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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 04.04.2007
Aktenzeichen: OVG 10 N 10.05
Rechtsgebiete: AsylVfG, VwGO, ZPO


Vorschriften:

AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3
VwGO § 138 Nr. 3
VwGO § 173
ZPO § 227 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 10 N 10.05

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 10. Senat durch den Vizepräsidenten des Oberverwaltungsgerichts Krüger, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Dr. Bumke und den Richter am Oberverwaltungsgericht Seiler am 4. April 2007 beschlossen:

Tenor:

Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 2. Juni 2004 wird auf den Antrag der Kläger zugelassen.

Gründe:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist begründet. Der von den Klägern unter anderem mit Blick auf die Ablehnung des in der mündlichen Verhandlung gestellten Vertagungsantrags geltend gemachte Zulassungsgrund gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO liegt vor. Der Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör ist dadurch verletzt worden, dass das Verwaltungsgericht trotz des in der mündlichen Verhandlung gestellten, mit der Verhandlungsunfähigkeit des Klägers zu 2) begründeten Vertagungsantrags den Termin nicht vertagt, sondern - bis zu der nach Stellung von Beweisanträgen veranlassten Verhandlungspause um 16:05 Uhr in Anwesenheit der Kläger und ihrer Verfahrensbevollmächtigten - weiter verhandelt und entschieden hat. Das Verwaltungsgericht hätte den Vertagungsantrag nicht ablehnen dürfen, da "erhebliche Gründe" i.S.d. § 227 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 173 VwGO vorlagen.

I.

Das Verwaltungsgericht, das mit der Ladung mitgeteilt hatte, dass das persönliche Erscheinen der Kläger erwünscht sei (GA I Bl. 120 Rückseite), hat die Sitzung am 2. Juni 2004 mit Blick auf die vom Kläger zu 2) vorgetragenen gesundheitlichen Beschwerden zunächst um 9:45 Uhr, sodann - nach Fortsetzung um 10:15 Uhr - um 11:05 Uhr unterbrochen. Auf Vorschlag des Gerichts begab sich der Kläger zu 2) während der zweiten Verhandlungspause in Begleitung seiner Verfahrensbevollmächtigten und des Dolmetschers zur fachkundigen Beurteilung seiner Verhandlungsfähigkeit zu Herrn Dr. H. vom Behandlungszentrum für Folteropfer. Dr. H. erläuterte sodann dem Gericht telephonisch seine Einschätzung. Danach sei der Kläger zu 2) - so die Zusammenfassung des Gerichts ausweislich der Sitzungsniederschrift (GA II Bl. 4) - "maximal eingeschränkt verhandlungsfähig, er verfüge über einen reduzierten Aufmerksamkeitslevel, beantworte Fragen nicht richtig ("an ihnen vorbei") und habe Kopfschmerzen" (Klammerzusatz im Original). Die Verfahrensbevollmächtigte der Kläger ließ in der Sitzungsniederschrift aufnehmen (GA II Bl. 4), dass der Arzt nach ihrer Erinnerung festgestellt habe, "(d)er Kläger sei eingeschränkt bis nicht verhandlungsfähig, ... habe bisher auch nicht alles richtig verstanden. Die Fortsetzung der mündlichen Verhandlung habe keinen Sinn." Sie beantragte darauf hin die Unterbrechung bzw. Aussetzung der mündlichen Verhandlung.

