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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 14.06.2007
Aktenzeichen: 1 B 163/07
Rechtsgebiete: AufenthG, VwGO


Vorschriften:

AufenthG § 7 Abs. 2 Satz 2
AufenthG § 82 Abs. 1
AufenthG § 82 Abs. 2
AufenthG § 82 Abs. 3
VwGO § 80 Abs. 5
1. Die Ermessensentscheidung über die nachträgliche Verkürzung der Aufenthaltserlaubnis ist nicht schon deshalb fehlerhaft, weil die Ausländerbehörde nicht Belange oder dem Ausländer günstige Umstände berücksichtigt hat, die weder offenkundig oder ihr bekannt waren und die der Ausländer erst nach Erlass des Widerspruchsbescheids vorgetragen hat, obwohl er wissen musste oder erkennen konnte, dass es auf sie für die Ermessensentscheidung würde ankommen können.

2. Bei einem Ausländer, der sich erst kurze Zeit in Deutschland aufhält und nicht anwaltlich vertreten ist, kann nicht erwartet werden, dass er erkennt, welche Belange und Umstände die Behörde im Rahmen einer von ihr zu treffenden Ermessensentscheidung über die nachträgliche Verkürzung der Aufenthaltserlaubnis für maßgeblich hält. In einem derartigen Fall bedarf es, damit der Ausländer seiner Mitwirkungspflicht genügen kann, konkreter Hinweise darauf, auf welche Fragen sich die Mitwirkung des Ausländers beziehen soll; dies gilt nicht, wenn für den Ausländer bereits auf andere Weise erkennbar ist, welche Umstände für die Entscheidung der Behörde maßgeblich sein können.

3. Im Widerspruchsverfahren bedarf es solcher Hinweise nicht mehr, wenn sich die ermessensrelevanten Gesichtspunkte aus der angefochtenen Ausgangsverfügung ergeben und der Ausländer anwaltlich vertreten ist.


Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: 1 B 163/07

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Stauch, Göbel und Dr. Bauer am 14.06.2007 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen - 4. Kammer - vom 29.03.2007 wird mit Ausnahme der darin enthaltenen Streitwertfestsetzung aufgehoben.

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die zeitliche Beschränkung der Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers und die Androhung seiner Abschiebung nach Gambia (Verfügung des Stadtamts vom 09.06.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Senators für Inneres und Sport vom 13.06.2006) wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe:

A.

Der Antragsteller, ein gambischer Staatsangehöriger, reiste am 06.11.2004 nach Deutschland ein, nachdem er zuvor die Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen geschlossen hatte. Am 08.11.2004 erhielt er eine bis zum 29.05.2007 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 23 AuslG. Seinen eigenen Angaben zufolge wies ihn die Ehefrau zwei Tage nach seiner Ankunft aus ihrer Wohnung. Die Ehefrau lebt nach ihren Angaben seit Dezember 2004 vom Antragsteller getrennt. Mit Verfügung vom 09.06.2005 beschränkte die Antragsgegnerin u.a. die Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers nachträglich auf den Tag der Zustellung der Verfügung, setzte eine Ausreisefrist und drohte die Abschiebung des Antragstellers nach Gambia für den Fall an, dass er nicht fristgerecht ausreise; zugleich ordnete sie die sofortige Vollziehung der Beschränkung und der Abschiebungsandrohung an. Während des Widerspruchsverfahrens lebten die Eheleute im Oktober 2005 erneut für einige Tage zusammen, bevor sie sich endgültig trennten. Mit Bescheid vom 13.06.2006 wies der Senator für Inneres den Widerspruch zurück. Der Antragsteller erhob daraufhin Klage. Auf seinen Antrag, ihm einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren, hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die genannten Regelungen wiederhergestellt. Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin.

B.

Die Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die nachträgliche Befristung der Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers und die Androhung seiner Abschiebung zu Unrecht wiederhergestellt.

I.

