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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 17.10.2006
Aktenzeichen: OVG 12 S 63.06
Rechtsgebiete: VwGO, AufenthG


Vorschriften:

VwGO § 123 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG § 60 a Abs. 2
AufenthG § 72 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 12 S 63.06

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 12. Senat durch den Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts und die Richter am Oberverwaltungsgericht und am 17. Oktober 2006 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 12. September 2006 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller eine Duldung zu erteilen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Antragsgegner.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO hat Erfolg. Der Antragsteller hat mit seinem Beschwerdevorbringen einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung wegen einer ihm im Kosovo drohenden Gesundheitsverschlechterung glaubhaft gemacht. Hierbei kann offen bleiben, inwieweit die geltend gemachte psychische Erkrankung zugleich ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis bzw. -verbot darstellt.

Die Abschiebung ist nach § 60 a Abs. 2 AufenthG auszusetzen, solange sie aus rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Rechtliche Unmöglichkeit liegt u.a. beim Bestehen eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Voraussetzungen sind hier glaubhaft gemacht.

Zunächst bestehen keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Erlebnisse, die dem aus dem Kosovo stammenden Antragsteller, albanischer Volkszugehöriger katholischen Glaubens, seinen Angaben zufolge 1999 in seiner Heimat widerfahren sind. Er hat unmittelbar nach seiner Einreise eine ausführliche Stellungnahme der als "Listengutachterin" anerkannten Diplom-Psychologin P. vom 26. August 1999 vorgelegt, wonach er an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Als Trauma auslösendes Ereignis hatte der Antragsteller - in Übereinstimmung mit einer Bescheinigung des katholischen Pfarrers seiner Gemeinde - die Ermordung seiner Familie durch serbische Polizisten mit Beginn der NATO-Angriffe angegeben und diesen Vorfall im Einzelnen geschildert. Hierzu war er der Stellungnahme zufolge erst in einem dritten Gespräch in der Lage. Die von dem Antragsteller dargelegte Situation existenzieller Bedrohung, an deren Glaubhaftigkeit der Senat keinen Anlass zu zweifeln hat, und die bislang auch durch das Verwaltungsgericht nicht mit tragfähiger Begründung in Frage gestellt worden ist, ist grundsätzlich geeignet, eine posttraumatische Belastungsstörung zu verursachen (vgl. dazu Weltgesundheitsorganisation, Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 5. Auflage 2005, Bern et al., S. 169 f. - F.43.1 -; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41 f.). Chronifizierte Folgen von extremer Belastung können außerdem auch zur Entwicklung einer anhaltenden Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung (ICD 10 F. 62.0) führen, die Frau P. ebenfalls diagnostiziert hat (vgl. Weltgesundheitsorganisation, Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 5. Auflage 2005, Bern et al., S. 170).

Ferner ist mit dem Beschwerdevorbringen glaubhaft gemacht, dass der Antragsteller - aufgrund seiner Erlebnisse - an einer psychischen Erkrankung in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Die Zweifel des Verwaltungsgerichts, das die Erkrankung in dem angegriffenen Beschluss für nicht glaubhaft gemacht hält, sind durch eine weitere Stellungnahme der Diplom-Psychologin P. und die Angaben des Antragstellers im Beschwerdeverfahren bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein gebotenen summarischen Prüfung in einer Art und Weise erklärt, die jedenfalls im einstweiligen Anordnungsverfahren die Gewährung von Abschiebungsschutz gebietet.

