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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Urteil verkündet am 20.02.2008
Aktenzeichen: OVG 6 B 15.06
Rechtsgebiete: SGB X, BSHG, AG-BSHG Bbg


Vorschriften:

SGB X § 2 Abs. 3 Satz 2
BSHG § 97 Abs. 2 Satz 1
BSHG § 97 Abs. 2 Satz 2
BSHG § 100 Abs. 1 Nr. 1
AG-BSHG Bbg § 2 Abs. 2
AG-BSHG Bbg § 4 Abs. 1
AG-BSHG Bbg § 4 Abs. 2
In Kostenerstattungsstreitigkeiten betreffend Maßnahmen nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG ist das Land Brandenburg ab der Übertragung dieser Aufgaben als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung auf die örtlichen Träger der Sozialhilfe nicht mehr passivlegitimiert, denn die örtlichen Träger der Sozialhilfe werden nicht im Wege der "Organleihe" für das Land tätig (Abweichung von OVG für das Land Brandenburg, Urteil vom 15. April 1999 - 4 A 102/97).
OVG 6 B 15.06

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 6. Senat auf die mündliche Verhandlung vom 20. Februar 2008 durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Schultz-Ewert, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Scheerhorn, den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Oerke, den ehrenamtlichen Richter Schreiber und den ehrenamtlichen Richter Spielmann für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger, überörtlicher Träger der Sozialhilfe in Nordrhein-Westfalen, begehrt die Erstattung von für Herrn J_____ aufgewendeten Sozialhilfekosten.

Der im Jahr 1917 in Beeskow geborene Hilfeempfänger befand sich vom 10. Mai 1929 bis zu seinem Tode am 21. April 1996 in den von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Bielefeld. Zuvor war er vom 17. September bis 3. November 1928 in der Brandenburgischen Landesanstalt zu Potsdam untergebracht; seine Eltern hatten bis 1937 ihren Wohnsitz in Beeskow. Seit 1961 erhielt der Hilfeempfänger Eingliederungshilfe nach § 40 BSHG, ab dem 1. November 1995 wurde ihm Hilfe zur Pflege nach § 68 BSHG gewährt.

Im Jahre 1994 machte der Kläger gegenüber dem Beklagten einen Erstattungsanspruch hinsichtlich der für J_____ geleisteten Sozialhilfezahlungen geltend. Das Landesamt für Soziales und Versorgung lehnte mit Schreiben vom 17. November 1994 eine Kostenerstattung ab, verzichtete aber mit Schreiben vom 14. August 1995 im Hinblick auf anhängige Musterverfahren auf die Einrede der Verjährung. In der Folgezeit konnte keine Einigung erzielt werden.

Der Kläger hat am 21. Dezember 2001 Klage gegen das Land Brandenburg und gegen den Landkreis Oder-Spree erhoben. Er hat zuletzt beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger die Kosten für die Hilfegewährung an J_____im Zeitraum vom 9. März 1992 bis zum 21. April 1996 in Höhe von 223.946,44 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu erstatten.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Verwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 19. März 2002 das Verfahren abgetrennt, soweit sich die Klage gegen den Landkreis Oder-Spree wendet.

Mit Urteil vom 11. Mai 2006 hat das Verwaltungsgericht den Beklagten verurteilt, dem Kläger die Kosten für die Hilfegewährung im Zeitraum vom 14. November 1993 bis zum 31. Oktober 1995 in Höhe von 113.131,13 Euro zuzüglich 4 % Zinsen ab dem 21. Dezember 2001 zu erstatten; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung der Klageabweisung für den im Berufungsverfahren allein umstrittenen Zeitraum ab November 1995 hat das Verwaltungsgericht ausgeführt: Anspruchsgrundlage sei § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X. Der hiernach erforderliche Wechsel der Zuständigkeit sei mit der am 27. Juni 1993 in Kraft getretenen Neuregelung des § 97 BSHG eingetreten, weil nunmehr örtlich zuständig der Träger der Sozialhilfe sei, in dessen Zuständigkeitsbereich der Hilfeempfänger seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt vor der Aufnahme in eine Anstalt gehabt habe. Für den Zeitraum ab dem 1. November 1995 sei der Beklagte aber nicht passivlegitimiert, weil dem Hilfeempfänger ab diesem Zeitpunkt Hilfe zur Pflege gewährt worden sei, wofür der örtliche Träger der Sozialhilfe zuständig sei. Mit dem Zweiten Funktionalreformgesetz sei unter anderem diese Aufgabe den örtlichen Trägern der Sozialhilfe als Pflichtaufgabe zur Erfüllung nach Weisung übertragen worden. Hierdurch werde - entgegen der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Brandenburg - keine Organleihe begründet, die die Verantwortlichkeit des überörtlichen Trägers der Sozialhilfe weiter bestehen lasse, sondern es liege eine echte Aufgabenübertragung vor.

