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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 28.02.2007
Aktenzeichen: OVG 11 S 84.06
Rechtsgebiete: StAG, VwVfG, AufenthG, BlnVwVfG, VwVfG


Vorschriften:

StAG § 4 Abs. 3
VwVfG § 48
VwVfG § 48 Abs. 4
VwVfG § 51
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 11 Abs. 1 Satz 4
AufenthG § 60 a Abs. 2
BlnVwVfG § 1 Abs. 1
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 11 S 84.06

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 11. Senat durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Laudemann, den Richter am Oberverwaltungsgericht Fieting und die Richterin am Oberverwaltungsgericht Apel am 28. Februar 2007 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 29. November 2006 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Beschwerde trägt der Antragsteller.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2500,--EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller, türkischer Staatsangehöriger, war im Jahr 1981 als Sohn eines in der Bundesrepublik Deutschland lebenden türkischen Arbeitnehmers eingereist. Er ist mit einer türkischen Staatsangehörigen seit 1985 verheiratet, mit der er fünf 1986, 1987, 1989, 1990 und am 31. Juli 2002 geb. Kinder hat; das jüngste ist gemäß § 4 Abs. 3 Staatsangehörigkeitsgesetz deutscher Staatsbürger. Für seinen Aufenthalt erhielt er im März 1990 eine Aufenthaltsberechtigung. Nach Zeiten der Erwerbstätigkeit war er 1995 arbeitslos geworden und begann im Februar 1998 eine Umschulung zum Elektriker. Am 21. März 1998 wurde er in Untersuchungshaft genommen. Mit rechtskräftigem Strafurteil des Landgerichts Berlin vom 14. Januar 1999 -_____ wurde er wegen Verabredung zum Mord zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Nach den Feststellungen des Landgerichts war er an der Planung eines Sprengstoffattentats auf ein Café eines kurdischen Inhabers mit Gefahr für eine unbestimmte Personenanzahl beteiligt, das nicht zur Ausführung gelangte. Straferschwerend war hierbei berücksichtigt worden, dass die Tat gemeinschaftlich als Auftragsarbeit ohne persönliche Motive aus Gewinnstreben geplant war. Das Landeseinwohneramt Berlin wies den Antragsteller daraufhin mit Bescheid vom 29. November 2000 aus der Bundesrepublik Deutschland aus. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies dieselbe Behörde mit Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 2001 zurück. Die dagegen angestrengte Klage (VG Berlin 10 A 84.01) wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 7. Juni 2002 ab, den hiergegen gerichteten Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte das Oberverwaltungsgericht Berlin mit Beschluss von 16. März 2005 - 8 N 143.02 - ab. Unter dem 22. Juni 2005 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner, die Wirkungen der Ausweisung auf den Tag der freiwilligen Ausreise zu befristen und den weiteren Aufenthalt mit Blick auf seine Familie zu dulden. Die Duldung lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 28. Februar 2006 ab, bezüglich einer Befristungsentscheidung verwies er auf eine zunächst erforderliche Ausreise. Hiergegen hat der Antragsteller die noch anhängige Klage (VG Berlin 10 A 106.06) erhoben. Mit weiterem Antrag vom 9. März 2006 beantragte der Antragsteller die Rücknahme der Ausweisung gemäß § 48 Abs. 4 VwVfG und hat diesbezüglich Untätigkeitsklage erhoben (VG Berlin 10 A 297.06).