Dies gilt insbesondere in Bezug auf die die Ablehnung maßgeblich tragende Annahme des Verwaltungsgerichts, dass der Antragsteller entgegen den psychologischen Stellungnahmen nicht unabdingbar auf die Hilfe seines Bruders bzw. Onkels angewiesen und nicht ohne jeden Kontakt sei, sondern über einen eigenen Freundeskreis verfüge, wo er auch wohne. Diese Würdigung hat das Verwaltungsgericht auf die als Gesprächsvermerk durch den Antragsgegner festgehaltene Einlassung des Antragstellers am Tag seiner Festnahme gestützt. Hierzu hat der Antragsteller im Beschwerdeverfahren erklärt, dass er lediglich deshalb angegeben habe, nicht bei seinem Bruder zu wohnen, um diesem und seinem Onkel nicht weitere Probleme zu bereiten. Die Glaubhaftigkeit dieser Erklärung wird dadurch bestätigt, dass der Antragsteller bei seiner Festnahme Schlüssel für die Wohnung seines Bruders mit sich führte und sein Begleiter, Herr R., gegenüber dem Antragsgegner schließlich erklärte, dass der Antragsteller sich nicht bei ihm, Herrn R., sondern bei seinem Bruder G. L. aufhalte (Ausländerakte, Bl. 145). Auch die Befragung des Antragstellers im Erörterungstermin gibt keinen Anlass, an den im Beschwerdeverfahren dargelegten Wohnverhältnissen zu zweifeln. Die spontane und mit Überzeugung geäußerte Bemerkung des Antragstellers, sein Bruder habe ihm das Leben gerettet, legt vielmehr nahe, dass der Antragsteller tatsächlich beachtliche Unterstützung durch seinen Bruder erfahren hat. Gelegentliche Kontakte des Antragstellers zu Landsleuten sprechen nicht grundsätzlich gegen einen "sozialen Rückzug".

Soweit die Diplom-Psychologin P. schließlich - vor allem in ihrer auf einem Gespräch im Abschiebegewahrsam basierenden Stellungnahme vom 4. Oktober 2006 - die mangelnde Aufnahme einer Therapie bzw. deren Abbruch, die lediglich sporadische Kontaktaufnahme des Antragstellers zu ihr und seinen "Rückzug in die Illegalität" als krankheits- und persönlichkeitsbedingt wertet, kann dies ohne - auch sachverständige - Aufklärung nicht abschließend beurteilt werden. Damit ist - angesichts der Gesamtumstände und der Glaubhaftmachung eines traumatisierenden Ereignisses - jedenfalls bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein gebotenen und möglichen summarischen Prüfung glaubhaft gemacht, dass die nur über wenige Monate erfolgte Behandlung im Jahr 2004 und das weitere Verhalten des Antragstellers nicht auf einer fehlenden Behandlungsbedürftigkeit beruhen.

Der Ansicht des Antragsgegners, dass das Bundesamt für Migration in der gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG im Rahmen einer gütlichen Beilegung (OVG 2 S 4.06) eingeholten Stellungnahme das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung zutreffend verneint habe, kann nicht gefolgt werden. Die Stellungnahme des BAMF vom 26. Juli 2006 ist bereits deshalb nicht aussagekräftig, weil sie - vor allem angesichts der dem BAMF nicht vorgelegten Bescheinigung vom 26. August 1999 - von unzutreffenden Tatsachen ausgeht. So stützt sich das BAMF maßgeblich darauf, dass in den (ihm vorliegenden) Stellungnahmen der Diplom-Psychologin P. vom 9. September 2004 und vom 25. Juli 2006 das traumatisierende Ereignis nicht genannt werde, sodass die Diagnose nicht nachvollziehbar sei. Dieser nicht haltbaren Würdigung hat das BAMF auch dann nichts Überzeugendes hinzugefügt, nachdem es weitere Bescheinigungen, u.a. die das traumatisierende Ereignis schildernde Stellungnahme vom 26. August 1999, erhalten hatte. Es kam vielmehr am 31. Juli 2006 ohne nachvollziehbare Begründung zu dem Ergebnis, dass die vorgelegten Unterlagen nicht geeignet seien, "eine andere Entscheidung herbeizuführen".

