick auf die auf dem Friedhof bestatteten Verstorbenen, ohne dass es geboten wäre, Inhalt und Grenzen des in Art. 1 Abs. 1 GG verankerten postmortalen Persönlichkeitsschutzes im Einzelnen aufzuzeigen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 2 in Verbindung mit § 52 Abs. 2, § 47 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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