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Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
Beschluss verkündet am 18.10.2005
Aktenzeichen: OVG 8 S 39.05
Rechtsgebiete: AufenthG, FreizügG/EU, SGB III, VwVfG, AuslG
Vorschriften:
AufenthG § 102 Abs. 1 | |
AufenthG § 102 Abs. 2 | |
FreizügG/EU § 1 | |
FreizügG/EU § 2 Abs. 1 | |
FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 2 | |
FreizügG/EU § 4 Abs. 1 Satz 1 | |
FreizügG/EU § 7 Abs. 1 | |
FreizügG/EU § 7 Abs. 1 Satz 1 | |
FreizügG/EU § 7 Abs. 1 Satz 2 | |
FreizügG/EU § 7 Abs. 1 Satz 3 | |
FreizügG/EU § 7 Abs. 1 Satz 4 | |
FreizügG/EU § 11 Abs. 2 | |
FreizügG/EU § 13 | |
SGB III § 284 Abs. 1 | |
VwVfG § 51 | |
AuslG § 8 Abs. 2 | |
AuslG § 44 Abs. 1 Nr. 1 |
OVG 8 S 39.05
In der Verwaltungsstreitsache
hat 8. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg durch die Vorsitzende Richterin am Oberverwaltungsgericht Xalter und die Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Schrauder und Weber am 18. Oktober 2005 beschlossen:
Tenor:
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 8. März 2005 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig für die Dauer von drei Monaten untersagt, den Antragsteller abzuschieben.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe:
I.
Der Antragsteller, ein albanischer Staatsangehöriger, reiste im Jahre 1990 in die Bundesrepublik Deutschland ein. 1996 heiratete er in Tschechien eine tschechische Staatsangehörige.
Das Landeseinwohneramt Berlin wies ihn mit - bestandskräftigem - Bescheid vom 12. Mai 1997 aus und drohte ihm die Abschiebung in sein Heimatland an.
Am 13. Dezember 2004 nahm die tschechische Ehefrau des Antragstellers ihren Wohnsitz in Berlin und erhielt vom Antragsgegner eine Bescheinigung über ihre Freizügigkeitsberechtigung. Unter dem 18. Januar 2005 meldete sich der bis dahin in Strafhaft befindliche Antragsteller unter der Adresse seiner Ehefrau an.
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des Antragstellers, dem Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes seine Abschiebung zu untersagen, abgelehnt mit der Begründung, der Antragsteller habe kein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland. Seine Ausweisung sei nach § 102 Abs. 1 AufenthG wirksam. Seine tschechische Ehefrau könne ihm keinen Abschiebungsschutz vermitteln. Das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - FreizügG/EU - sei nicht anwendbar, da die Ehefrau des Antragstellers nicht die nach § 13 FreizügG/EU erforderliche Bescheinigung der Bundesagentur für Arbeit vorgelegt habe. Auf Freizügigkeit für Nichterwerbstätige könne sie sich nicht berufen, da sie ausreichend Existenzmittel einschließlich Krankenversicherungsschutz nicht nachgewiesen habe. Im Übrigen genüge der Antragsteller nicht seiner Passpflicht.
Hiergegen hat er Antragsteller Beschwerde eingelegt.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
1. Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU.
a) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist das FreizügG/EU auf den Antragsteller anwendbar. Nach § 1 FreizügG/EU regelt dieses Gesetz die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) und ihrer Familienangehörigen. Der Antragsteller ist als Ehemann einer tschechischen Staatsangehörigen Familienangehöriger im Sinne des § 1 FreizügG/EU (vgl. § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU); die tschechische Republik ist durch Vertrag vom 16. April 2004 (BGBl. 2003 II S. 1408) mit Wirkung vom 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten.