Zwar mag es sein, dass nach wie vor einige Umstände sowie einige der von dem Antragsteller gemachten Angaben auch gegen das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung sprechen können. Bei der Würdigung ist jedoch zu berücksichtigen, dass die eine PTBS betreffenden entscheidungserheblichen medizinischen Fachfragen (Art und Schwere der Erkrankung, Therapiemöglichkeiten, Einschätzung des Krankheitsverlaufs und der gesundheitlichen Folgen je nach Behandlung) in einem Hauptsacheverfahren mangels eigener Sachkunde des Gerichts jedenfalls dann von Amts wegen durch Sachverständigengutachten aufzuklären wären, wenn - wie hier - das der Diagnose zugrunde gelegte traumatisierende Erlebnis glaubhaft gemacht und deshalb eine zuverlässige Beurteilung der vorgelegten fachärztlichen oder psychologischen Stellungnahme ohne medizinische Sachkunde nicht möglich ist (vgl. dazu auch BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 2006 - 1 B 118/05 -, zit. nach juris; BVerwG, Beschluss vom 28. März 2006 - 1 B 91/05 -; s. ferner BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 2004, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 283). Insofern geht es hier gerade nicht um die Frage, ob der von Frau P. zugrunde gelegte Sachverhalt tatsächlich zutrifft. Im Übrigen zählt Frau P. zu den so genannten "Listengutachtern", deren Stellungnahme und Diagnose der Antragsgegner unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich ohne weitere Überprüfung anerkennt (vgl. z.B. VAB - Vorläufige Anwendungshinweise der Ausländerbehörde Berlin, Stand: 6. Oktober 2006, E. Serb.5 III.).

Da Frau P. dem Antragsteller u.a. in ihrer aktuellen Stellungnahme vom 4. Oktober 2006 bescheinigt hat, dass er bei einer erzwungenen Rückkehr in den Kosovo "massiv retraumatisiert" werde (zur Retraumatisierung vgl. Middeke, DVBl 2004, 156 f.; s. auch Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 44; Haenel/Birck, VBlBW 2004, 324), ist schließlich auch eine deutliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes bei einer Abschiebung in den Kosovo glaubhaft gemacht. Dies gilt selbst dann, wenn man - unabhängig vom Vorliegen eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses (vgl. VGH Mannheim, InfAuslR 2001, 384) - davon ausginge, dass trotz der Gefahr einer Retraumatisierung grundsätzlich kein Abschiebungsverbot vorliegt, sofern im Land des traumatisierenden Ereignisses eine Behandlungsmöglichkeit besteht (so OVG Münster, Urteil vom 15. April 2005 - 21 A 2152/03.A -, zitiert nach juris). Ob und unter welchen Voraussetzungen eine PTBS im Kosovo behandelbar ist, hängt u.a. entscheidend von der Art und Schwere der Erkrankung, deren Therapierbarkeit und dem Krankheitsverlauf ab. Dies bedarf hier - wie dargelegt - weiterer sachkundiger Aufklärung, zumal da nach derzeitiger Auskunftslage die Behandelbarkeit einer PTBS im Kosovo nicht ohne weiteres gewährleistet sein dürfte. So geht der aktuelle Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Serbien (Kosovo) vom 29. Juni 2006 zwar - anders noch als der Lagebericht vom 22. November 2005 - davon aus, dass eine Posttraumatische Belastungsstörung im Kosovo grundsätzlich behandelbar ist. Konkrete Angaben zu freien Behandlungsplätzen im privaten oder öffentlichen Gesundheitssektor können jedoch nicht gemacht werden (S. 21 f.). Auch besteht weiterhin der bereits in dem Lagebericht vom 22. November 2005 festgestellte Mangel an ausgebildetem Personal, sodass es auch aktuell im Kosovo "zu erheblichen Engpässen bei der psychiatrischen Behandlung kommt" (Lagebericht Juni 2006, S. 22).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 3 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 in Verbindung mit § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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