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Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Urteil verkündet am 05.07.2006
Aktenzeichen: OVG 7 B 16.05
Rechtsgebiete: ARB 1/80, RL 64/221/EWG, RL 2004/38/EG, VwVfG, VwGO
Vorschriften:
ARB 1/80 Art. 7 Satz 1 | |
RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1 | |
RL 2004/38/EG Art. 31 | |
RL 2004/38/EG Art. 38 Abs. 2 | |
VwVfG § 46 | |
VwGO § 113 |
2. Auch nach dem 30. April 2006 kann sich ein assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger auf Art. 9 RL 64/221/EWG berufen, sofern die Ausweisungsverfügung vor diesem Zeitpunkt erlassen und noch nicht bestandskräftig geworden ist.
OVG 7 B 16.05
Verkündet am 05. Juli 2006
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 7. Senat auf die mündliche Verhandlung vom 05. Juli 2006 durch die Richterinnen am Oberverwaltungsgericht Merz und Plückelmann, den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Bodanowitz, den ehrenamtlichen Richter Neumann sowie die ehrenamtliche Richterin Nitzsche-Oberhof für Recht erkannt:
Tenor:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 29. April 2004 wird geändert. Der Bescheid des Landeseinwohneramtes Berlin vom 31. Oktober 2003 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung und begehrt die Verlängerung seiner ihm zuletzt bis zum 14. Dezember 1999 erteilten Aufenthaltserlaubnis.
Er ist türkischer Staatsangehöriger, wurde 1977 in Berlin geboren und wuchs zusammen mit seinen Geschwistern im Haushalt seiner Mutter auf. Diese war seit August 1975 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis und von Juli 1969 bis zu ihrem Tode im Januar 2001 als Arbeitnehmerin beschäftigt. Der Kläger erreichte weder einen Schul- noch einen Berufsabschluss, war überwiegend arbeitslos und lebte weiterhin bei seiner Mutter, die ihn unterhielt.
Strafrechtlich ist er bereits seit seiner frühesten Kindheit in Erscheinung getreten. In der Zeit von Dezember 1993 bis Mai 2002 ist er neunmal zu Jugendstrafen, später u.a. wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu Geld- und Freiheitsstrafen verurteilt worden. Von März 2001 bis April 2003 war der Kläger inhaftiert.
Mit Bescheid vom 31. Oktober 2003 wies das Landeseinwohneramt Berlin den Kläger wegen der strafrechtlichen Verurteilungen aus spezial- und generalpräventiven Gründen unter Annahme einer Wiederholungsgefahr aus, lehnte die am 17. Dezember 1999 beantragte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an.
Das Verwaltungsgericht hat die dagegen gerichtete Klage durch Urteil vom 29. April 2004 mit der Begründung abgewiesen, der angegriffene Bescheid sei rechtmäßig und stehe insbesondere im Einklang mit den einschlägigen europarechtlichen Regelungen.
Von April bis Oktober 2004 verbüßte der Kläger erneut eine Freiheitsstrafe. In diese Zeit fällt eine weitere strafrechtliche Verurteilung wegen eines Betäubungsmitteldelikts.
Das Oberverwaltungsgericht Berlin hat auf Antrag des Klägers mit Beschluss vom 18. Januar 2005, dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 27. Januar 2005, die Berufung zugelassen. Nachdem der Kläger mit Schreiben des Gerichts vom 11. März 2005 auf den Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 27. Februar 2005 hingewiesen worden war, hat er mit am 18. März 2005 eingegangenen anwaltlichen Schriftsatz die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, eine Berufungsbegründung eingereicht und vorgetragen, der Schriftsatz mit der Berufungsbegründung sei von einer Mitarbeiterin seines Prozessbevollmächtigten am 18. Februar 2005 angefertigt und in einem frankierten, an das Oberverwaltungsgericht adressierten Briefumschlag am selben Tag in einen - näher bezeichneten - Briefkasten der Deutschen Post eingeworfen worden. Zur Glaubhaftmachung reicht er eine eidesstattliche Versicherung der Mitarbeiterin und ein Schreiben der Deutschen Post ein, in dem mitgeteilt wird, dass die beantragte Nachforschung erfolglos verlaufen sei.