Offen bleiben kann, ob der Antragsteller gegenwärtig überhaupt noch ein Rechtsschutzbedürfnis für sein Begehren hat. Auch ohne die nachträgliche Verkürzung ist die Aufenthaltserlaubnis nämlich mit Ablauf des 29.05.2007, also während des Beschwerdeverfahrens, erloschen. Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht aber gleichwohl noch, wenn der Antragsteller rechtzeitig einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gestellt hat (vgl. OVG NW, Beschl. v. 30.08.2005, InfAuslR 2006,137). In diesem Fall würde nämlich, wenn er mit seinem Eilantrag Erfolg hätte, die bisherige Aufenthaltserlaubnis gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über den Verlängerungsantrag als fortbestehend gelten. Ob der Antragsteller einen Verlängerungsantrag gestellt hat, lässt sich weder dem Vortrag der Beteiligten noch den Behördenakten entnehmen. Dem braucht jedoch nicht weiter nachgegangen zu werden, da die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen, unabhängig vom Zeitablauf in der Sache nicht gerechtfertigt ist und daher keinen Bestand haben kann.

II.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sind die angefochtenen Bescheide nicht wegen eines Ermessensfehlers rechtswidrig.

Das Verwaltungsgericht sieht den Ermessensfehler darin begründet, dass die Widerspruchsbehörde sich von der Erwägung habe leiten lassen, es sei nicht ersichtlich, ob der Antragsteller eine Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet ausübe. Tatsächlich sei der Antragsteller aber, wie er nach Erlass des Widerspruchsbescheids vorgetragen und glaubhaft gemacht habe, schon zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Die Widerspruchsbehörde sei also von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen. Sie hätte, wenn sie die Frage der Erwerbstätigkeit für abwägungserheblich halte, den Sachverhalt insoweit von Amts wegen aufklären müssen. Zwar treffe den Antragsteller eine Mitwirkungspflicht. Deren Verletzung führe aber nicht dazu, dass die Behörde davon absehen dürfe, nahe liegende und ohne Mitwirkung des Betroffenen mögliche Untersuchungsschritte zu unterlassen.

Dem kann so nicht gefolgt werden. Nach § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist der Ausländer verpflichtet, seine Belange und für ihn günstige Umstände, soweit sie nicht offenkundig oder bekannt sind, unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich geltend zu machen. Die Vorschrift findet auch im Widerspruchsverfahren entsprechende Anwendung (§ 82 Abs. 2 AufenthG). Diese Pflicht verletzt ein Ausländer, wenn er solche Belange und Umstände erst nach Erlass des Widerspruchsbescheids vorträgt, obwohl er wissen musste oder erkennen konnte, dass es für die Ermessensentscheidung der Behörde auf sie würde ankommen können. In einem solchen Fall ist die Ermessensentscheidung der Behörde nicht schon deshalb fehlerhaft, weil sie die nicht vorgetragenen Umstände nicht berücksichtigt hat (vgl. auch für den Widerruf eines Aufenthaltstitels: Niedersächs. OVG, Beschl. v. 05.03.2007 - 10 ME 64/07 - <juris>). Der ihm obliegenden Pflicht, an der Aufklärung des Sachverhalts dadurch mitzuwirken, dass er Angaben über seine Erwerbstätigkeit macht, ist der Antragsteller im Widerspruchsverfahren nicht hinreichend nachgekommen.

1.

Die dem Antragsteller obliegende Mitwirkungspflicht reicht freilich nicht so weit, wie die Antragsgegnerin in ihrer Beschwerde meint. Entgegen ihrer Auffassung folgt aus § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht, dass die Behörde sich ohne weiteres darauf beschränken kann, die Interessen des Ausländers und die für ihn günstigen Umstände nur soweit zu ermitteln, als ein öffentliches Interesse an ihnen besteht. Durch die Mitwirkungspflicht nach § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG wird die Amtsermittlungspflicht der Behörde modifiziert, nicht beseitigt (vgl. FunkeKaiser, GK-AufenthG, Rn 3 zu § 82; Hailbronner, AuslR, Rn 8 zu § 82 AufenthG). Die Behörde darf nicht einfach abwarten, was der Ausländer von sich aus vorträgt. Weil "die Adressaten des Ausländergesetzes häufig aus sprachlichen und sozialen Gründen, mangelnder Vertrautheit mit der deutschen Behördenorganisation sowie der Komplexität der Rechtsmaterie Schwierigkeiten haben, ihre Rechte und Pflichten zu überschauen" (Gesetzesbegründung, BT-Drs 15/420, S. 96), soll die Ausländerbehörde nach § 82 Abs. 3 AufenthG auf die Mitwirkungspflicht hinweisen. Dieser Hinweispflicht wird nicht schon dadurch genügt, dass dem Ausländer - wie hier vor Erlass der Verfügung - nur der Gesetzeswortlaut des § 82 Abs. 1 AufenthG übermittelt wird. Bei einem Ausländer, der sich erst kurze Zeit in Deutschland aufhält und nicht anwaltlich vertreten ist, kann nicht erwartet werden, dass er erkennt, welche Belange und Umstände die Behörde im Rahmen der von ihr zu treffenden Ermessensentscheidung für maßgeblich hält. In einem derartigen Fall bedarf es, damit der Ausländer seiner Mitwirkungspflicht genügen kann, konkreter Hinweise darauf, auf welche Fragen sich die Mitwirkung des Ausländers beziehen soll. Unterlässt die Behörde eine solche Konkretisierung, muss sie - jedenfalls bei aus ihrer Sicht nahe liegenden Fragen, die sich regelmäßig stellen - selbst ermitteln.

