Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 14.10.2009
Aktenzeichen: OVG 6 S 33.09
Rechtsgebiete: VwGO, SGB VIII, SGB X


Vorschriften:

VwGO § 80 Abs. 5
VwGO § 146 Abs. 4
SGB VIII § 42
SGB X § 45
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERVERWALTUNGSGERICHT BERLIN-BRANDENBURG BESCHLUSS

OVG 6 S 33.09

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 6. Senat durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Schultz-Ewert, die Richterin am Oberverwaltungsgericht Scheerhorn und den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Schreier am 14. Oktober 2009 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 4. September 2009 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners ist unbegründet.

Nach dem im Beschwerdeverfahren maßgebenden Prüfungsstoff (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) hat das Verwaltungsgericht zu Recht die aufschiebende Wirkung der Klage VG 18 K 261.09 gegen den Bescheid der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung vom 10. August 2009 wiederhergestellt. Gegenstand des Bescheides ist die Rücknahme der auf der Grundlage von § 42 SGB VIII erfolgten Inobhutnahme der nach eigenen Angaben aus Kenia stammenden, 15 Jahre alten Antragstellerin nach § 45 SGB X, weil diese nach Ansicht des Antragsgegners das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat.

1. Im Rahmen der bei Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen Interessenabwägung, deren Ausgang sich regelmäßig maßgeblich nach den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs im Hauptsacheverfahren richtet, ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage offen sei, weil sich nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand mangels ausreichender Tatsachengrundlage nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen lasse, dass die Rücknahme der Inobhutnahme durch den angefochtenen Bescheid rechtmäßig sei; es bedürfe insoweit vielmehr näherer Aufklärung des Sachverhalts durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Altersbestimmung der Antragstellerin oder ggf. anderer Aufklärungsmaßnahmen.

Rechtsgrundlage der Rücknahme ist § 45 Abs. 1 SGB X. Danach darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen lässt sich nach Aktenlage gegenwärtig nicht hinreichend sicher feststellen.

Die auf § 42 Abs. 1 SGB VIII gestützte Inobhutnahme, die der Antragsgegner hier am 9. August 2009 vorgenommen hat, ist ein begünstigender Verwaltungsakt (vgl. Beschluss des Senats vom 12. Mai 2009 - OVG 6 S 8.09/OVG 6 M 10.09 -, juris). Er setzt für seine Rechtmäßigkeit voraus, dass die in Obhut genommene Person das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Ob das der Fall ist, kann nach gegenwärtiger Aktenlage nicht mit der erforderlichen Gewissheit gesagt werden.

Die Antragstellerin selbst gibt an, am 13. August 1994 geboren und damit erst 15 Jahre alt zu sein. Ihren Angaben anlässlich der Befragung bei ihrer Erstaufnahme in die Obhut des Antragsgegners lässt sich nichts entnehmen, was hierzu in Widerspruch stünde und deshalb die Richtigkeit ihrer Altersangabe in Zweifel zöge. Die in Fragen der Altersschätzung von Jugendlichen aus Schwarzafrika erfahrenen Mitarbeiter des Antragsgegners (vgl. auch Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg vom 13. Juli 2009 - OVG 3 S 24.09 -), die eine Befragung der Antragstellerin durchgeführt und sich bei dieser Gelegenheit einen Eindruck von ihrem Alter verschafft haben, kommen zwar zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin älter ist als sie selbst angibt und möglicherweise das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat. Die insoweit getroffenen Feststellungen bilden jedoch für sich genommen keine ausreichend zuverlässige Grundlage zur Alterseinschätzung. Die Antragstellerin hat danach zwar sehr tief eingeprägte Stirnfalten, sichtbare Halsfalten, den Körperbau einer jungen Frau und die Statur eines jungen Erwachsenen (Bl. 5 VV). Das rechtfertigt aber für sich genommen nicht die Annahme, sie sei bereits 18 Jahre alt. Der Antragsgegner hat nicht dargelegt und es ist auch nicht ersichtlich, dass es Untersuchungen gibt, wonach das Vorhandensein der vom Antragsgegner festgestellten Merkmale mit ausreichender Sicherheit diesen Schluss zuließe. Anders als etwa bestimmte Befunde aufgrund zahnmedizinischer Untersuchungen ist das Vorhandensein von Falten an der Stirn oder am Hals kein anerkanntes Kriterium zur Altersbestimmung.