Zur Begründung der Berufung macht der Kläger unter Bezugnahme auf die neueste Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Wesentlichen geltend, die Ausweisungsverfügung leide an einem unheilbaren Verfahrensfehler, da ein Widerspruchsverfahren nicht durchgeführt worden sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 29. April 2004 zu ändern und den Bescheid des Landeseinwohneramtes Berlin vom 31. Oktober 2003 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er vertritt die Auffassung, das Vorliegen eines zur Aufhebung des angefochtenen Bescheides führenden, unheilbaren Verfahrensmangels könne nicht (mehr) ohne weiteres angenommen werden. Angesichts der am 30. April 2006 erfolgten Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch Artikel 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG stelle sich die Frage, ob auch hinsichtlich verfahrensrechtlicher Anforderungen der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Ausweisung eines ARB-Berechtigten derjenige der letzten mündlichen Verhandlung sei, sodass die Verfahrensgarantie des Artikel 9 RL 64/221/EWG ab dem 1. Mai 2006 auch für davor erlassene Ausweisungen ihre Bedeutung verlieren würde. Der Hinweis des Bundesverwaltungsgerichts in der Entscheidung vom 13. September 2005, die Vorschrift sei nach wie vor anzuwenden, die Richtlinie 64/221/EWG werde durch die Richtlinie 2004/38/EG erst mit Wirkung vom 30. April 2006 aufgehoben, könnte als Indiz dafür gewertet werden, dass das Bundesverwaltungsgericht eine solche rechtliche Folge der Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG zumindest in Erwägung ziehe. Damit würde die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach die Ausweisung eines ARB-Berechtigten an der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung gemessen werden müsse, konsequent umgesetzt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von den Beteiligten gewechselten Schriftsätze verwiesen. Die den Kläger (3 Hefter und 1 Halbhefter), seine Mutter (1 Hefter) und H_____ (1 Hefter) betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten sowie die Akten der Staatsanwaltschaft Berlin zu den Aktenzeichen 80 Js 1895/97 (6 Hefter), 210 Ds 1712/00 (1 Hefter) und 3 Op Js 707/03 (1 Hefter) haben vorgelegen und sind zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.
Entscheidungsgründe:
A. Die Berufung ist zulässig.
Dem Kläger wird auf seinen zulässigen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt (§ 60 Abs. 1 VwGO). Er war ohne eigenes und ihm zuzurechnendes Verschulden seines Prozessbevollmächtigten (§ 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO) an der Wahrung der Frist zur Begründung der Berufung (§ 124 a Abs. 6 Satz 2 VwGO) gehindert.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat glaubhaft gemacht (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO), dass der Schriftsatz vom 18. Februar 2005 mit der Berufungsbegründung an diesem Tag und damit rechtzeitig vor Ablauf der Begründungsfrist am 27. Februar 2005 von seiner Mitarbeiterin in einen näher bezeichneten Briefkasten der Deutschen Post AG eingeworfen worden und auf dem Postweg verloren gegangen ist (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 25. November 2002, Buchholz 310 § 92 VwGO Nr. 17; Beschluss vom 25. Juni 1996, NJW 1996, 2808; BGH, Beschluss vom 5. Februar 2003, NJW-RR 2003, 862).
B. Die Berufung ist auch begründet.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen.
I. Die in dem angefochtenen Bescheid des Landeseinwohneramtes Berlin vom 31. Oktober 2003 verfügte Ausweisung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Ausweisungsverfügung entspricht nicht den gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien der Richtlinie 64/221/EWG - RL 64/221/EWG -, die im Fall des Klägers als eines assoziationsrechtlich begünstigten türkischen Staatsangehörigen Anwendung finden.
1. Der Kläger kann sich auf ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - berufen. Er ist in Berlin geboren und im Haushalt seiner Mutter aufgewachsen, einer türkischen Staatsangehörigen, die sich als Arbeitnehmerin rechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten hatte. Diese Rechtsstellung hat der Kläger auch nicht durch die wiederholte Verbüßung einer Strafhaft verloren. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs können die Rechte, die Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben haben, nur nach Art. 14 ARB 1/80 beschränkt werden, nämlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, oder weil der Betroffene das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedsstaats während eines erheblichen Zeitraums ohne berechtigte Gründe verlassen hat (vgl. Urteil vom 11. November 2004, InfAuslR 2005, 13).
2. Der Bescheid des Landeseinwohneramtes Berlin vom 31. Oktober 2003 entspricht nicht den Verfahrensanforderungen des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG.
