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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 06.12.2002
Aktenzeichen: 1 A 363/02
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 161 Abs. 2
1. Eine Erledigungserklärung kann zurückgenommen werden, solange der Prozessgegner nicht ausdrücklich oder stillschweigend zugestimmt hat.

2. Der einseitigen Erledigungserklärung der Beklagten kommt keine prozessrechtliche Bedeutung zu. Für den - anstelle des ursprünglichen Sachantrags gestellten - Antrag des Klägers, festzustellen, dass der Rechtsstreit nicht erledigt sei, fehlt das Rechtsschutzbedürfnis.


OVG: 1 A 363/02

Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Stauch, Göbel und Alexy am 06.12.2002 beschlossen:

Tenor:

Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 4. Kammer - vom 01.08.2002 zuzulassen, wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 4.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Beklagte wies den Kläger, einen türkischer Staatsangehörigen, der zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, aus und drohte seine Abschiebung in die Türkei an; zugleich ordnete sie die sofortige Vollziehung ihrer Verfügung an. Ein gerichtliches Eilverfahren und das Widerspruchsverfahren blieben erfolglos. Vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichts über die Anfechtungsklage wurde der Kläger in die Türkei abgeschoben. Daraufhin regte das Verwaltungsgericht an, das Klageverfahren in der Hauptsache für erledigt zu erklären. Der Kläger antwortete, es sei für ihn nicht ersichtlich, warum sich das Klageverfahren durch die Abschiebung erledigt haben sollte. Die Beklagte erklärte den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Auf ein Anhörungsschreiben des Gerichts nach § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO trug der Kläger vor, das Gericht habe, nachdem die Beklagte den Rechtsstreit für erledigt erklärt habe, nur noch darüber zu entscheiden, ob die Sache tatsächlich erledigt sei; er selbst halte daran fest, dass eine Erledigung der Hauptsache nicht eingetreten sei. Die Beklagte nahm ihre Erledigungserklärung zurück und beantragte, die Klage abzuweisen. Mit Gerichtsbescheid vom 01.08.2002 hat das Verwaltungsgericht die Klage als unbegründet abgewiesen. In der Begründung heißt es: Der einseitig gebliebenen Erledigungserklärung der Beklagten komme keine prozessuale Bedeutung zu. Die angefochtenen Bescheide seien rechtmäßig.

In seinem auf die Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nrn. 1, 2, 3 und 5 VwGO gestützten Antrag auf Zulassung der Berufung vertritt der Kläger die Auffassung, das Verwaltungsgericht habe sich nur noch mit der Frage befassen dürfen, ob der Rechtsstreit erledigt sei, und entsprechend dem klägerischen Begehren feststellen müssen, dass keine Erledigung eingetreten sei.

II.

Die Darlegungen des Klägers sind nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Gerichtsbescheids (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zu begründen, denn sie sind rechtlich unzutreffend. Das Verwaltungsgericht hat es zu Recht abgelehnt festzustellen, dass der Rechtsstreit nicht erledigt sei, sondern stattdessen in der Sache entschieden. Dies lässt sich feststellen, ohne dass es dazu eines Berufungsverfahrens bedürfte, so dass auch keine Zulassung der Berufung wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) in Betracht kommt. Die für die Entscheidung maßgeblichen Fragen sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung hinreichend geklärt; einer Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO bedarf es deshalb nicht. Da die Behandlung des Rechtsstreits durch das Verwaltungsgericht nicht zu beanstanden ist, liegt auch kein Verfahrensmangel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO vor.

1.

Die einseitige Erledigungserklärung der Beklagten war schon deshalb ohne Bedeutung, weil sie von der Beklagten zurückgenommen worden ist.

Die Rücknahme ist zulässig, solange der Gegner der Erledigungserklärung nicht ausdrücklich oder konkludent zugestimmt hat. Vor dieser Zustimmung hat eine Erledigungserklärung - unabhängig davon, von wem sie abgegeben wird - nämlich schon deshalb keine prozessgestaltende Wirkung, weil erst die übereinstimmenden Erklärungen beider Parteien gemäß § 161 Abs. 2 VwGO zur Beendigung des Streitverfahrens führen können. Wird die Prozessstellung des Gegners durch eine einseitig gebliebene Erledigungserklärung aber nicht beeinflusst, erleidet dieser auch keinen Nachteil, wenn die Erklärung zurückgenommen und wieder der ursprüngliche Sachantrag gestellt wird. Dies entspricht der einhelligen Rechtsauffassung in Rechtsprechung (vgl. nur BVerwG, Beschl .v. 20.07.1972 - IV B 13.72 - Buchholz 310 § 161 Abs. 2 VwGO Nr. 36, Beschl.v.13.10.1987 - 4 B 211.87 - NVwZ-RR 1988,56, Beschl. v. 15.11.1991 - 4 C 27.90 - NVwZ-RR 1992,276 <277>f., Urt. v. 22.01.1998 - 2 C 4.97 - NVwZ 1999,404) und Literatur (Bader, in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/v. Albedyll, VwGO, 1999, Rn 5 zu § 161; Clausing, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzcker, VwGO, Rn 14 zu § 161; Eyermann-J.Schmidt, VwGO, 11. Aufl. 2000, Rn 9 zu § 161; Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl. 2003, Rn 13 zu § 161; Kuhla/Hüttenbrink, Der Verwaltungsprozess, 3. Aufl. 2002, E 353; Neumann, in Sodan/Ziekow <Hg.>, Nomos-Kommentar zur VwGO, Rn 57 zu § 161; Redeker/v.Oertzen, VwGO, 13. Aufl. 2000, Rn 18 zu § 107). Gesichtspunkte, die zu einer Überprüfung dieser Auffassung Veranlassung geben könnten, legt der Kläger nicht dar.

