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Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Urteil verkündet am 14.06.2005
Aktenzeichen: OVG 8 B 8.03
Rechtsgebiete: StVZO
Vorschriften:
StVZO § 31 a Abs. 1 |
OBERVERWALTUNGSGERICHT BERLIN-BRANDENBURG Im Namen des Volkes Urteil
OVG 8 B 8.03
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 8. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 2005 durch die Vizepräsidentin des Oberverwaltungsgerichts , die Richter am Oberverwaltungsgericht und sowie die ehrenamtlichen Richter und ,
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 6. Februar 2003 geändert. Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger, ein Rechtsanwalt, wendet sich gegen eine Fahrtenbuchauflage.
Der auf ihn zugelassene PKW mit dem amtlichen Kennzeichen B wurde am 30. Januar 2002 in Delmenhorst auf der Bundesstraße 322 bei einer elektronischen Geschwindigkeitsmessung abzüglich Toleranz mit einer Geschwindigkeit von 97 km/h bei einer erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h gemessen.
Der Oberbürgermeister der Stadt Delmenhorst sandte unter dem 19. Februar 2002 ein Anhörungsschreiben an den Kläger, dem ein Frontfoto beigefügt war. Da das Schreiben unbeantwortet blieb, bat der Oberbürgermeister mit Schreiben vom 3. April 2002 den Polizeipräsidenten in Berlin um Ermittlungen. Am 22. April 2002 suchte ein Polizeibeamter die Kanzlei des Klägers auf, traf diesen aber nicht an und hinterließ bei der Sekretärin eine Visitenkarte mit der Bitte um Rückruf. Nachdem dieser nicht bis zum 29. April 2002 erfolgt war, suchte der Polizeibeamte die Kanzlei am 30. April 2002 erneut auf und traf den Kläger wiederum nicht an. Das Ordnungswidrigkeitenverfahren wurde daraufhin von der Stadt Delmenhorst mit Verfügung vom 14. Mai 2002 eingestellt, weil der Tatzeitfahrer nicht habe ermittelt werden können.
Das Landeseinwohneramt Berlin (LEA) hörte den Kläger zur beabsichtigten Anordnung einer Fahrtenbuchauflage mit Schreiben vom 30. Mai 2002 an, in dem ihm mitgeteilt wurde, der Fahrzeugführer habe nicht ermittelt werden können; er sei trotz Vorlage eines auswertbaren Frontfotos nicht benannt worden. Der Kläger erwiderte darauf mit Schreiben vom 10. Juni 2002, dass ihn niemand gefragt habe, wer am 30. Januar 2002 einen Verkehrsverstoß begangen habe, geschweige denn, dass ihm auswertbare Fotos vorgelegt worden seien.
Mit Bescheid vom 23. Juli 2002 verfügte das LEA, dass der Kläger für die Dauer eines Jahres ein Fahrtenbuch führen müsse, da es ihm nicht möglich gewesen bzw. er nicht bereit gewesen sei, den Fahrzeugführer rechtzeitig zu benennen, so dass dieser nicht habe zur Verantwortung gezogen werden können. Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein, zu dessen Begründung er zunächst den Verkehrsverstoß mit Nichtwissen bestritt. Auf fehlende Mitwirkungsbereitschaft könne nicht geschlossen werden, wenn ein vielbeschäftigter Rechtsanwalt, der häufig auf Dienstreisen sei, auf das Hinterlassen einer Visitenkarte nicht umgehend reagiere, wenn aus dieser nicht ersichtlich sei, worum es gehe, geschweige denn, dass die Angelegenheit dringlich sei. Das LEA wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18. September 2002 zurück.
Der Kläger hat Klage erhoben, zu deren Begründung er zunächst den Vorfall mit Nichtwissen und den Zugang des Anhörungsbogens bestritten und geltend gemacht hat, man hätte ihn nach dem vergeblichen Versuch einer Kontaktaufnahme in seinem Büro per Telefax anschreiben und ihm den Tatbestand darlegen müssen. Das hätte auch noch am 30. April 2002 geschehen können.
Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 6. Februar 2003 den Bescheid des LEA vom 23. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides derselben Behörde vom 18. September 2002 aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Die Voraussetzungen für eine Fahrtenbuchauflage seien nicht gegeben, denn die Nichtaufklärbarkeit des Verkehrsverstoßes beruhe auf einem Umstand, der der Behörde zuzurechnen sei. Da der Kläger den Anhörungsbogen nicht erhalten habe, sei davon auszugehen, dass er erstmals durch das Schreiben vom 30. Mai 2002 mit dem Vorwurf konfrontiert worden sei, zumal da auch die Einstellungsmitteilung vom 14. Mai 2002 weder einen Beschuldigten noch den Tatvorwurf erkennen lasse. Vor diesem Hintergrund könne es dem Kläger als vielbeschäftigtem Rechtsanwalt nicht zur Last gelegt werden, dass er einer nicht näher konkretisierten Bitte um Rückruf nicht entsprochen habe.
Der Beklagte hat zur Begründung der vom Senat zugelassenen Berufung geltend gemacht:
Einem vielbeschäftigten Rechtsanwalt dürfe bei der Frage seiner Bereitschaft, an der Aufklärung eines Verkehrsverstoßes mitzuwirken, kein "Bonus" eingeräumt werden. Bei dem Kläger habe es an der erforderlichen Mitwirkungsbereitschaft gefehlt. Es treffe nicht zu, dass der ermittelnde Polizeibeamte ohne Angabe von Gründen nur eine Visitenkarte hinterlassen habe. Er habe zweimal unter Hinweis auf die Dringlichkeit vorgesprochen und der anwesenden Sekretärin die Frontfotos gezeigt, auf denen diese den Fahrzeugführer nicht habe erkennen können. Außerdem sei die Sekretärin darauf hingewiesen worden, dass es sich um eine Verkehrsangelegenheit des Klägers vermutlich aus dessen privatem Bereich handele. Es sei um telefonische Terminabsprache gebeten worden.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 6. Februar 2003 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er macht im Wesentlichen geltend, seine Mitwirkungsobliegenheit nicht verletzt zu haben. Auf das Anhörungsschreiben habe er nicht reagiert, weil er es nicht erhalten habe. Die Behörde habe den Zugangsnachweis nicht erbracht. Eine Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit könne auch nicht darin erblickt werden, dass er auf die nicht konkretisierte Bitte der Polizei, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, nicht reagiert habe. Dem Polizeibeamten sei schon beim ersten Besuch erklärt worden, dass er sich nur selten im Büro aufhalte. Deshalb könne das Hinterlassen einer Visitenkarte mit der Bitte um einen Rückruf nicht als effizient gelten, zumal da der Polizeibeamte den Sachverhalt nur kurz umrissen dargestellt habe. Er habe die Handlungsweise des Polizeibeamten auch nicht auf sich beziehen können, da er auch Verkehrsordnungswidrigkeiten für Mandanten bearbeite.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Streitakte des Gerichts sowie den Verwaltungsvorgang des Beklagten, der vorgelegen hat und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und begründet.
Nach § 31 a Abs. 1 StVZO kann die Verwaltungsbehörde gegenüber einem Fahrzeughalter die Führung eines Fahrtenbuches anordnen, wenn die Feststellung eines Fahrzeugführers nach einer Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften nicht möglich war.
Diese Voraussetzungen sind entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts gegeben und das Ermessen ist fehlerfrei ausgeübt, so dass der Bescheid vom 23. Juli 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18. September 2002 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§§ 113 Abs. 1 Satz 1, 114 VwGO).
Es liegt eine Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften vor, denn die zulässige Höchstgeschwindigkeit wurde überschritten (§ 41 Abs. 2 StVO). Dass der Kläger den Verkehrsverstoß ursprünglich mit Nichtwissen bestritten hat, rechtfertigt keine andere Beurteilung, insbesondere muss das den Senat nicht veranlassen, von Amts wegen die Ordnungsmäßigkeit der Geschwindigkeitsmessung zu überprüfen. Das beim Ordnungswidrigkeitenvorgang in Ablichtung befindliche Messprotokoll ist vollständig ausgefüllt. Anhaltspunkte dafür, dass das Gerät nicht zugelassen, nicht geeicht, unsachgemäß aufgestellt oder falsch bedient worden ist, sind weder dargetan noch sonst ersichtlich.