Mit dem angegriffenen Beschluss hat das Verwaltungsgericht seinen Antrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn vorläufig zu dulden, zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass der Antragsteller einen Anordnungsanspruch gemäß § 60 a Abs. 2 AufenthG nicht hinreichend glaubhaft gemacht habe, da von einer rechtlichen Unmöglichkeit der Durchsetzung seiner Ausreisepflicht nicht auszugehen sei. Ein gebundener Anspruch auf Aufhebung der rechtskräftig gewordenen - aber wegen des Verfahrensfehlers der Bescheidung des Widerspruchs durch die Ausgangsbehörde rechtswidrigen - Ausweisung stehe ihm nicht zu; denn die Ausweisungsverfügung hätte auch ohne Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht ergehen können. Mit Blick auf die bereits vom Oberverwaltungsgericht Berlin berücksichtigte familiäre Situation des Antragstellers könne die Aufrechterhaltung der Ausweisung auch nicht als "schlechthin unerträglich" mit Verfassungsrecht und den guten Sitten oder Treu und Glauben unvereinbar angesehen werden. Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung könne erst mit Ausreise begehrt werden, weshalb auch insoweit nicht von einer rechtlichen Unmöglichkeit der Durchsetzung der Ausreisepflicht auszugehen sei.

II.

Die Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg. Die fristgerecht dargelegten Beschwerdegründe, die allein Gegenstand der Prüfung des Oberverwaltungsgerichts sind (§ 146 Abs. 4 S. 6 VwGO), rechtfertigen keine Änderung des angefochtenen Beschlusses. Das Verwaltungsgericht hat es danach zu Recht abgelehnt, dem Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung zu untersagen, Abschiebemaßnahmen gegen den Antragsteller einzuleiten.

Der Antragsteller hat auch mit dem Beschwerdevorbringen nicht glaubhaft gemacht, dass der Abschiebung Duldungsgründe entgegenstehen. Die Abschiebung ist nicht im Sinne von § 60 a Abs. 2 AufenthG aus rechtlichen Gründen unmöglich. Ein rechtlich zwingendes Abschiebungsverbot ergibt sich insbesondere nicht aus dem Antrag des Antragstellers vom 9. März 2006 auf Rücknahme der Ausweisung vom 29. November 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Januar 2001 gemäß § 48 Abs. 4 VwVfG. Eine Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen Gründen im Sinne von § 60 a Abs. 2 AufenthG würde insoweit nur in Betracht kommen, wenn dem Antragsteller ein gebundener Anspruch auf Rücknahme oder - worauf er sich mit der Beschwerde beruft - auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Aufhebung der Ausweisungsverfügung zustünde. Davon ist jedoch nicht auszugehen.

Der Antragsteller kann ein Wiederaufgreifen des bestandskräftig abgeschlossenen Ausweisungsverfahrens nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG i. V. m. § 1 Abs. 1 BlnVwVfG im Hinblick auf die Änderung der innerstaatlichen Rechtsprechung zur Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsbürger beanspruchen, zumal er dies so gegenüber dem Antragsgegner nicht beantragt hat. Das Vewaltungsgericht hat zutreffend in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1995, NVwZ 1995, 1097 f. m.w.N.; BVerwG, Beschluss v. 16. Februar 1993 - 9 B 241.92 -, NVwZ-RR 1994, 119; vgl. auch Beschluss des Senats vom 10. Mai 2006 - 11 S 40.05 -, in Juris, bestätigt durch LVerfG Berlin, Beschluss vom 17. Oktober 2006 - VerfGH 98/06, 98 A/06 -) ausgeführt, dass eine Änderung der Rechtsprechung keine Änderung der Rechtslage i. S. v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG darstellt.

Beanspruchen kann der Antragsteller danach nur eine Entscheidung über ein Wiederaufgreifen des Verfahrens außerhalb des Anwendungsbereichs von § 51 VwVfG (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Diese Entscheidung gem. § 48 VwVfG liegt jedoch grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Behörde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. März 1999, BVerwGE 113, 322, 326; Urteil vom 27. Januar 1994, BVerwGE 95, 86, 92 f. m.w.N.). Von einer Reduzierung dieses Ermessens dahingehend, dass nur eine stattgebende Entscheidung über den Antrag auf Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens rechtmäßig wäre, ist vorliegend nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfung nicht auszugehen.