Der Kläger hat gegen das ihm am 3. Juni 2006 zugestellte Urteil am 15. Juni 2006 die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er ausgeführt: Das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht die Passivlegitimation des Beklagten für den Zeitraum ab dem 1. November 1995 abgelehnt. Das Land Brandenburg sei kraft materiellen Rechts Schuldner des Kostenerstattungsanspruchs aus § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X. Bei der Übertragung von Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung handele es sich, wie das Oberverwaltungsgericht für das Land Brandenburg entschieden habe, um Aufgaben in staatlicher Zuständigkeit. Es sei unerheblich, ob ein Fall der Organleihe vorliege.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 11. Mai 2006 teilweise zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm auch die für Herrn J_____ in der Zeit vom 1. November 1995 bis zum 21. April 1996 aufgewendeten Sozialhilfekosten in Höhe von 25.082,29 Euro zuzüglich 4 % Rechtshängigkeitszinsen zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er tritt dem Vortrag des Klägers entgegen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Erstattung der für Herrn B_____ im Zeitraum vom 1. November 1995 bis 21. April 1996 aufgewendeten Sozialhilfekosten. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass der Beklagte insoweit nicht passivlegitimiert ist.

Anspruchsgrundlage für den geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch des Klägers ist § 2 Abs. 3 Satz 2 SGB X. Hiernach hat bei einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit die nunmehr zuständige Behörde die nach dem Zuständigkeitswechsel erbrachten Leistungen auf Anforderung zu erstatten. Zur Kostenerstattung verpflichtet ist demnach der Rechtsträger, dessen Behörde für die Gewährung der Sozialhilfeleistung zuständig gewesen wäre.

Ein Wechsel der örtlichen Zuständigkeit ist eingetreten. Mangels spezieller Regelungen war für Leistungen der stationären Hilfe nach § 97 Abs. 1 Satz 1 BSHG in der bis zum 26. Juni 1993 geltenden Fassung örtlich zuständig der Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich sich der Hilfesuchende tatsächlich aufhielt. Gemäß Absatz 2 Satz 1 der ab dem 27. Juni 1993 in Kraft getretenen Fassung der Vorschrift ist für die Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich der Hilfeempfänger seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme hat oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hat. Im Falle eines Übertritts aus einer anderen Einrichtung ist gemäß Satz 2 der Vorschrift der gewöhnliche Aufenthalt entscheidend, der für die erste Einrichtung maßgebend war. Herr B_____ hatte, wie das Verwaltungsgericht überzeugend dargelegt hat und im Berufungsverfahren nicht bestritten worden ist, seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt vor der Heimaufnahme in Beeskow im heutigen Landkreis Oder-Spree des Landes Brandenburg.

Der Beklagte war indes sachlich nicht zuständig für die dem Hilfeempfänger ab dem 1. November 1995 bis zu seinem Tode gewährte Hilfe zur Pflege nach § 68 BSHG. Gemäß § 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Ausführung des Bundessozialhilfegesetzes (AG-BSHG) in der Fassung des Zweiten Funktionalreformgesetzes vom 13. Juni 1994 (2. BbgFRG - GVBl. I S. 382) wurden die Aufgaben nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG, unter anderem auch die Hilfe zur Pflege in stationären Einrichtungen, zum 1. Januar 1995 den örtlichen Trägern der Sozialhilfe als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung übertragen; die Zuständigkeit für einzelne, hier nicht einschlägige Aufgaben ging erst zum 1. Januar 1996 über (vgl. Art. 4 des 2. BbgFRG). Örtliche Träger der Sozialhilfe sind gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 BSHG i.V.m. § 1 Abs. 1 AG-BSHG die kreisfreien Städte und die Landkreise.