Die Feststellung des Fahrzeugführers nach dieser Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften war nicht möglich.
Eine solche Unmöglichkeit liegt vor, wenn die Behörde nach den Umständen des Einzelfalles nicht in der Lage war, den Täter zu ermitteln, obwohl sie alle angemessenen und zumutbaren Maßnahmen getroffen hat (BVerwG, Urteile vom 28. Februar 1964 - 7 C 91.61 - BVerwGE 18, 107 [111]; vom 13. Oktober 1978 - 7 C 77.74 - NJW 1979, 1054 und vom 17. Dezember 1982 - 7 C 3.80 - Buchholz 442.16 § 31 a StVZO Nr. 12). Für die Beurteilung der Angemessenheit der polizeilichen Aufklärungsmaßnahmen kommt es wesentlich darauf an, ob die Polizei in sachgerechtem und rationellem Einsatz der ihr zur Verfügung stehenden Mittel nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen getroffen hat, die der Bedeutung des aufzuklärenden Verkehrsverstoßes gerecht werden und erfahrungsgemäß Erfolg haben können. Wie das Bundesverwaltungsgericht weiter betont hat (Urteil vom 23. April 1971 - 7 C 66.70 -, Buchholz 442.15 § 7 StVO Nr. 7), können sich Art und Umfang der Tätigkeit der Behörde, den Fahrzeugführer nach einem Verkehrsverstoß zu ermitteln, an der Erklärung des Fahrzeughalters ausrichten. Lehnt dieser erkennbar die Mitwirkung an der Aufklärung des Verkehrsverstoßes ab, so ist es der Polizei regelmäßig nicht zuzumuten, wahllos zeitraubende, kaum Aussicht auf Erfolg bietende Ermittlungen zu betreiben (vgl. Urteil vom 17. Dezember 1982 - BVerwG 7 C 3.80 -, a.a.O., sowie Beschlüsse vom 17. Juli 1986 - BVerwG 7 B 234.85 - und vom 21. Oktober 1987 - BVerwG 7 B 162.87 - Buchholz 442.16 § 31 a StVZO Nr. 12, 15 und 18 und vom 17. Mai 1993 - BVerwG 11 B 50.93 -). Bei einer Kennzeichenanzeige genügt es in der Regel, dem Halter unverzüglich einen Anhörungsbogen zuzusenden, in dem der erhobene Vorwurf hinreichend deutlich benannt ist, wobei die hierzu eingeräumte Anhörungsfrist im Regelfall zwei Wochen nicht überschreiten darf (BVerwG, Beschl. v. 14. Mai 1997 - 3 B 28.97 - zitiert nach JURIS). In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Beschl. v. 25. Juni 1987 - 7 B 139.97 - Buchholz 442.16 § 31 a StVZO Nr. 17 und v. 14. Mai 1997, a. a. O.), der sich der Senat in seiner bisherigen Entscheidungspraxis angeschlossen hat, ist zudem anerkannt, dass eine verspätete Anhörung die Anordnung der Fahrtenbuchauflage nicht ausschließt, wenn feststeht, dass die Verzögerung für die unterbliebene Ermittlung des Täters nicht ursächlich ist. So liegt der Fall hier.