Zwar ist davon auszugehen, dass die Ausweisung des Antragstellers nach Maßgabe der neueren Rechtsprechung zur Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger (vgl. EUGH, Urteil vom 2. Juni 2005 - C-136/03 -, NVwZ 2006, 72 ff.; BVerwG, Urteile vom 13. September und 6. Oktober 2005 - 1 C 7.04 und 1 C 5.04 -, InfAuslR 2006, 110 ff., 114 ff.) wegen der Entscheidung über den Widerspruch durch die Ausgangsbehörde selbst und damit wegen des Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG verfahrensfehlerhaft war. Daran dürfte sich auch dadurch nichts geändert haben, dass Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG mit Wirkung vom 30. April 2006 aufgehoben wurde (vgl. Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG - RL 2004/38/EG -) und die bei Vorliegen der darin genannten Voraussetzungen zwingend vorgeschriebene Einschaltung einer unabhängigen Stelle in den nunmehr geltenden Vorschriften der RL 2004/38/EG nicht mehr vorgesehen ist (so OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Juli 2006 - 7 B 16.05 -, in Juris; a. A. VG Düsseldorf, Beschluss vom 10. Februar 2006, InfAuslR 2006, 263, 265). Aber dieser Verfahrensfehler vermag eine Reduzierung des Ermessens des Antragsgegners auf eine Aufhebung der rechtskräftig gewordenen Ausweisung allein nicht zu begründen. Denn die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts als solche ist notwendige Voraussetzung für die Anwendung des die Rücknahme bei anfänglicher Rechtwidrigkeit des Verwaltungsakts regelnden § 48 VwVfG und kann das mit dieser Regelung eingeräumte Ermessen nicht generell verengen. Vielmehr sind im Rahmen des § 48 VwVfG die Prinzipien der materiellen Gerechtigkeit einerseits und der Rechtssicherheit andererseits als grundsätzlich gleich gewichtige Leitpunkte des Ermessens zu berücksichtigen (BVerwG, Urteil v. 30. Januar 1974 - VIII C 20.72 -, BVerwGE 44, 333 ff.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 48 Rn 96). Welche Ermessenserwägungen von der Behörde anzustellen sind, ist eine Frage der Umstände des jeweiligen Einzelfalles. Eine Ermessensreduzierung auf Null ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erst dann anzunehmen, wenn die Aufrechterhaltung der Ausweisungsverfügung schlechthin unerträglich wäre, etwa weil eine Berufung der Ausländerbehörde auf die Unanfechtbarkeit dieser Verfügung einen Verstoß gegen Verfassungsrecht, die guten Sitten oder Treu und Glauben darstellen würde (z.B. BVerwG, Urteil v. 30. Januar 1974 - VIII C 20.72 -, BVerwGE 44, 333 ff.; Beschluss vom 16. August 1989 - 7 B 57.89 -, NVwZ-RR 1990, 26 f.; Urteil v. 27. Januar 1994 - 2 C 12.92 -, NVwZ 1995, 388 f.; Urteil v. 19. Januar 2006 - 3 C 11.05 - Rn 15 des U.A.; dem folgend OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 20. April 2006 - 7 S 13.06 -; Beschluss des Senats vom 10. Mai 2006 - 11 S 40.05 -).