Soweit der Antragsgegner seine Alterseinschätzung weiter damit begründet, dass "Gestik, Mimik, Habitus sowie sichtbar gewordener Reife- und Entwicklungsgrad [...] darauf schließen [lassen], dass es sich um eine volljährige Frau handelt", gilt dies erst recht. Diese Ausführungen entziehen sich einer gerichtlichen Nachprüfung. Sie sind das Ergebnis einer wertenden Betrachtung, legen aber weder dar, welches Verhalten der Antragstellerin Anlass zu dieser Einschätzung gegeben hat, noch lassen sie erkennen, inwiefern sich Gestik, Mimik und Habitus etwa einer 15 oder 16jährigen von der einer 18jährigen unterscheiden.

Dass der Antragsgegner vorträgt, zwischenzeitlich eine zahnärztliche Begutachtung der Antragstellerin in Auftrag gegeben zu haben, vermag an dieser Einschätzung nichts zu ändern. Insbesondere war es nicht angezeigt, mit der Entscheidung bis zur Vorlage eines solchen Gutachtens zuzuwarten. Würde der Antragsgegner ein seine Alterseinschätzung bestätigendes, hinreichend aussagekräftiges zahnärztliches Gutachten nachreichen, wäre dies in jedem Fall erst nach Ablauf der am 9. Oktober 2009 abgelaufenen Frist zur Begründung der Beschwerde und damit verspätet. Denn im Beschwerdeverfahren ist der Beschwerdeführer nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist mit qualitativ neuem Vorbringen, welches über eine Ergänzung und Vertiefung der fristgerecht geltend gemachten Beschwerdegründe hinausgeht, gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO grundsätzlich ausgeschlossen. Das gilt auch unabhängig davon, ob der Beschwerdeführer die nicht fristgerechte Geltendmachung zu vertreten hat (VGH Mannheim, Beschluss vom 8. Juni 2006 - 11 S 2135/05 -, NVwZ-RR 2006, S. 849, hier zitiert nach juris, Rn. 20; ferner: Beschluss des Senats vom 26. April 2007 - OVG 6 S 2.07 -, S. 5 f. EA). Ein zahnärztliches Gutachten wäre nach Auffassung des Senats nicht nur eine bloße - im Beschwerdeverfahren noch berücksichtigungsfähige - Vertiefung und Ergänzung der fristgerecht vorgebrachten Beschwerdegründe, sondern ein qualitativ neues Vorbringen, das der Überprüfung in einem neuen Verfahren vorbehalten ist. Auf die Gründe, derentwegen der Antragsgegner die Einholung eines Sachverständigengutachtens bisher versäumt hatte (Erkrankung zweier zuständiger Mitarbeiter sowie die hohe Zahl von Flüchtlingen, die Bedarf für Überprüfung ihrer Altersangaben auslösen), kommt es nicht entscheidend an.

2. Ist danach der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend gewiss, ist das Verwaltungsgericht im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung der gegenseitigen Interessen zu Recht von einem Überwiegen der Interessen der Antragstellerin an der weiteren Inobhutnahme ausgegangen. Dies hat es nachvollziehbar damit begründet, die vom Antragsgegner angeführte Gefährdung des pädagogischen Konzepts der Inobhutnahme-Stelle sei nicht überzeugend dargelegt, zumal der Altersunterschied zwischen dort in Obhut genommenen 17jährigen und einer 18jährigen nicht von so großer Qualität oder Bedeutung sei, dass hierdurch das pädagogische Konzept der Einrichtung gefährdet oder nicht mehr durchführbar wäre. Dies allein trägt bereits das Ergebnis der Interessenabwägung und wird durch die vom Antragsgegner mit der Beschwerde erhobenen Einwendungen, mit denen er sich im Wesentlichen gegen den vom Verwaltungsgericht zusätzlich angeführten Gesichtspunkt wendet, auch in anderen pädagogischen Einrichtungen würde Jugendhilfe gelegentlich über das 18. Lebensjahr hinaus gewährt, nicht in Frage gestellt.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 188 Satz 2 VwGO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

Zurück