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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 20.04.2006
Aktenzeichen: OVG 7 S 13.06
Rechtsgebiete: AufenthG, VwVfG, BlnVwVfG, AuslG, VwGO


Vorschriften:

AufenthG § 60 a Abs. 2
VwVfG § 51
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
BlnVwVfG § 1 Abs. 1
AuslG § 47
VwGO § 146 Abs. 4 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 7 S 13.06

In der Verwaltungsstreitsache

hat der 7. Senat durch den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Korbmacher und die Richterin am Oberverwaltungsgericht Merz und den Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Bodanowitz am 20. April 2006 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 25. Januar 2006 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2 500 EUR festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragstellerin hat keinen Erfolg.

Die von der Antragstellerin fristgerecht dargelegten Beschwerdegründe, die allein Gegenstand der Prüfung des Oberverwaltungsgerichts sind (§ 146 Abs. 4 S. 6 VwGO), rechtfertigen keine Änderung des angefochtenen Beschlusses. Das Verwaltungsgericht hat es danach im Ergebnis zu Recht abgelehnt, dem Antragsteller im Wege einstweiliger Anordnung zu untersagen, Abschiebemaßnahmen gegen die Antragstellerin einzuleiten.

Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, die Antragstellerin habe das Bestehen eines Anordnungsanspruchs nicht mit der für eine Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht, da die Voraussetzungen nach § 60 a Abs. 2 AufenthG nach summarischer Prüfung nicht erfüllt seien. Insbesondere sei die Abschiebung nicht aufgrund ihres Antrages auf Wiederaufgreifen des unanfechtbar abgeschlossenen Ausweisungsverfahrens vom 20. Dezember 2005 rechtlich unmöglich. Dieser Antrag sei nämlich offensichtlich erfolglos. Die Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ausweisung von nach dem ARB 1/80 zum Aufenthalt berechtigten türkischen Staatsangehörigen begründe keinen Wiederaufgreifensgrund, weil darin keine nachträgliche Änderung der Rechtslage i. S. v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liege. Abgesehen hiervon habe sich die Rechtslage auch nicht zugunsten der Antragstellerin geändert, da ihr zum Zeitpunkt der Ausweisung aus den in dem - rechtskräftig gewordenen - Urteil des Verwaltungsgerichts vom 18. April 2001 (VG 11 A 538.00) ausgeführten Gründen keine Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 zugestanden hätten. Auch in der Folge habe die Antragstellerin die Voraussetzungen nach Art. 6 ARB 1/80 nicht erfüllt.

Damit hat das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht das Bestehen eines Anordnungsanspruchs verneint. Die Antragstellerin hat auch mit ihrem Beschwerdevorbringen nicht glaubhaft gemacht, dass der Abschiebung Duldungsgründe entgegenstehen. Die Abschiebung ist nicht im Sinne von § 60 a Abs. 2 AufenthG aus rechtlichen Gründen unmöglich. Ein rechtlich zwingendes Abschiebungsverbot ergibt sich insbesondere nicht aus dem Antrag der Antragstellerin vom 20. Dezember 2005 auf Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens, welches mit der - durch das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgericht vom 18. April 2001 (11 A 538.00) - unanfechtbar gewordenen Ausweisungsverfügung des Landeseinwohneramtes Berlin vom 7. Juli 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Senatsverwaltung für Inneres vom 23. August 2000 abgeschlossen wurde. Eine Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen Gründen im Sinne von § 60 a Abs. 2 AufenthG würde insoweit nur in Betracht kommen, wenn der Antragstellerin ein gebundener Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Aufhebung der Ausweisungsverfügung zustünde. Davon ist jedoch nicht auszugehen.

Die Antragstellerin kann ein Wiederaufgreifen des bestandskräftig abgeschlossenen Ausweisungsverfahrens nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG i. V. m. § 1 Abs. 1 BlnVwVfG im Hinblick auf die von ihr angeführte Änderung der Rechtsprechung zur Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsbürger beanspruchen. Dazu hat das Verwaltungsgericht zutreffend in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 1995, NVwZ 1995, 1097 f. m.w.N.) ausgeführt, dass eine Änderung der Rechtsprechung keine Änderung der Rechtslage i. S. v. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG darstellt.

Beanspruchen kann die Klägerin danach nur eine Entscheidung über ein Wiederaufgreifen des Verfahrens außerhalb des Anwendungsbereichs von § 51 VwVfG (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Diese Entscheidung liegt jedoch grundsätzlich im Ermessen der zuständigen Behörde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. März 1999, BVerwGE 113, 322, 326; Urteil vom 27. Januar 1994, BVerwGE 95, 86, 93 f. m.w.N.; vgl. ferner Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 51 Rdnr. 13 ff.). Von einer Reduzierung dieses Ermessens dahingehend, dass nur eine stattgebende Entscheidung über den Antrag auf Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens rechtmäßig wäre, ist vorliegend nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfung nicht auszugehen.

Offen bleiben kann insoweit, ob die Annahme des Verwaltungsgerichts zutrifft, wonach die Berechtigung der Antragstellerin aus Art. 6 ARB 1/80 durch deren (Haft-)Aufenthalt in Ungarn in den Jahren 1993 bis 1995 erloschen sei. Ungeachtet dessen besteht nämlich keine Verpflichtung der Ausländerbehörde zum Wiederaufreifen des Ausweisungsverfahrens.