Zur Begründung der Ablehnung des Antrags auf "Vertagung" führte das Gericht aus: Der Kläger zu 2) sei eingeschränkt verhandlungsfähig. Das ergebe sich aus der telephonisch mitgeteilten Diagnose des Herrn Dr. H. und entspreche auch der Wahrnehmung des Gerichts, das "eine normale Interaktion des Klägers (zu 2) gegenüber seinem Sohn, aber auch gegenüber anderen Prozessbeteiligten wahrnehmen konnte". Davon zu unterscheiden sei die Frage, "aus welchen Gründen sich der Kläger (zu 2) womöglich nicht richtig an das fluchtauslösende Geschehen erinnern" könne. Dazu würden jedoch heute keine weiteren Fragen gestellt werden. Im Übrigen sei der Kläger (zu 2) anwaltlich vertreten. Im angefochtenen Urteil stellt das Verwaltungsgericht - im Zusammenhang mit der Begründung, dass die Angaben, die der Kläger zu 2) gemacht habe, verwertbar seien (UA S. 14) - fest, dass der Kläger zu 2) bis zur zweiten Verhandlungspause verhandlungsfähig gewesen sei. Eine Vertagung sei daher nicht "zwecks einer Neudurchführung" der Anhörung erforderlich gewesen (UA S. 15). Der telephonisch eingeholte Befund habe keine Vertagung erforderlich gemacht, da die Anhörung nach der zweiten Verhandlungspause nicht fortgesetzt worden und der Kläger zu 2) anwaltlich vertreten gewesen sei (UA S. 15). Soweit die Kläger den Vertagungsantrag ursprünglich auch damit begründet haben, dass die vom Gericht eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes Mängel aufweise, die es erforderlich machten, eine erneute Stellungnahme einzuholen (GA II Bl. 12), wird die darauf bezogene Begründung des Verwaltungsgerichts in der Zulassungsschrift nicht angegriffen.

II.

Grundsätzlich gebietet der Anspruch auf rechtliches Gehör es, einem Vertagungsantrag "aus erheblichen Gründen" i.S.d. § 227 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 173 VwGO zu entsprechen (BVerwG, Beschluss vom 14. November 2006 - 10 B 48.06 - in: juris; Beschluss vom 29. April 2004 - 3 B 118.03 - in: juris; Beschluss vom 2. November 1998 - 8 B 162.98 -, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 285). Bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs "erhebliche Gründe" ist einerseits dem im Verwaltungsprozess und insbesondere im Asylverfahren geltenden Gebot der Beschleunigung des Verfahrens und der Intention des Gesetzes, die gerichtliche Entscheidung i.S.d. Konzentrationsgebotes möglichst auf Grund einer einzigen mündlichen Verhandlung herbeizuführen, andererseits dem verfassungsrechtlichen Erfordernis des rechtlichen Gehörs Rechnung zu tragen. Danach ist auch im Asylprozess ein erheblicher Grund für eine Vertagung nicht bereits dann anzunehmen, wenn ein anwaltlich vertretener Verfahrensbeteiligter wegen Krankheit oder aus anderen persönlichen Gründen verhindert ist, selbst an der Verhandlung teilzunehmen (OVG Berlin, Beschluss vom 11. Mai 2005 - OVG 6 N 22.04 -). Das bloße Anwesenheitsinteresse einer anwaltlich vertretenen Partei wird durch ihren Gehörsanspruch nicht geschützt (BVerwG, Beschluss vom 4. Februar 2002 - 1 B 313.01 -, Buchholz 303 § 227 ZPO Nr. 31, OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. Januar 2006 - OVG 10 N 118.05 -). Kommt es auf die Glaubhaftigkeit des Vortrags oder die Glaubwürdigkeit des Klägers an, so ist aber regelmäßig eine persönliche Anhörung geboten (OVG Brandenburg, Beschluss vom 28. Oktober 2003 - 2 A 369/02.AZ -, AuAS 2004, 4).

Gemessen an diesen Maßstäben hat das Verwaltungsgericht den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt. Das Verwaltungsgericht hat, indem es einerseits den Kläger zu 2) hinsichtlich der bis zur zweiten Verhandlungspause erfolgten Anhörung als verhandlungsfähig angesehen und andererseits nach dieser Pause weitere Fragen "vom Gericht dazu" als "jedoch heute nicht mehr" erforderlich erachtet hat, den Vertagungsantrag letztlich mit der Begründung abgelehnt, die Sache sei aus seiner Sicht "entscheidungsreif". Die Ablehnung eines Vertagungsantrags allein mit der Begründung, die Sache sei entscheidungsreif, ist jedoch verfahrensfehlerhaft (BVerwG, Beschluss vom 14. Juli 1999 - 9 B 206.99 - juris Rn. 5). Denn damit wurde den Klägern, insbesondere dem Kläger zu 2), die sachgerechte Wahrnehmung ihrer Rechte, nämlich den (weiteren) mündlichen Vortrag zu dem aufgrund der mündlichen Verhandlung gewonnenen Gesamtergebnis des Verfahrens zu ermöglichen (vgl. dazu OVG Brandenburg, Beschluss vom 27. Oktober 2004 - 2 A 411/04.AZ -), genommen. Dazu genügte es - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts - auch nicht, dass die Kläger im Termin anwaltlich vertreten waren. Denn bei einer Glaubwürdigkeitsbeurteilung kommt es entscheidend auf die (gerichtliche) Anhörung des Betroffenen an. Zur Anhörung gehört dabei auch, dass ein Kläger die Möglichkeit haben muss, von sich aus Unklarheiten und Widersprüche aufzulösen. Dieses Recht erschöpft sich nicht in der Befragung durch das Gericht, sondern es muss grundsätzlich auch - im Fall der anwaltlichen Vertretung - die Möglichkeit zu Nachfragen (hier: gegenüber dem Kläger zu 2) seitens der klägerischen Verfahrensbevollmächtigten bestehen.

