Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin
Beschluss verkündet am 06.06.2002
Aktenzeichen: OVG 8 S 59.02
Rechtsgebiete: AuslG, AsylVfG


Vorschriften:

AuslG § 11
AuslG § 30 Abs. 1
AuslG § 30 Abs. 2
AuslG § 30 Abs. 3
AuslG § 30 Abs. 4
AuslG § 31 Abs. 1
AuslG § 51 Abs. 1
AuslG § 55 Abs. 2
AuslG § 55 Abs. 3
AsylVfG § 26 Abs. 2 Satz 1
AsylVfG § 70 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OVG 8 S 59.02

Berlin, den 6. Juni 2002

In der Verwaltungsstreitsache

Tenor:

wird auf die Beschwerde des Antragsgegners der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 6. März 2002 geändert.

Der Antrag, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu untersagen, den Antragsteller abzuschieben, wird abgelehnt.

Gründe:

Der Antragsteller hat ein im Wege der einstweiligen Anordnung sicherungsfähiges Recht (§ 123 Abs. 1 VwGO) nicht glaubhaft gemacht. Der Anordnungsanspruch ergibt sich nicht aus § 55 Abs. 2 AuslG. Die Abschiebung des Antragstellers ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht aus Gründen des Familienschutzes rechtlich unmöglich.

Solcher Schutz folgt nicht aus §§ 31 Abs. 1, 30 Abs. 3 AuslG. Danach hat die Ausländerbehörde nach Ermessen ("darf") darüber zu befinden, ob sie dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, der eine Aufenthaltsbefugnis besitzt, eine Aufenthaltsbefugnis nach Maßgabe des § 30 Abs. 1 bis 4 AuslG erteilt. Das Ermessen ist vorliegend aber nicht eröffnet. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm muss der Ausländer die Aufenthaltsbefugnis inne haben, während das Kind noch minderjährig ist, soll das Erteilungsermessen eröffnet sein. Es genügt nicht, dass der das Aufenthaltsrecht vermittelnde Ausländer nach Eintritt der Volljährigkeit seines Kindes eine Aufenthaltsbefugnis erhält, sei es auch, dass er die zu ihrem Erwerb erforderlichen Schritte noch während dessen Minderjährigkeit eingeleitet hat. Diese dem Wortlaut folgende Interpretation trägt auch dem Zweck der Norm, nämlich dem Schutz der aus Eltern und minderjährigen Kindern bestehenden Kleinfamilie, und damit auch Art. 6 Abs. 1 GG Rechnung. Gegenteiliges lässt sich dem Urteil des VGH BW, vom 29. Juni 2000 (- 13 S 2740.99 - VBlBW 01, 30; vgl. auch Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl. 1999, § 31 AuslG Rn. 6 und Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Ausländerrecht, Stand September 2001, § 31 AuslG Rn. 6 ff.) nicht entnehmen. Ob dann etwas anderes zu gelten hätte, wenn die Erteilung der Aufenthaltsbefugnis bzw. die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG missbräuchlich verzögert wird, mag dahinstehen, denn dafür ist vorliegend nichts ersichtlich. Allein die lange Verfahrensdauer genügt dafür nicht.