Nach dieser Vorschrift trifft die Verwaltungsbehörde in Fällen, in denen keine Rechtsmittel gegeben sind, die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, die Entscheidung über u.a. die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann. Diese Stelle muss eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, der unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gilt, ist auch auf türkische Staatsangehörige anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. September 2005, InfAuslR 2006, 110).
a) In Ausweisungsverfahren gegen assoziationsrechtlich begünstigte türkische Staatsangehörige wird - außer in dringenden Fällen - Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in Deutschland verletzt, wenn - wie im vorliegenden Fall - weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird (behördliches Vorverfahren i.S.v. § 68 VwGO). Denn das deutsche verwaltungsgerichtliche Rechtsschutzsystem sieht lediglich eine Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der Ausweisungsverfügung, nicht jedoch eine Überprüfung nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten vor (vgl. BVerwG, a.a.O.).
b) Die Einschaltung einer unabhängigen Stelle war auch nicht entbehrlich, da kein dringender Fall i.S.v. Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorlag. Die Annahme eines solchen scheidet aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibt und selbst auf die Anordnung der sofortigen Vollziehung verzichtet (vgl. BVerwG, a.a.O.). Vorliegend hat der Beklagte zu erkennen gegeben, dass er die Durchsetzung der Abschiebung nicht als eilig ansieht, da er nicht versucht hat, unverzüglich auf die Abschiebung des Klägers hinzuwirken. Er hat davon abgesehen, die sofortige Vollziehung der Ausweisungsverfügung vom 31. Oktober 2003 anzuordnen, und eine Abschiebung des am 6. April 2004 inhaftierten Klägers erst zum Ende von dessen Strafhaft am 8. November 2004 geplant.
c) Dieser Mangel im Verwaltungsverfahren führt zur Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides.
Dem steht nicht entgegen, dass Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG mit Wirkung vom 30. April 2006 aufgehoben wurde (vgl. Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG - RL 2004/38/EG -) und die bei Vorliegen der darin genannten Voraussetzungen zwingend vorgeschriebene Einschaltung einer unabhängigen Stelle in den nunmehr geltenden Vorschriften der RL 2004/38/EG nicht mehr vorgesehen ist (a.A. VG Düsseldorf, Beschluss vom 10. Februar 2006, InfAuslR 2006, 263 <265>, ohne Begründung).
Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts ist grundsätzlich dem materiellen Recht zu entnehmen (vgl. u.a. Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Oktober 2005, § 113 Rnr. 21 FN 109 m.w.N.). Für die Rechtmäßigkeit von Ausweisungen assoziationsrechtlich begünstigter türkischer Staatsangehöriger gilt zwar nach der geänderten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.04 -, InfAuslR 2005, 26). Damit hat das Bundesverwaltungsgericht dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 29. April 2004 (DVBl. 2004, 876) Rechnung getragen und die Tatsachengerichte künftig verpflichtet zu prüfen, ob die behördliche Gefährdungsprognose und die Ermessensentscheidung bezogen auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Ergebnis auf einer zutreffenden tatsächlichen Grundlage beruhen (BVerwG, a.a.O.).
Diese - ausweislich der näheren Begründung des Bundesverwaltungsgerichts in dem o.a. Urteil - auf die Gefahrenprognose und Interessenabwägung bezogene Verschiebung des maßgeblichen Beurteilungszeitpunkts ist jedoch nicht auf die Frage zu übertragen, welchen verfahrensrechtlichen Anforderungen die Behörde vor bzw. bei Erlass des Ausweisungsbescheides genügen musste. Insoweit ist nach wie vor auf die zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften abzustellen. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der zum Zeitpunkt der tatsächlichen Ausweisung erforderlichen gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung ebenso wie der an den Grundrechten und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu orientierenden Interessenabwägung sich verändernde Lebenssachverhalte zu Grunde liegen, während es sich bei dem einer Ausweisung vorangehenden Verwaltungsverfahren um einen in jeder Hinsicht abgeschlossenen Vorgang handelt. Unabhängig hiervon enthält die RL 2004/38/EG weder eine ausdrückliche Regelung noch ist ihr in sonstiger Weise zu entnehmen, dass die nach der alten Rechtslage ggf. erforderliche Einschaltung einer unabhängigen Stelle in Fällen entbehrlich ist, in denen über die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung zwar noch nicht rechtskräftig entschieden, das vorgeschaltete Verwaltungsverfahren aber bereits abgeschlossen ist, und zwar - wie hier - schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist. Ebenso wenig sind Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass mit der Neuregelung der in Art. 31 RL 2004/38/EG für Ausweisungen festgelegten Verfahrensgarantien beabsichtigt war, den Ausländern, die von einer während der Geltung der RL 64/221/EWG verfügten Ausweisung