Dass die Aufrechterhaltung der Ausweisungsverfügung, die an der fehlerhaften Nichtberücksichtigung einer zwischenzeitlich aufgehobenen Verfahrensvorschrift leidet, in diesem Sinne "schlechthin unerträglich" sein könnte, ist nicht ersichtlich. Zunächst ist mit dem pauschalen Hinweis des Antragstellers auf vom Antragsgegner getroffene Wiederaufnahme- oder Rücknahmeentscheidungen betreffend Ausweisungsverfügungen anderer Ausländer ein Verstoß gegen Artikel 3 GG nicht substantiiert dargelegt. Denn es ist weder glaubhaft gemacht noch ohne weiteres ersichtlich, dass der Fall des Antragstellers diesen Fällen in den entscheidungserheblichen Punkten vergleichbar ist. Des Weiteren spricht einiges dafür, dass die Aufrechterhaltung der Ausweisung jedenfalls dann nicht schlechthin unerträglich ist, wenn die Ausweisung - gemessen an den sich aus der aktuellen Rechtsprechung ergebenden Anforderungen - seinerzeit rechtmäßig hätte verfügt werden können (i.d.S. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 20. April 2006 - 7 S 13.06 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 13. Juni 2000 - 13 S 1378/98 -, VBlBW 2001, 23 ff.). Davon ist für das Beschwerdeverfahren auszugehen. Eine Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB Nr. 1/80 besitzen, erfordert eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (BVerwG, Urteile vom 3. August 2004, NVwZ 2005, 220 ff., 224 ff.). Davon waren das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht im Klage- bzw. Rechtsmittelverfahren betreffend die Ausweisung des Antragstellers jedoch auch ausgegangen. Ausweislich der Urteilsbegründung war die Gefahrenprognose auf spezialpräventive, gerade das persönliche Verhalten des Antragstellers berücksichtigende Gründe gestützt und - wie das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht in Bestätigung der spezialpräventiv begründeten Ausweisungsverfügung ausdrücklich festgestellt haben - auch in Erwägung des Schutzes von Art 6 GG unter Einbeziehung des Zeitraums bis zum Ablauf der Begründungsfrist für den Berufungszulassungsantrag und damit auch unter Berücksichtigung der Geburt seines fünften Kindes deutscher Staatsangehörigkeit nicht zu beanstanden. Dass diesbezüglich hinsichtlich der materiellen Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung eine geänderte Rechtsprechung zur Rechtsstellung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger vorliegen würde, die im gerichtlichen Verfahren nicht beachtet worden wäre, macht der Antragsteller selbst nicht geltend.

In diesem Zusammenhang kommt es im Übrigen nicht darauf an, ob die Ausweisungsverfügung auch zum jetzigen Zeitpunkt noch in gleicher Weise ergehen könnte. Denn seitdem etwa eingetretene tatsächliche Veränderungen müssen für die Frage, ob die Ausweisung zum damaligen Zeitpunkt auch rechtmäßig hätte verfügt werden können, grundsätzlich außer Betracht bleiben. Ist danach aber davon auszugehen, dass dieselbe Entscheidung unter Berücksichtigung der maßgeblichen Rechtsprechung zur Überprüfung der Ausweisungsentscheidung im Widerspruchsverfahren seinerzeit auch in rechtmäßiger Weise hätte getroffen werden können, so vermag der Hinweis auf das nicht ordnungsgemäß durchgeführte Widerspruchsverfahren keine absolute Unerträglichkeit zu begründen.

Ein rechtlich gebundener Anspruch des Antragstellers auf Aufhebung der aufgrund unrichtiger Auslegung europäischen Rechts zustande gekommenen Ausweisung ergibt sich schließlich auch nicht aus dem in Art. 10 EG verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit. Die Voraussetzungen und der Inhalt der Pflicht zur Überprüfung bestandskräftiger Verwaltungsentscheidungen, die auf der unrichtigen Anwendung von Gemeinschaftsrecht beruhen, sind durch den Europäischen Gerichtshof (Urteil v. 13. Januar 2004 - C-453/00 -, NVwZ 2004, 459 f.) geklärt. Nach Maßgabe dieser Entscheidung begründet der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz nicht etwa in jedem Fall eine Verpflichtung zur Aufhebung der auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruhenden behördlichen Entscheidung. Die Behörde ist vielmehr verpflichtet, ihre Entscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen. Inwieweit eine Verpflichtung zur Rücknahme der in Rede stehenden Entscheidung besteht, ist sodann anhand der Ergebnisse dieser Überprüfung zu entscheiden. Eine gemeinschaftsrechtlich begründete Pflicht zur Aufhebung der Ausweisung kommt in diesem Fall jedenfalls deshalb nicht in Betracht, weil nicht ersichtlich ist, dass die Ausweisung des Antragstellers im Ergebnis nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar gewesen wäre. Ungeachtet der danach fehlenden Klärungsbedürftigkeit der vom Antragsteller aufgeworfenen Frage einer unbedingten Rücknahmepflicht im Fall eines Verstoßes gegen Europarecht besteht im vorliegenden vorläufigen Rechtsschutzverfahren auch keine Pflicht zur Einholung einer Vorlageentscheidung das Europäischen Gerichtshof (vgl. insoweit BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 29.11.1991 - 2 BvR 1642/91 -, NVwZ 1992, 360 f.).

