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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 29.06.2006
Aktenzeichen: OVG 12 N 63.05
Rechtsgebiete: AsylVfG, AufenthG


Vorschriften:

AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1
AufenthG § 60 Abs. 7
Grundsätzlich bedeutsame Änderungen der Sachlage, die erst nach dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eingetreten sind und von diesem daher nicht berücksichtigt wurden, rechtfertigen die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO oder § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG, sofern die darauf abstellenden Zulassungsgründe fristgerecht dargelegt wurden.
OVG 12 N 63.05

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 12. Senat durch ... am 29. Juni 2006 beschlossen:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 10. März 2005 wird zugelassen, soweit sie die begehrte Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG betrifft. Im Übrigen wird der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung abgelehnt.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe:

I. Der auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 AsylVfG gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet, soweit das Verwaltungsgericht es abgelehnt hat, die Beklagte zur Asylanerkennung sowie zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1, 2, 3 und 5 AufenthG zu verpflichten und die Abschiebungsandrohung aufzuheben. Insoweit hat der Kläger weder eine Grundsatzfrage noch einen Verfahrensmangel in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG genügenden Weise dargelegt.

II. Die Berufung ist hingegen gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG zuzulassen, soweit der Kläger die Frage aufgeworfen hat, ob für afghanische Kinder, die in der Bundesrepublik Deutschland geboren und aufgewachsen sind, im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan eine konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG (die Nennung des § 60 Abs. 2 AufenthG dürfte auf einem Versehen beruhen) besteht. Die Frage stellt sich, insbesondere im Hinblick auf die Regelung des § 14 a Abs. 2 AsylVfG (i.d.F des insoweit zum 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004, BGBl. I. S. 1950), in einer Vielzahl von Fällen und wurde vom Senat bislang nicht beantwortet.

Allerdings stellte sie sich dem Verwaltungsgericht im Hinblick auf die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung im Land Brandenburg noch bestehende ausländerrechtliche Erlasslage nicht und wurde zutreffend von ihm offen gelassen. Das hindert die Zulassung der Berufung jedoch nicht. Nach dem Erlass des Innenministeriums des Landes Brandenburg Nr. 8/2005 vom 22. Juli 2005 kann nämlich ab dem 1. Juli 2005 mit einer "Rückführung afghanischer Staatsangehöriger in einer überschaubaren Größenordnung" begonnen werden. Unter engen Voraussetzungen sieht der Erlass (zu III.) eine Bleiberechtsregelung vor, deren Voraussetzungen der Kläger jedoch nicht erfüllt. Auch im Hinblick darauf, dass er mit seinen Eltern und Geschwistern zusammenlebt, also nicht unter den Kreis der vorrangig zurückzuführenden Personen (Straftäter, allein stehende Männer) fällt, gewährt ihm die gegenwärtige Erlasslage in Brandenburg keinen mit dem nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bzw. § 60 a Abs. 1 AufenthG gleichwertigen Schutz (vgl. Urteil des Senats vom 5. Mai 2006 - OVG 12 B 11.05). Denn auch für Familien sieht der Erlass grundsätzlich die Rückführung vor, ohne ihnen ein weiteres Bleiberecht für einen bestimmten oder jedenfalls verlässlich bestimmbaren Zeitraum einzuräumen.

Ob Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse, die erst nach Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung eintreten, eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO bzw. des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG aufwerfen können, wird in der Rechtsprechung der Obergerichte unterschiedlich bewertet (ablehnend etwa Bayerischer VGH, Beschluss vom 5. April 1990 - 25 CZ 90.30148 -, BayVBl. 1990, 502; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 28. Februar 2001 - 1 Q 93/97 -, zit. nach juris). Der Senat schließt sich der Auffassung an, die eine Berücksichtigungsfähigkeit nachträglich eingetretener Tatsachen auch bei der Grundsatzrüge annimmt (so OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Januar 1998 - 10 A 4078/97 -, NVwZ 1998, 754 zu § 124 Abs. 1 VwGO; Thüringer OVG, Beschluss vom 31. März 1999 - 3 ZKO 1331/97 -, DÖV 1999, 609; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 4. Juli 2000 - A 9 S 1275/00 -, VBlBW 2001, 66 f., hier zit. nach juris; Schenk, in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: 1/1998, § 78 AsylVfG Rn. 63; Berlit, in: GK-AsylVfG, Stand 4/1998, § 78 AsylVfG Rn. 142; Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl., § 10 Rn. 63, sowie AsylVfG, 6. Aufl., § 78 Rn. 123 ff.; die Frage offen lassend für die Berufungszulassung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO BVerwG, Beschluss vom 23. April 1998 - 4 B 40/98 -, NVwZ 1998, 1179). Der Wortlaut der § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO und § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG, der nur verlangt, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, nicht jedoch, dass sie bereits für das erstinstanzliche Verfahren Bedeutung hatte, spricht ebenso dafür wie Gründe der Verfahrensökonomie (ebenso OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, a.a.O. zu § 124 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO). Dass die genannten Regelungen wie § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht der Einzelfallgerechtigkeit dienen, sondern der Sicherung einheitlicher Rechtsprechung, zwingt nicht dazu, nachträglich entstandene Grundsatzfragen auch im Berufungszulassungsverfahren unberücksichtigt zu lassen. Zwar verleiht eine Rechtsfrage, die sich nur auf eine nach der erstinstanzlichen Entscheidung in Kraft getretene neue Rechtsgrundlage bezieht, der Sache keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und erlaubt daher die Zulassung der Revision nicht (BVerwG, Beschluss vom 30. März 2005 - 1 B 11.05 -, Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 32). Dies lässt sich jedoch wegen der Befugnis des Berufungsgerichts zur Sachaufklärung nicht auf das Berufungszulassungsverfahren übertragen. Da gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG die Gründe darzulegen sind, aus denen die Berufung zuzulassen ist, bildet der Ablauf der hierfür eingeräumten Frist von zwei Wochen nach Zustellung des erstinstanzlichen Urteils (§ 78 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG) allerdings die äußere zeitliche Grenze einer Berufung auf die Klärungsbedürftigkeit der geänderten tatsächlichen Verhältnisse (vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl., § 124 Rn. 150).