Wie sich dem Vertagungsantrag entnehmen lässt (GA II Bl. 10f) hatte die Verfahrensbevollmächtigte der Kläger den Antrag auch ausdrücklich damit begründet, dass "auch die Prozessbevollmächtigte des Klägers weitere Fragen an den Kläger" habe. Damit wurde zugleich deutlich gemacht, dass es aus Sicht der Kläger einer Fortsetzung der eine gute 3/4 Stunde von 10:15 bis 11:05 Uhr dauernden Anhörung des Klägers zu 2) bedurft hätte. Angesichts dessen hätte das Verwaltungsgericht den Antrag nicht mit der Begründung ablehnen dürfen, weitere Fragen vom Gericht würden nicht mehr gestellt.

Der Verfahrensbevollmächtigten der Kläger kann auch nicht vorgehalten werden, sie habe nicht alle prozessual zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft, weil sie auf weitere Fragen an den Kläger zu 2) verzichtet habe, "weil sie dies infolge seines sich zunehmend verschlechternden Zustands für nicht sinnvoll halte" (Sitzungsniederschrift S. 6). Das gilt jedenfalls dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - der Vertagungsantrag mit der mangelnden Verhandlungsfähigkeit begründet wird, die Ablehnung jedoch gerade nicht zur abschließenden Klärung dieser Frage führt. Denn weder der Begründung zur Ablehnung des Vertagungsantrags noch dem Urteil lässt sich entnehmen, dass das Gericht den Kläger zu 2) weiterhin (nach der zweiten Verhandlungspause) als uneingeschränkt verhandlungsfähig angesehen und deswegen einen erheblichen Grund i.S.d. § 227 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 173 VwGO verneint hat. In einer solchen Situation der "Unklarheit" würde es eine Überspannung der (klägerischen) Obliegenheit bedeuten, auf einer Anhörung des Klägers (zu 2) zu bestehen.

Der Gehörsverstoß ist auch ordnungsgemäß begründet worden. Grundsätzlich hat ein Kläger zwar im einzelnen darzulegen, was er ohne die behauptete Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor dem Verwaltungsgericht noch vorgetragen hätte und inwiefern dieser Vortrag zu einer Klärung des geltend gemachten Asylanspruchs hätte führen können. Dieser Grundsatz erfährt jedoch dann eine Ausnahme, wenn den Beteiligten eine mündliche Verhandlung etwa infolge der fehlerhaften Ablehnung eines Vertagungsantrags vorenthalten worden ist (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. März 2007 - OVG 3 N 197.06 - BA S. 4 m.w.N.). Hier hat zwar eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Dadurch, dass das Gericht die Frage, ob der Kläger zu 2) auch nach der zweiten Verhandlungspause noch verhandlungsfähig war, offen gelassen und zugleich die Anhörung als abgeschlossen angesehen hat, ist dem Kläger zu 2) aber - wie dargelegt - die Möglichkeit zur Äußerung "in" der mündlichen Verhandlung genommen worden. Insofern erscheinen die Fallkonstellationen vergleichbar mit der Folge, dass die Verletzung des rechtlichen Gehörs den gesamten Prozessstoff erfasst (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 2. November 1998 - 8 B 162.98 - juris Rn. 4; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. März 2007 - OVG 3 N 197.06 - BA S. 4).

Die Entscheidung über die Kosten des Zulassungsverfahrens folgt der Kostenentscheidung im Berufungsverfahren.

Ende der Entscheidung

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