Entgegen der im Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Brandenburg vom 15. April 1999 - 4 A 102/97 - vertretenen Auffassung lässt die erfolgte Übertragung der Aufgaben auf die örtlichen Träger der Sozialhilfe die Zuständigkeit des beklagten Landes nicht unberührt. Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung als "originäre" bzw. "abgeschwächte" Selbstverwaltungsaufgaben oder als staatliche Aufgaben einzustufen sind (vgl. zu dieser Frage Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Urteil vom 17. Oktober 1996 - VfGBbg 5/95 -, NVwZ-RR 1997, 352), denn diese rechtliche Einordnung erlangt nur Bedeutung für die hier nicht interessierende Frage, ob der Selbstverwaltungskörperschaft im Hinblick auf die ihr übertragene Aufgabe eigene Rechte zustehen, sie sich etwa gegen Weisungen der Aufsichtsbehörde zur Wehr setzen kann. Art. 97 Abs. 3 der Landesverfassung sowie § 2 Abs. 3 Satz 3 der Landkreisordnung und § 3 Abs. 4 Satz 3 der Gemeindeordnung gehen indes schon ihrem Wortlaut nach davon aus, dass auch Aufgaben des Landes auf die Landkreise und Gemeinden übertragen werden können.

Die Landkreise und kreisfreien Städte werden bei der Erfüllung der Aufgaben nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG nicht im Wege der "Organleihe" für das Land tätig. Das Institut der Organleihe ist dadurch gekennzeichnet, dass das Organ eines Rechtsträgers ermächtigt und beauftragt wird, einen Aufgabenbereich eines anderen Rechtsträgers in dessen Namen wahrzunehmen. Das "entliehene" Organ wird hierbei als Organ des Entleihers tätig, dessen Weisungen es unterworfen ist und dem die von diesem Organ getroffenen Maßnahmen und Entscheidungen zugerechnet werden; der entliehenen Einrichtung wachsen keine neuen Kompetenzen zu (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983 - 2 BvL 23/81 -, BVerfGE 63, 1). Die Landräte der Landkreise und die Oberbürgermeister der kreisfreien Städte werden auch regelmäßig im Wege der Organleihe für das Land tätig, denn sie sind nach § 7 Abs. 2 des Landesorganisationsgesetzes (LOG) in der Fassung vom 12. September 1994 (GVBl. I S. 406) bzw. § 11 Abs. 2 LOG in der Fassung vom 24. Mai 2004 (GVBl. I. S. 298, 300) allgemeine untere Landesbehörde. § 2 Abs. 2 AG-BSHG in der Fassung vom 13. Juni 1994 delegiert die Aufgaben nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG aber nicht lediglich an die Landräte und Oberbürgermeister, sondern überträgt sie auf die Landkreise und kreisfreien Städte, mithin die Rechtsträger selbst und nicht lediglich ihr Organe. Hieraus folgt, dass die Kreise bzw. kreisfreien Städte bei der Erfüllung von Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung selbst Träger der Aufgabe sind und die Landräte bzw. Oberbürgermeister die Aufgaben als Organe der Kreis- oder Stadtverwaltung durchführen (vgl. allgemein zu Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung Lörler, in: Simon/Franke/Sachs, Handbuch der Verfassung des Landes Brandenburg, § 15 Rdnr. 18). Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass dem Land bei der Erfüllung der Aufgaben nach § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG ein staatliches Weisungsrecht zusteht und das Land gemäß § 4 Abs. 2 AG-BSHG zum Ausgleich der den örtlichen Trägen der Sozialhilfe durch die Übertragung dieser Aufgaben entstehenden angemessenen und notwendigen Kosten verpflichtet ist, denn diese Rechte und Pflichten regeln lediglich das "Innenverhältnis" zwischen dem Land und den Landkreisen bzw. kreisfreien Gemeinden. Im Außenverhältnis sind die Landkreise und kreisfreien Städte nach § 4 Abs. 1 AG-BSHG dazu verpflichtet, die Kosten für die ihnen übertragenen Aufgaben zu tragen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 188 Satz 2 VwGO in der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung nicht erhoben (vgl. § 194 Abs. 5 VwGO). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.

Ende der Entscheidung

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