Des Weiteren ist nach den Darlegungen des Antragstellers auch nicht davon auszugehen, dass eine Berufung der Ausländerbehörde auf die Unanfechtbarkeit der Ausweisungsverfügung einen Verstoß gegen Verfassungsrecht darstellen würde. Angesichts der mit Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 16. März 2005 bestätigten, materiell mit Gemeinschaftsrecht nicht im Widerspruch stehenden Ausweisungsentscheidung erscheint bei familiär unveränderten Verhältnissen eine vorübergehende Abwesenheit des Antragstellers auch mit Rücksicht auf die besonderen Schutzwirkungen der Familie, insbesondere mit Blick auf das jüngste Kind deutscher Staatsangehörigkeit, noch nicht als unverhältnismäßig. Vielmehr kann der Frage der mit Blick auf den Schutz gemäß Art 6 GG hinnehmbaren Dauer der Trennung der Familie noch ausreichend im Befristungsverfahren Rechnung getragen werden. Zwar kann die Familie des Antragstellers durch dessen Abschiebung zweifellos schwerwiegenden Belastungen ausgesetzt sein, da die Abschiebung des Antragstellers diese zwingt, entweder Deutschland zu verlassen und ihm in die Türkei zu folgen oder eine Trennung hinzunehmen. Insoweit hat der Antragsteller zutreffend auf die besonders verfassungsrechtlich verbürgte Schutzverpflichtung des Staates gegenüber der Familie hingewiesen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, InfAuslR 2000, 67 ff.; Beschluss vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 -, InfAuslR 2006, 122-126). Selbst die Ehe mit einem deutschen Partner schützt einen ausländischen Staatsangehörigen jedoch nicht absolut vor einer Abschiebung (BVerfG, Urteil v. 18. Juli 1973 - 1 BvR 23/73, 1 BvR 155/73 -, NJW 1974, 227 ff.; vgl. auch OVG Thüringen, Beschluss v. 25. Mai 2005 - 3 EO 114/05 -, ThürVBl. 2005, 207 ff., m.w.N.). Bei der gebotenen Abwägung des Interesses der Familie daran, ihre durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Fernhaltung eines Ausländers, von dem noch eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung ausgehen kann, ist hier die außerordentliche Schwere der Straftat des Antragstellers in Rechnung zu stellen, die wegen ihrer vom Landgericht festgestellten Umstände trotz zwischenzeitlicher Straflosigkeit noch ernsthafte Zweifel an der dauerhaften Rechtstreue des Antragstellers begründet. Dies gilt besonders, weil der Antragsteller schon bei Begehung der Straftat Vater von vier minderjährigen Kindern war. Von der Verabredung eines Mordgeschehens in einem Cafe mittels Sprengstoffs nur aus Gewinnsucht hat ihn dies nicht abgehalten. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass sich seine finanzielle Situation so wesentlich gebessert hätte, dass er aus diesem Grund als vor einem solchen Gewinnstreben gefeit anzusehen wäre. Allein der Erlass der restlichen Freiheitsstrafe nach Aussetzung nur der letzten zwei Wochen seiner insgesamt vier Jahre und sechs Monate betragenden Strafe zur Bewährung veranlasst den Senat zu keiner anderen Einschätzung, zumal die diesbezügliche Entscheidung des Landgerichts nicht auf eine positive Sozialprognose, sondern allein auf den Ablauf der Bewährungsfrist gestützt war. Ferner hat der Antragsteller weder mit dem Duldungsantrag noch im erstinstanzlichen Verfahren oder mit der Beschwerde näher dargelegt, dass er etwa eine besondere Fürsorgeleistung für seine Familie erbringen würde, die geeignet wäre, der Schutzwirkung gemäß Art 6 GG zusätzliches Gewicht zu verleihen. Vielmehr wird nur angegeben, er erbringe die gleichen Erziehungsleistungen wie seine Ehefrau. Gerade im Hinblick auf seine mehrjährige Inhaftierung von März 1998 bis September 2002 wäre aber die Darlegung seiner Sorgeleistungen für die Familie und deren Angewiesensein auf seine Anwesenheit substantieller gefordert gewesen. Der Hinweis auf befürchtete schwerwiegende Entwicklungsstörungen für sein jüngstes Kind im Falle einer auch nur vorübergehenden Trennung von ihm wird durch nichts konkretisiert und belegt. Im Duldungsantrag des Antragstellers vom 22. Juni 2005 war das jüngste, 2002 geborene Kind nicht einmal erwähnt worden.