betroffen sind, das ihnen bei einem Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie bereits eingeräumte Recht, sich darauf berufen zu können, nachträglich wieder zu nehmen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die durch Art. 8 und 9 RL 64/221/EWG eingeräumten Verfahrensgarantien auf die Rechte aus dem Beschluss ARB 1/80 beziehen und untrennbar mit diesen verbunden sind (vgl. EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005, NVwZ 2006, 72). Gegen eine solche Wirkung der RL 2004/38/EG spricht weiter, dass die in Art. 9 RL 64/221/EWG als Ausgleich für die aus Sicht des Gemeinschaftsrechts ggf. bestehenden Mängel im nationalen Rechtsschutz zwingend vorgeschriebene Einschaltung einer unabhängigen und vor Erlass der eigentlichen Verwaltungsentscheidung einzuschaltenden Stelle nicht ersatzlos weggefallen ist. Vielmehr werden stattdessen nunmehr - ebenfalls zwingend - detaillierte Forderungen für die Ausgestaltung des nationalen Rechtsschutzes aufgestellt, wobei die negativen Tatbestandsmerkmale des Art. 9 RL 64/221/EWG (Fehlen von Rechtsmitteln, Beschränkung der Überprüfung auf die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung, Fehlen einer aufschiebenden Wirkung) durch positive Vorgaben in Art. 31 RL 2004/38/EG (Vorhalten einer Rechtsbehelfsmöglichkeit <Abs. 1>, Abschiebungsschutz im Falle eines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz <Abs. 2>, Inhalt und Umfang der in einem Rechtsbehelfsverfahren vorzunehmenden Überprüfung <Abs. 3>) ersetzt werden. Darin liegt gleichzeitig eine grundlegende Änderung des Systems der bisher geltenden Verfahrensgarantien, sodass es sachgerecht ist, die Neuregelung nur auf zeitlich nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist liegende Sachverhalte anzuwenden. Die gegenteilige Auffassung hätte nicht nur zur Folge, dass die nach altem Recht ggf. gebotene Einschaltung einer unabhängigen Stelle nunmehr entfiele, vielmehr wären auch abgeschlossene Verwaltungsverfahren insgesamt an den Anforderungen des Art. 31 RL 2004/38/EG zu messen, ohne dass die betroffene Behörde bzw. der nationale Gesetzgeber die Möglichkeit gehabt hätte, sich bei Erlass der angefochtenen Ausweisungsverfügung gemeinschaftsrechtskonform zu verhalten.
3. Der festgestellte Mangel im Verwaltungsverfahren ist unheilbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Oktober 2005, InfAuslR 2006, 114) und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er kann die Aufhebung der mit Bescheid vom 31. Oktober 2003 verfügten Ausweisung beanspruchen.
§ 46 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 BlnVwVfG, wonach unter bestimmten Voraussetzungen die Verletzung von Vorschriften über das Verfahren unbeachtlich ist, findet auf den hier vorliegenden Verstoß gegen gemeinschaftsrechtliche Verfahrensgarantien keine Anwendung (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 7. Februar 2006, InfAuslR 2006, 260, m.w.N.).
Diese Vorschrift erfasst nicht sog. absolute Verfahrensvorschriften. Solche liegen vor, wenn die verfahrensrechtlichen Bestimmungen nicht nur der Ordnung des Verfahrensablaufs, insbesondere einer umfassenden Information der Verwaltungsbehörde dienen, sondern dem Betroffenen eine eigene, unabhängig vom materiellen Recht durchsetzbare Rechtsposition gewähren wollen (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl. 2005, § 46 Rnr. 18). Die Verfahrensvorschriften des Gemeinschaftsrechts werden nach ganz herrschender Meinung wie absolute Verfahrensvorschriften behandelt. Das Erfordernis einer effektiven einheitlichen Wirkung des Gemeinschaftsrechts (sog. "effet utile") schließt eine Anwendung des § 46 VwVfG aus (vgl. Kopp/Ramsauer, a.a.O., Rnr. 20; VG Stuttgart, a.a.O., m.w.N.). Die verfahrensrechtlichen Garantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sind untrennbar mit dem (materiellen) Recht der Arbeitnehmer - Unionsbürger und türkische Staatsangehörige, denen Rechte nach dem ARB 1/80 zustehen - auf Freizügigkeit sowie Beschäftigung und ein entsprechendes Aufenthaltsrecht verbunden (vgl. EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005, a.a.O.) und daher wie absolute Verfahrensvorschriften des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts zu behandeln.
II. Der Bescheid des Landeseinwohneramtes Berlin vom 31. Oktober 2003 ist auch insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), als darin die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung abgelehnt wird. Der Kläger hat als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger unmittelbar aus Art. 7 ARB 1/80 einen Anspruch darauf, dass ihm eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird (vgl. u.a. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 1995, BVerwGE 98, 31).
Die in dem angefochtenen Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung ist mangels der erforderlichen Ausreisepflicht ebenfalls rechtswidrig.
C. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
D. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Satz 1VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Ende der Entscheidung
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