Die Vorschrift des § 13 FreizügG/EU steht der Anwendung des FreizügG/EU nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift findet das Freizügigkeitsgesetz nur insoweit eingeschränkt Anwendung, als "nach Maßgabe des Vertrages vom 16. April 2004 über den Beitritt der Tschechischen Republik .... zur Europäischen Union ... abweichende Regelungen anwendbar sind". Abweichende Regelungen sind nach Art. 24 des Vertrages vom 16. April 2004 i.V.m. Anhang V nur hinsichtlich der Arbeitnehmer- und Dienstleistungsfreiheit (Art. 39 und 49 EGV) vorgesehen. Außerhalb dieser Ausnahmeregelungen finden die Bestimmungen des Freizügigkeitsgesetzes uneingeschränkt Anwendung auch auf Staatsangehörige derjenigen Staaten, die zum 1. Mai 2004 der EU beigetreten sind. Dies folgt bereits aus dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht gemäß Art. 18 EGV, das unabhängig und neben den Freizügigkeitsrechten nach Art. 39 und 49 EGV besteht (vgl. auch HessVGH, InfAuslR 2005, 130).
b) Nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes. Der Antragsteller kann sich derzeit auf dieses Recht berufen.
Er kann zwar nicht mit Erfolg geltend machen, seine Ehefrau sei als Arbeitnehmerin bzw. Arbeitsuchende gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt; denn diese Vorschrift ist gemäß § 13 FreizügG/EU nur anwendbar, wenn die Beschäftigung durch die Bundesagentur für Arbeit gemäß § 284 Abs. 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch genehmigt wurde, was hier nicht der Fall ist.
Der Antragsteller kann sich aber darauf berufen, ihm stehe als Familienangehöriger eines nicht erwerbstätigen Unionsbürgers das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU zu. Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU haben nicht erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die bei dem nicht erwerbstätigen Freizügigkeitsberechtigten Wohnung nehmen, das Recht nach § 2 Abs. 1, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners sind diese Voraussetzungen weder Vorbedingung für das Entstehen des Aufenthaltsrechts noch führen sie bei Nichterfüllung automatisch zu dessen Erlöschen (vgl. Westphal/Stoppa, Die EU-Osterweiterung und das Ausländerrecht, InfAuslR 2004, 133). Die zuständige Ausländerbehörde kann aber verlangen, dass die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb angemessener Fristen glaubhaft gemacht werden (§ 5 Abs. 3 Satz 1 FreizügG/EU). Äußern sich der Unionsbürger und seine Familienangehörigen nicht oder misslingt die Glaubhaftmachung, dann kann die Ausländerbehörde beim Unionsbürger das Nichtbestehen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU feststellen und beim Familienangehörigen, der nicht Unionsbürger ist, die Aufenthaltserlaubnis-EU widerrufen oder zurückzunehmen.
Nach § 7 Abs. 1 Sätze 1 und 2 FreizügG/EU sind der Unionsbürger und seine Familienangehörigen erst ausreisepflichtig, wenn die Feststellung, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht, bzw. der Widerruf oder die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis-EU unanfechtbar ist. Für Familienangehörige, die - wie der Antragsteller - nicht Unionsbürger und auch noch nicht im Besitz der von Amts wegen auszustellenden Aufenthaltserlaubnis-EU (§ 5 Abs. 2 FreizügG/EU) sind, enthält § 7 Abs. 1 FreizügG/EU keine ausdrückliche Regelung. Auch in solchen Fällen ist jedoch eine ausländerbehördliche Feststellung, dass dem Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht zusteht, erforderlich. Dies ergibt sich aus § 7 Abs. 1 Sätze 3 und 4 FreizügG/EU. Diese Vorschrift betrifft zwar in erster Linie die Androhung der Abschiebung und die Ausreisefrist, aus ihr folgt aber zugleich, dass auch in den Fällen, in denen eine Aufenthaltserlaubnis-EU oder eine Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht noch nicht ausgestellt ist, ein ausländerbehördlicher Bescheid ergehen muss, der eine Feststellung über das Nichtbestehen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU enthält; die Ausreisepflicht entsteht auch in diesen Fällen erst mit Unanfechtbarkeit dieser Feststellung. Dieses Auslegungsergebnis wird bestätigt durch § 11 Abs. 2 FreizügG/EU, der die generelle Anwendung des Aufenthaltsgesetzes von einer "Feststellung der Ausländerbehörde" über das Nichtbestehen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU abhängig macht, mithin eine solche Feststellung als erforderlich ansieht.