Die Behörde hat zwar den Anhörungsbogen, in dem der Tatvorwurf hinreichend präzisiert ist, nebst einem Frontfoto übersandt, das das Gesicht des Tatzeitfahrers als einen Mann mit Brille recht deutlich erkennen lässt, erst 20 Tage nach dem Tag der Verkehrordnungswidrigkeit an den Kläger und damit verspätet versandt; diese Verspätung konnte indessen schon deshalb nicht ursächlich für die fehlgeschlagene Täterermittlung sein, weil der Kläger unwiderlegt vorgetragen hat, den mit der Post versandten Anhörungsbogen nicht erhalten zu haben. Es ist mangels eines Zustellungsnachweises nicht auszuschließen, dass er dieses Schreiben tatsächlich nicht erhalten hat. Mit der bloßen Absendung des Anhörungsbogens hat die Behörde daher nicht bereits alle ihr nach den Umständen des Einzelfalles möglichen und zumutbaren Ermittlungsmaßnahmen ergriffen, um den Tatzeitfahrer zu ermitteln, denn sie trägt grundsätzlich das Risiko, dass der Anhörungsbogen dem Adressaten nicht zugeht bzw. dessen Zugang im Falle des Bestreitens von ihr nicht nachgewiesen werden kann.
Die Behörde hat aber, nachdem der Kläger auf den Anhörungsbogen nicht reagiert hatte, alle angemessenen und zumutbaren Ermittlungen durchgeführt, um den Tatzeitfahrer dennoch zu ermitteln, und der Kläger hat nicht behauptet, geschweige denn substanziiert dargelegt, infolge verspäteter Anhörung weder den Tatzeitfahrer noch den evtl. in Betracht kommenden Personenkreis benennen zu können.
Die Behörde hat sich vorliegend zu Recht nicht damit begnügt, den Anhörungsbogen zu versenden, sondern sie hat einen Polizeibeamten damit beauftragt, die Halteranschrift, ein Rechtsanwaltsbüro, aufzusuchen, um den Halter persönlich mit dem Vorwurf und den darüber existierenden Beweismitteln, hier den Frontfotos, zu konfrontieren. Zwar hat der Polizeibeamte den Kläger in seinem Büro bei den beiden im Abstand von einer Woche am 22. und 29. April 2002 durchgeführten Besuchen nicht persönlich angetroffen, aber er hat, wie seiner dienstlichen Erklärung vom 26. Februar 2003 zu entnehmen ist, nicht nur seine Visitenkarte mit der Bitte um einen Rückruf auf dem Polizeirevier hinterlassen, sondern eine Mitarbeiterin des Klägers unter Vorlage der Beweisfotos außerdem darüber informiert, dass es sich um eine private Verkehrssache des Klägers handeln dürfte und damit nicht um die Angelegenheit eines Mandanten. Weitere Ermittlungstätigkeiten boten sich nicht an und waren angesichts der Bedeutung des Verkehrsverstoßes sowie der kurzen dreimonatigen Verjährungsfrist auch nicht zumutbar. Wenn der Kläger demgegenüber rügt, es sei ineffizient, so zu verfahren, und geltend macht, der Tatvorwurf hätte im Wege eines Telefaxes übermittelt werden müssen, überspannt er die Anforderungen an den zumutbaren behördlichen Ermittlungsaufwand, denn der ermittelnden Polizeibehörde war aufgrund der in dem Verwaltungsvorgang befindlichen Halterdaten weder die entsprechende Verbindungsnummer noch der Umstand bekannt, dass der Kläger den Anhörungsbogen nicht erhalten hatte.
Die Entscheidung, eine Fahrtenbuchauflage zu verhängen, ist auch nicht ermessensfehlerhaft ergangen. Dass ein fahrtenbuchrelevanter Verkehrsverstoß vorliegt, steht außer Frage, denn die begangene Geschwindigkeitsüberschreitung wäre mit einer Geldbuße von 60,- € zu ahnden gewesen (Verordnung vom 13. November 2001, BGBl. I S. 3033 [3069], Tabelle 1, Lfd. Nr. 11.3.5); sie hätte außerdem im Verkehrszentralregister eingetragen werden müssen. Damit ist die Grenze der Verhältnismäßigkeit, die nach der Rechtsprechung (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1995 - 11 C 12.94 - BVerwGE 98, 227 [229 f.] = NJW 1995, 2866) bei einer Geldbuße von 40,00 € sowie der Eintragung mit einem Punkt im Verkehrszentralregister verläuft, gewahrt (vgl. § 28 Abs. 3 Nr. 3 StVG).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO vorgesehenen Gründe vorliegt.
Ende der Entscheidung
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