2.

Eine derartige Situation bestand hier jedoch nur bis zum Erlass der Ausgangsverfügung. Maßgebend ist aber der Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat (§ 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Im Widerspruchsverfahren war der Antragsteller durch einen Rechtsanwalt vertreten. Aus der Verfügung, die Gegenstand des Widerspruchsverfahrens war, ergab sich, dass die Behörde davon ausging, der Antragsteller sei nicht erwerbstätig, so dass er bei einem weiteren Aufenthalt Sozialhilfe werde in Anspruch nehmen müssen, und dies für abwägungsrelevant hielt (vgl. die Ausführungen S. 4 der Verfügung). Unter diesen Umständen war für den Antragsteller und seinen Bevollmächtigten unübersehbar deutlich, dass die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit eine Frage war, auf die es für die Ermessensentscheidung über die nachträgliche Beschränkung der Befristung ankommen konnte. Eine Unterrichtung der Widerspruchsbehörde darüber, dass der Antragsteller inzwischen einer Erwerbstätigkeit nachging, drängte sich daher geradezu auf. Unterblieb sie gleichwohl, brauchte die Widerspruchsbehörde von sich aus keine eigenen Ermittlungen über eine eventuelle Erwerbstätigkeit des Antragstellers anzustellen. Unter diesen Umständen durfte sie ihre Ermessensentscheidung fehlerfrei auf die Erwägung stützen, es sei nicht ersichtlich, ob der Antragsteller eine Erwerbstätigkeit ausübe.

III.

Die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügungen allein rechtfertigt freilich noch nicht deren sofortige Vollziehung. Hinzutreten muss ein dafür sprechendes besonderes öffentliches Interesse, das gemäß § 80 Abs. 5 VwGO mit dem privaten Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage abzuwägen ist (vgl. für die Ausweisung zuletzt: BVerfG, Kammerbeschl. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - Rn 29f.). Bei dieser Abwägung im Rahmen des gerichtlichen Eilverfahrens ist die - inzwischen vorgetragene und glaubhaft gemachte - Erwerbstätigkeit des Antragstellers zu berücksichtigen. Sie führt indes nicht dazu, dass das private Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsmittels das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der nachträglichen zeitlichen Beschränkung der Aufenthaltserlaubnis und der Abschiebungsandrohung überwiegt:

Das besondere öffentliche Interesse, das die sofortige Vollziehung der nachträglichen Verkürzung der Aufenthaltserlaubnis und der Abschiebungsandrohung rechtfertigt, besteht hier darin, dass sich der Aufenthalt des Antragstellers, der zu einem nicht mehr zu erreichenden Zweck (Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft) erlaubt worden war, nicht verfestigte. Das private Interesse an der vorläufigen Fortsetzung des Aufenthalts wiegt hier gering, weil dem Antragsteller bekannt war, dass sein Aufenthalt nur zur Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft erlaubt worden war, diese aber nur wenige Tage bestanden hatte. Ein überwiegendes Interesse des Antragstellers, den Ausgang des - aussichtslosen - Hauptsacheverfahrens im Inland abzuwarten, lässt sich unter den besonderen Umständen des konkreten Falles daher nicht feststellen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 GKG.

Ende der Entscheidung

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