Die Änderung der ausländerrechtlichen Erlasslage stellt sich, da es sich hierbei um Verwaltungsvorschriften handelt, als Änderung der Sachlage dar, nicht als Änderung der Rechtslage (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, Buchholz 402.240. § 53 AuslG Nr. 50, S. 79, 87 zu § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Sie hat zur Folge, dass die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan nunmehr entscheidungserheblich und grundsätzlicher Klärung zugänglich geworden ist.

Der Kläger hat mit seinem fristgerecht vorgelegten Zulassungsantrag dargelegt, dass sich im Hinblick auf das zu erwartende Auslaufen des bisherigen Abschiebungsstopps die Frage stellt, ob zurückkehrende Kinder in Afghanistan allgemeinen Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG ausgesetzt sind. Zwar war der Abschiebestopp zum Zeitpunkt des Ablaufs der Frist des § 78 Abs. 4 Sätze 1 und 4 AsylVfG noch in Kraft. Ob ein - rechtzeitig dargelegter - Zulassungsgrund besteht, die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse also eingetreten ist, beurteilt sich jedoch nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über den Zulassungsantrag (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. Dezember 2003 - 7 AV 2/03 -, Buchholz 310 § 124 VwGO Nr. 32 = NVwZ 2004, 744 zur Zulassung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Der Zulassungsantrag ist hinsichtlich der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG auch nicht deshalb abzulehnen, weil der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan nur mittelbar trennungsbedingten Gefahren im Abschiebezielstaat ausgesetzt wäre, die nicht die Beklagte, sondern allein die Ausländerbehörde bei der Vollstreckung der Abschiebung zu berücksichtigen hätte (hierzu BVerwG, Urteil vom 23. Mai 2000 - 9 C 2/00 -, zit. nach juris; Urteil vom 21. September 1999 - 9 C 12/99 -, BVerwGE 109, 305, 311). Bei gebotener realitätsnaher Prognose (BVerwG, a.a.O. S. 308) ist davon auszugehen, dass der Kläger gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern nach Afghanistan zurückkehren wird. Deren Asylfolgeantrag wurde mit Bescheid der Beklagten vom 11. April 2005 abgelehnt, und zwar auch hinsichtlich einer Feststellung nach § 60 Abs. 7 AufenthG. Am 16. Juni 2005 wurde ihnen eine Duldung erteilt. Mithin ist im Berufungsverfahren zwar nicht zu klären, ob der Kläger in Afghanistan mittelbar trennungsbedingten Gefahren ausgesetzt ist, wohl aber, ob ihm im Falle einer Abschiebung gemeinsam mit seinen Angehörigen Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG drohen. Für Familien mit Kindern liegt eine diesbezügliche Entscheidung des Senats noch nicht vor.

III. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

IV. Prozesskostenhilfe konnte dem Kläger nicht gewährt werden, weil er seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht nachgewiesen hat. Eines gerichtlichen Hinweises bedurfte es nicht mehr, nachdem schon das Verwaltungsgericht aus diesem Grunde Prozesskostenhilfe versagen musste. Soweit der Zulassungsantrag erfolglos geblieben ist, fehlt es auch an der notwendigen hinreichenden Aussicht auf Erfolg, § 166 VwGO, § 114 ZPO. Im Übrigen bleibt es dem Kläger unbenommen, erneut einen ordnungsgemäßen Prozesskostenhilfeantrag zu stellen.

Ende der Entscheidung

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