Aus dem in Art. 10 EGV verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit (vgl. zu diesem Ansatz VGH Mannheim, Beschluss vom 9. November 2004 - 11 S 2771/03 -, juris) ergibt sich eine solche Verpflichtung nach Maßgabe der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 13. Januar 2004 - C-453/00 -, NVwZ 2004, 459 f.) schon deshalb nicht, weil die Ausweisungsverfügung nicht infolge eines Urteils des in letzter Instanz zuständigen und damit bei Auslegungsfragen des Gemeinschaftsrechts vorlagepflichtigen nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist, sondern durch das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 18. April 2001 (11 A 538.00).

Des Weiteren ist nach den Darlegungen der Antragstellerin nicht davon auszugehen, dass die Aufrechterhaltung der Ausweisungsverfügung schlechthin unerträglich wäre oder dass eine Berufung der Ausländerbehörde auf die Unanfechtbarkeit dieser Verfügung einen Verstoß gegen Verfassungsrecht, die guten Sitten oder Treu und Glauben darstellen würde (vgl. zur Ermessensreduzierung in solchen Fällen BVerwG, Urteil vom 30. Januar 1974, BVerwGE 44, 333, 336 f.; Urteil vom 27. Januar 1994, BVerwGE 95, 86, 92; Urteil vom 20. Oktober 2004, BVerwGE 122, 103, 108; Beschluss vom 16. August 1989, NVwZ-RR 1990, 26 f.; s. ferner Sachs, a.a.O., Rdnr. 19 m.w.N.). Allein der von der Antragstellerin mit ihrem erstinstanzlichen Vorbringen hervorgehobene Umstand, dass die von ihr begangenen Straftaten nach Maßgabe der neueren Rechtsprechung zur Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger (BVerwG, Urteil vom 3. August 2004, NVwZ 2005, 224) keine Ist- bzw. Regelausweisung nach § 47 AuslG rechtfertigen, bedeutet nach summarischer Prüfung nicht, dass es der Ausländerbehörde in jedem Fall versagt wäre, sich auf die Unanfechtbarkeit der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung zu berufen. Vielmehr spricht einiges dafür, dass die Aufrechterhaltung der Ausweisung jedenfalls dann nicht "schlechthin unerträglich" im Sinne der o. g. Rechtsprechung zur Ermessensreduzierung bei der Entscheidung über ein Wiederaufgreifen des Verfahrens wäre, wenn die Ausweisung - gemessen an den sich aus der neueren Rechtsprechung ergebenden Anforderungen - seinerzeit rechtmäßig hätte verfügt werden können (weitergehend wohl VGH Kassel, Beschluss vom 29. Juli 2005, AuAS 2005, 254, 255). Dass dies hier bei Erlass der Ausweisungsverfügung bzw. zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in dem diesbezüglichen verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren (11 A 538.00) nicht der Fall gewesen wäre, hat die Antragstellerin jedoch nicht glaubhaft gemacht. Der fristgerechten Beschwerdebegründung lässt sich schon nicht entnehmen, in welcher Hinsicht die Ausweisung nach Auffassung der Antragstellerin den heutigen rechtlichen Anforderungen nicht genügen soll. Auch der erstinstanzlich geltend gemachte Umstand, dass bei den von ihr verübten Straftaten - des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Heroin) in nicht geringer Menge sowie einer Beihilfe hierzu - keine Gewalt angewendet worden sei, lässt nicht den Schluss zu, die Voraussetzungen für eine (rechtmäßige) Ausweisung der Antragstellerin hätten nicht vorgelegen. Eine Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB Nr. 1/80 besitzen, erfordert eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (BVerwG, Urteile vom 3. August 2004, NVwZ 2005, 220 ff., 224 ff.). Danach muss nicht gerade die Begehung von Gewalttaten zu besorgen sein, sondern auch und gerade eine gegenwärtige Gefahr der Begehung (weiterer) Straftaten in Bezug auf den Handel mit Drogen wie Heroin kann eine Ausweisung rechtfertigen. Hinsichtlich der insoweit anzustellenden, auf spezialpräventive Gesichtspunkte beschränkten Gefährdungsprognose hat die Antragstellerin es sowohl erstinstanzlich als auch im Beschwerdeverfahren an substanziiertem Vortrag - namentlich auch zu ihrem Verhalten während der Strafvollstreckung - fehlen lassen. Die Voraussetzungen für einen gebundenen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens - und damit auch für eine Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen Gründen - sind danach nicht glaubhaft gemacht.

Ein Wiederaufgreifensanspruch kann schließlich auch nicht darauf gestützt werden, dass der bestandskräftigen Ausweisung der unheilbare Verfahrensfehler einer unterbliebenen Zweckmäßigkeitsprüfung im Sinne des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 13. September und 6. Oktober 2005 - 1 C 7.04 und 1 C 5.04 -, InfAuslR 2006, 110 ff., 114 ff.) anhaften würde. Abgesehen davon, dass die Antragstellerin diesen Gesichtspunkt nicht innerhalb der Darlegungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO geltend gemacht hat, liegt ein solcher Verfahrensfehler hier nicht vor, weil ein Widerspruchsverfahren und insoweit eine Überprüfung durch eine andere Stelle - nämlich durch die Senatsverwaltung für Inneres - stattgefunden hat.

Unter den gegebenen Umständen ist es der Antragstellerin zumutbar, das laufende Wiederaufgreifensverfahren von der Türkei aus weiterzuverfolgen. Der Würdigung des Verwaltungsgerichts, dass sonstige Abschiebungshindernisse nicht ersichtlich sind, ist die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde im Übrigen nicht entgegen getreten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2, des Gerichtskostengesetzes - GKG -.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Ende der Entscheidung

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