2.

Aber selbst wenn die Beklagte ihre Erledigungserklärung aufrechterhalten hätte, wäre kein Raum für die vom Kläger begehrte Feststellung gewesen, dass der Rechtsstreit nicht erledigt war.

Eine einseitige Erledigungserklärung der Beklagten ist nämlich prozessrechtlich ohne Bedeutung (Kopp/Schenke, a.a.O., Rn 32 zu § 161; in den meisten Kommentaren zur VwGO wird sie deshalb nicht einmal erörtert). Es wäre mit der Bindung des Gerichts an das vom Kläger zu bestimmende Klagebegehren (§ 88 VwGO) nicht vereinbar, wenn es in der Hand der Beklagten läge, einen Rechtsstreit, der nach dem Willen des Klägers auf die Aufhebung eines Verwaltungsakts gerichtet ist, durch einseitige Erklärung in einen Streit über die Erledigung umzufunktionieren (vgl. für den Zivilprozess BGH, Beschl. v. 26.05.1994 - I ZB 4/94 - NJW 1994,2363 <2364> m.w.Nwn.). Dieses Hindernis kann auch nicht, wie der Kläger meint, dadurch überwunden werden, dass er selbst nicht mehr an seinem ursprünglichen Antrag, den angefochtenen Verwaltungsakt aufzuheben, festhält, sondern nunmehr zu dem Antrag auf Feststellung übergeht, dass der Rechtsstreit nicht erledigt ist. Für einen solchen Antrag fehlt dem Kläger nämlich ein Rechtsschutzinteresse. Die isolierte Feststellung, dass der Rechtsstreit nicht erledigt ist, macht für ihn keinen Sinn. Die Tatsache, dass der Rechtsstreit nicht erledigt ist, ist nur dann von praktischer Bedeutung, wenn der Rechtsstreit in der Sache fortgeführt wird. Das setzt aber voraus, dass der Kläger an seinem Sachantrag festhält; um über ihn zu entscheiden, bedarf es nicht der vorherigen Feststellung, dass keine Erledigung eingetreten ist.

Die einseitige Erledigungserklärung der Beklagten kann daher allenfalls als Hinweis der Beklagten auf ein ihrer Ansicht nach eingetretenes tatsächliches erledigendes Ereignis verstanden werden (Kopp/Schenke, a.a.O.). Ob ein solches Ereignis vorliegt, hat das Gericht aber unabhängig von diesem Hinweis zu prüfen. Hat sich der Rechtsstreit tatsächlich erledigt, gibt der Kläger aber gleichwohl keine prozessbeendende Erklärung ab, sondern hält an seinem Sachantrag fest, ist seine Klage abzuweisen (Redeker/v.Oertzen, a.a.O., Rn 23 zu § 107; vgl. im übrigen schon BVerwG, Beschl.v. 30.09.1959 - V C 150/59 -, DVBl 1960,140 <141>). Ein stattdessen gestellter Antrag auf Feststellung, dass der Rechtsstreit nicht erledigt ist, würde, wenn man ihn mit dem Kläger für zulässig hielte, zu keinem anderen Ergebnis führen. Ist das erledigende Ereignis dagegen objektiv nicht eingetreten, macht die Fortführung des Prozesses nur Sinn, wenn über die Sache selbst entschieden wird.

Das Urteil des BFH vom 22.01.1976 (IV R 169/71 - BFHE 118,521), auf das sich der Kläger für seine Auffassung beruft, kann nicht zu einer anderen Entscheidung veranlassen. Der BFH sieht sich zu seiner Auffassung, das Gericht habe bei einer einseitiger Erledigungserklärung der Beklagten, der der Kläger widerspreche, isoliert darüber zu entscheiden, ob ein erledigendes Ereignis tatsächlich eingetreten sei, durch die Erwägung veranlasst, andernfalls müsse, wenn die Erledigung eingetreten sei, der Kläger unabhängig von den jeweils vorliegenden Umständen stets die Kosten tragen. Es kann hier dahin gestellt bleiben, ob diese Erwägung für den Finanzgerichtsprozess überzeugend ist; immerhin sind die in "juris" dokumentierten Entscheidungen zahlreicher erstinstanzlicher Finanzgerichte dem BFH nicht gefolgt. Im Verwaltungsgerichtsprozess kann eine solche Kostenfolge jedenfalls dadurch vermieden werden, dass der Kläger dem erledigenden Ereignis Rechnung trägt, indem er seinerseits eine entsprechende Erklärung abgibt und damit die Voraussetzungen für eine Billigkeitsentscheidung nach § 161 Abs. 2 VwGO schafft. Im übrigen hebt der BFH in der zitierten Entscheidung selbst hervor, dass die Verhältnisse im Steuerprozess und im Verfahren der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht miteinander vergleichbar seien. Warum die Entscheidung des BFH dennoch für den Verwaltungsgerichtsprozess von Bedeutung sein soll, legt der Kläger, obwohl er das Urteil pauschal und ohne Einschränkung für "zutreffend" hält, nicht dar.

Gegen die Erwägungen, mit der das Verwaltungsgericht die Klage in der Sache als unbegründet angesehen hat, hat der Kläger keine Einwendungen erhoben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 13 Abs. 1 GKG.

Ende der Entscheidung

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