Eine Feststellung des Antragsgegners über das Nichtbestehen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU für den Antragsteller liegt hier nicht vor. Der Antragsteller ist demnach noch nicht ausreisepflichtig, so dass er einstweilen nicht abgeschoben werden darf.
c) Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts darf der Antragsteller derzeit auch nicht aufgrund der bestandskräftigen Ausweisung und Abschiebungsandrohung vom 12. Mai 1997 abgeschoben werden. Bei der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung geht der Senat davon aus, dass die auf der Grundlage des Ausländergesetzes ergangene Ausweisung und Abschiebungsandrohung nach dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes/EU keine Wirkungen mehr entfaltet.
§ 102 Abs. 1 AufenthG, wonach die vor dem 1. Januar 2005 getroffenen ausländerrechtlichen Maßnahmen, darunter auch Ausweisungen und Abschiebungsandrohungen, wirksam bleiben, ist hier nicht anwendbar, da die Ausländerbehörde das Nichtbestehen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU (noch) nicht festgestellt hat (vgl. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU). Eine dem § 102 Abs. 2 AufenthG entsprechende Regelung enthält das Freizügigkeitsgesetz nicht.
Hieraus folgt indes nicht, dass die aufgrund des Ausländergesetzes ergangene Ausweisung ihre Rechtsgrundlage verloren hat (so aber für die Ausweisung eines Unionsbürgers HessVGH, Beschluss vom 29. Dezember 2004, InfAuslR 2005, 130). Denn eine Änderung der Rechtslage führt nicht automatisch zum Wegfall der Rechtsgrundlage eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes. Ein bestandskräftiger Verwaltungsakt bleibt vielmehr wirksam bis er durch Rücknahme, Widerruf oder im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens gemäß § 51 VwVfG aufgehoben wird oder auf andere Weise seine Wirkung verliert; bei einer bestandskräftigen Ausweisung können die Wirkungen etwa durch eine Befristung beseitigt werden.
Ob und gegebenenfalls welche Wirkungen die bestandskräftige Ausweisung des Antragstellers noch entfaltet, hängt von der Reichweite ihres Regelungsgegenstandes ab. Gegenstand der Ausweisung des Antragstellers war - ungeachtet der Folgen, die sich vor der Rechtsänderung unmittelbar aus §§ 8 Abs. 2, 44 Abs. 1 Nr. 1 AuslG ergaben - die für den Antragsteller verbindliche Regelung, dass er nicht in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und sich hier aufhalten darf. Diese verbindliche Regelung kollidiert seit Inkrafttreten des Freizügigkeitsgesetzes mit dem in § 2 Abs. 1 FreizügG/EU verbrieften Recht des Antragstellers auf Einreise und Aufenthalt. Da der Gesetzgeber die Rechte von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen mit dem Freizügigkeitsgesetz/EU neu geordnet und von einer dem § 102 Abs. 1 AufenthG vergleichbaren Regelung abgesehen hat, ist davon auszugehen, dass er mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes die Bindungswirkung einer auf der Grundlage des Ausländergesetzes ergangenen Ausweisungsverfügung als nicht mehr bestehend angesehen hat. Das neue Recht überlagert gleichsam die sich aus der Ausweisungsverfügung ergebende Regelung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt des Antragstellers.
Selbst wenn man dem nicht folgte, sondern zum Ergebnis käme, dass der Antragsteller zur Beseitigung der Ausweisung einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens stellen oder die Befristung der Wirkung der Ausweisung beantragen muss, dann wäre ihm jedenfalls einstweilen das derzeit bestehende Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU vorläufig zur Durchführung eines entsprechenden Wiederaufgreifens- bzw. Befristungsverfahrens zu sichern.
d) Der Umstand, dass der Antragsteller keinen Pass besitzt oder diesen nicht vorlegt, rechtfertigt für sich gesehen nicht die Aufenthaltsbeendigung (§ 6 Abs. 5 FreizügG/EU).
2. Der Anordnungsgrund ist ebenfalls gegeben. Der Antragsteller hat die Dringlichkeit glaubhaft gemacht; der Antragsgegner beabsichtigt ihn abzuschieben. Allerdings ist die einstweilige Anordnung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zu befristen. Eine über die Befristung hinausgehende einstweilige Anordnung ist derzeit nicht erforderlich, weil den Interessen des Antragstellers vorerst genügt ist und auch der Antragsgegner ausreichend Zeit für die Prüfung der Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 2, § 47 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes - GKG -.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Ende der Entscheidung
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