Ein Anspruch des Antragstellers auf Befristung der Wirkungen der rechtskräftig gewordenen Ausweisung auf den Tag der freiwilligen Ausreise, wie beantragt, ist nach dem Vorstehenden nicht ersichtlich, zumal auch eine freiwillige Ausreisebereitschaft des Antragstellers, der am 9. Oktober 2006 zwangsweise zur Passbeschaffung dem Türkischen Generalkonsulat vorgeführt werden musste, nicht erkennbar ist. Im Übrigen käme eine etwa begehrte Befristung auf einen vor der Ausreise liegenden Zeitpunkt wegen der in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG vorgeschriebenen Anknüpfung des Fristbeginns an die Ausreise grundsätzlich nicht in Betracht. Soweit das Bundesverwaltungsgericht (Urteil v. 7. Dezember 1999 - 1 C 13.99 -, BVerwGE 110, 140, 150 f.) im Fall eines freizügigkeitsberechtigten EU-Ausländers entschieden hat, dass die Beseitigung der Ausweisungswirkungen nach Fortfall der die Einschränkung der Freizügigkeit rechtfertigenden Ausweisungsgründe und damit Fortfall des Ausweisungszwecks wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht von der vorherigen Ausreise abhängig gemacht werden kann, ist das Vorliegen entsprechender Voraussetzungen im Fall des Antragstellers gerade nicht ersichtlich. Weiterhin hat das Verwaltungsgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass das geltende Freizügigkeitgesetz/EU vom 30. Juli 2004 in § 7 Abs. 2 S. 3 nunmehr ausdrücklich vorsieht, dass selbst für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger die Frist erst mit der Ausreise zu laufen beginnt. Ferner ist dem Verwaltungsgericht darin zu folgen, dass diese Regelungen im Einklang mit der Erwägung Nr. 27 und mit Artikel 32 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 stehen. Danach können Personen, gegen die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ein Aufenthaltsverbot verhängt worden ist, nach einem entsprechend den Umständen angemessenen Zeitraum, in jedem Fall aber drei Jahre nach Vollstreckung des nach dem Gemeinschaftsrecht ordnungsgemäß erlassenen endgültigen Aufenthaltsverbots einen Antrag auf Aufhebung desselben unter Hinweis darauf einreichen, dass eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist, die das Aufenthaltsverbot gerechtfertigt haben. Maßgeblich ist danach nicht - wie der Antragsteller wohl meint - die seit der Entlassung aus der Strafhaft verstrichene Frist, sondern der Zeitraum nach Vollstreckung des Aufenthaltsverbots (bzw. Ausreise des Ausländers). Ein Anspruch auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots bereits vor seiner Vollstreckung bzw. vor einer Ausreise des betroffenen Ausländers besteht danach offensichtlich nicht. Dies bedarf ebenfalls keiner Klärung durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 3 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs.2 des Gerichtskostengesetzes - GKG -.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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