Danach kann der Antragsteller keine Aufenthaltsbefugnis auf der Grundlage der §§ 31 Abs. 1, 30 Abs. 1 bis 4 AuslG beanspruchen, denn sein Vater erhielt seine Aufenthaltsbefugnis gemäß § 70 Abs. 1 AsylVfG erst am 26. September 2001, nachdem das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 12. Juni 2001, mit dem die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet wurde festzustellen, dass in dessen Person hinsichtlich Vietnams die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, rechtskräftig geworden war. Der Antragsteller ist aber bereits seit dem 2. August 2000 volljährig. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass bei der Anwendung des § 31 Abs. 1 AuslG auf Asylbewerberfamilien u.a. wegen § 11 AuslG, der die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung grundsätzlich ausschließe, darauf abzustellen sei, ob der Asylantrag bereits bei Minderjährigkeit des Kindes gestellt wurde, überzeugt nicht. Denn das Ausländergesetz kennt für den hier interessierenden Bereich keine dem § 26 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG entsprechende Regelung. Die Überlegungen des Verwaltungsgerichts dazu, dass es für die Beurteilung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Stellung des Aufenthaltsbefugnisantrages ankomme (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. November 1997 - 1 C 22.96 - InfAuslR 1998, 161 zu § 20 Abs. 2 Nr. 2 AuslG), helfen hier ebenfalls nicht weiter, denn das Gesetz verlangt zusätzlich, dass der das Nachzugsrecht vermittelnde Ausländer vor Eintritt der Volljährigkeit seines Kindes in den Besitz der Aufenthaltsbefugnis gelangt ist (vgl. dazu auch Dienelt, in GK-AuslR, Stand Dezember 1997, § 31 AuslG Rn. 17). Ebenso wenig kommt es entscheidungserheblich darauf an, dass der Antragsteller bereits am 2. April 1998 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, seitdem bei seinen Eltern lebt und wiederholt erfolglos Asyl beantragt hat.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ergibt sich ein Abschiebungshindernis auch nicht unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 686, 953/1954 II S. 14) - EMRK.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Urteile vom 18. Juli 1979 - 1 BvR 650/77 - BVerfGE 51, 386 [396 f.]; und vom 18. April 1989 - 2 BvR 1169/84 - BVerfGE 80, 81 [93]) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteile vom 22. Februar 1995 - 1 C 11.94 - BVerwGE 98, 31 [46]; vom 27. August 1996 - 1 C 8.94 - BVerwGE 102, 12 [19]; und vom 9. Dezember 1997 - 1 C 16.96 - InfAuslR 1998, 272 [273]) gewährt Art. 6 GG unmittelbar keinen Anspruch auf Aufenthalt. Die entscheidende Behörde hat aber die familiären Bindungen des Antragstellers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, bei der Anwendung offener Tatbestände und bei der Ermessensausübung pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Volljährige Kinder sind in der Regel nicht mehr auf Betreuung und Erziehung durch ihre Eltern angewiesen, sondern lösen sich zunehmend aus der familiären Lebensgemeinschaft, um ein selbständiges Leben zu führen, ggf. selbst eine Familie zu gründen. Dass hier ausnahmsweise eine andere Beurteilung in Betracht kommen könnte, weil entweder die Eltern des Antragstellers oder dieser selbst auf besonderen familiären Beistand angewiesen sind, der in zumutbarer Weise nur im Bundesgebiet erbracht werden kann, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich.

Die Anerkennung eines Abschiebungshindernisses ist schließlich nicht im Hinblick auf Art. 8 EMRK geboten. Danach hat jedermann Anspruch auf Achtung u.a. seines Privat- und Familienlebens; der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, soweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Soweit sich der Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK mit dem des Art. 6 GG deckt, vermittelt er keinen weitergehenden Schutz als dieser (vgl. Urteile vom 9. Dezember 1997 - BVerwG 1 C 19.96 - Buchholz 402.240 § 30 AuslG 1990 Nr. 8 = NVwZ 1998, 742; vom 29. September 1998 - BVerwG 1 C 8.96 - InfAuslR 1999, 54 [56]). Dies ist hier bezüglich der Folgen der Abschiebung für die Familie des Antragstellers der Fall. Dem in Art. 8 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann es nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aber auch im Hinblick auf die Folgen für den Ausländer selbst widersprechen, durch behördliche Maßnahmen die Voraussetzungen für sein weiteres Zusammenleben mit seiner im Vertragsstaat ansässigen Familie zu beseitigen (vgl. insbes. EGMR, Urteile vom 26. März 1992 [Beldjoudi], EuGRZ 1993, 556 und vom 26. September 1997 [Mehemi], InfAuslR 1997, 430; ferner BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1997, a.a.O., m.w.N.). Eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kommt danach etwa bei Ausländern in Betracht, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist (BVerwG, Urteil vom 29. September 1998, a.a.O.). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Der Antragsteller hat seine Sozialisation im Wesentlichen in seinem Heimatland Vietnam erfahren, weil er dort nahezu seine gesamte Jugend bis etwa zur Vollendung seines 16. Lebensjahres verbracht hat. Dass er hier erfolgreich den Hauptschulabschluss nachgeholt und Aussicht auf Teilnahme an einer berufsvorbereitenden Maßnahme als Koch hat, auch sonst integriert sein soll, genügt nicht den insoweit zu stellenden hohen Anforderungen.

Nach allem kann auch nicht angenommen werden, dass dringende humanitäre oder persönliche Gründe i.S.v. § 55 Abs. 3 AuslG die vorübergehende weitere Anwesenheit des Antragstellers erfordern.

Die Kosten des Verfahrens werden dem Antragsteller auferlegt (§ 154 Abs. 1 VwGO).

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2 000 € festgesetzt (§ 20 Abs. 3, § 13 Abs. 1, § 14 Abs. 1 GKG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

Zurück