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Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 11.06.2002
Aktenzeichen: 1 B 228/02
Rechtsgebiete: AuslG
Vorschriften:
AuslG § 32 |
2. Ein abgelehnter Asylbewerber, der durch Verschweigen seiner wahren Identität seine Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich hinausgezögert hat, ist nach der rechtlich nicht zu beanstandenden Verwaltungspraxis der obersten Landesbehörde von der Bleiberechtregelung vom 23.11.1999 ausgenommen. Ob die oberste Landesbehörde auch die hier aufgewachsenen, inzwischen volljährig gewordenen Kinder des abgelehnten Asylbewerbers von der Bleiberechtregelung ausnimmt, steht in ihrem Ermessen. Die betreffenden Kinder haben einen Anspruch darauf, dass die oberste Landesbehörde dieses Ermessen ausübt.
OVG: 1 B 228/02
Beschluss
In der Verwaltungsrechtssache
hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Stauch, Göbel und Alexy am 11.06.2002 beschlossen:
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Widersprüche gegen die Bescheide des Stadtamtes Bremen vom 24.08.1999 und vom 17.10.2001 wird bis einen Monat nach Zustellung des Widerspruchsbescheides angeordnet bzw. wiederhergestellt. Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Bremen vom 27.01.2000 - 4 V 2136/99 - und 31.05.2002 - 4 V 661/02 - und des Oberverwaltungsgerichts vom 09.06.2000 - 1 B 122/00 - werden entsprechend abgeändert. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.
Der Streitwert wird auf 3.000,-- Euro festgesetzt.
Gründe:
Der am 02.04.2002 gestellte Eilantrag des Antragstellers ist vom Verwaltungsgericht zutreffend dahin ausgelegt worden, dass mit ihm die Abänderung der Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Bremen vom 27.01.2000 - 4 V 2136/99 - sowie des Oberverwaltungsgerichts Bremen vom 09.06.2000 - 1 B 122/00 - begehrt wird. In jenen Beschlüssen ist der Antrag, die sofortige Vollziehung des Bescheids des Stadtamts Bremen vom 24.08.1999 auszusetzen, zurückgewiesen worden.
Der so verstandene Antrag ist zulässig und begründet. Gemäß § 80 Abs. 7 VwGO kann das Gericht, wenn hierfür triftige Sach- oder Rechtsgründe bestehen, Beschlüsse nach § 80 Abs. 5 VwGO abändern. Solche Gründe sind hier gegeben. Denn über die Frage, ob der Antragsteller in die Altfallregelung vom 23.11.1999 einbezogen werden kann, ist bislang nicht abschließend behördlich entschieden worden. Auf den Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid des Stadtamts Bremen vom 17.10.2001, mit dem eine Einbeziehung abgelehnt worden ist, ist nämlich ein Widerspruchsbescheid noch nicht ergangen. Das gilt im übrigen ebenso für den Widerspruch gegen den Bescheid vom 24.08.1999, mit dem - noch vor Ergehen der Altfallregelung - die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis abgelehnt worden war. Anders als das Verwaltungsgericht im angefochtenen Beschluss vom 31.05.2002 hält es das Oberverwaltungsgericht aufgrund der in einem Eilverfahren gebotenen summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage jedenfalls nicht für ausgeschlossen, dass die Widerspruchsbehörde den Antragsteller im Rahmen der von ihr vorzunehmenden pflichtgemäßen Ermessensentscheidung in die Altfallregelung einbeziehen wird. Aus diesem Grund überwiegt zumindest bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens das Interesse des Antragstellers, einstweilen von der sofortigen Vollziehung der gegen ihn ergriffenen ausländerbehördlichen Maßnahmen verschont zu bleiben. Für eine weitergehende Aussetzung der sofortigen Vollziehung besteht nach derzeitigem Sach- und Rechtsstand kein Anlass.
Im einzelnen gilt folgendes:
1.
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 09.06.2000 (NordÖR 2001, S. 258), die vorangegangene verwaltungsgerichtliche Eilentscheidung vom 27.01.2000 sowie die dem seinerzeitigen Eilverfahren zugrundeliegende ausländerbehördliche Verfügung vom 24.08.1999 haben sich mit der Frage einer Einbeziehung des Antragstellers in die Altfallregelung vom 23.11.1999 nicht befasst.
In jenem Verfahren ging es vielmehr zunächst darum, ob der Antragsteller türkischer Staatsangehöriger ist. Dies ist bejaht worden. Die Richtigkeit dieser Annahme ist durch die nachfolgende Entwicklung bestätigt worden. Weiter ging es um die Frage, ob dem Antragsteller als Angehörigen der arabisch sprechenden Minderheit in der Türkei eine Rückkehr in das Siedlungsgebiet dieser Minderheit wegen der dortigen Verhältnisse aus Rechtsgründen unzumutbar ist. Dies ist seinerzeit verneint worden. Hieran ist festzuhalten. Schließlich ist geprüft worden, ob dem Antragsteller nach dem Stand der Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse eine Rückkehr in die Türkei aus Rechtsgründen unzumutbar ist. Dies ist - auf der Grundlage des Vortrags des Antragstellers im damaligen Verwaltungsverfahren und gerichtlichen Eilverfahren - ebenfalls verneint worden. Auch hieran ist festzuhalten.
Nicht geprüft worden ist in den damaligen Verfahren die Frage einer Einbeziehung des Antragstellers in die Altfallregelung vom 23.11.1999. Ein ausländerbehördlicher Bescheid ist auf den Antrag vom 27.03.2000 vielmehr erst am 17.10.2001 ergangen. Auch von den Verfahrensbeteiligten ist dieser Punkt seinerzeit nicht in das Verfahren eingeführt worden.
2.
Der Ausgang des Widerspruchsverfahrens über den Antrag des Antragstellers auf Einbeziehung in die Altfallregelung muss noch als offen angesehen werden. Dem Gericht ist es auch nicht möglich, eine verläßliche Prognose über die Entscheidung der Widerspruchsbehörde zu stellen. Eine sichere Anwendungspraxis für Personen, die wie der Antragsteller die persönlichen Voraussetzungen für eine Einbeziehung in die Altfallregelung erfüllen, besteht bisher noch nicht.
a) Die Altfallregelung des Senators für Inneres, Kultur und Sport vom 23.11.1999 geht auf den Beschluss der Innenminister und -senatoren von Bund und Ländern vom 18./19.11.1999 zurück. Sie stützt sich auf § 32 AuslG, wonach die oberste Landesbehörde anordnen kann, dass Ausländer aus bestimmten Staaten oder dass in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbefugnis erteilt wird.
Anordnungen nach § 32 AuslG, die zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit des Einvernehmens des Bundesministeriums des Inneren bedürfen, ermöglichen es, dass aus humanitären Gründen Aufenthaltsbefugnisse abweichend von den strengen rechtlichen Voraussetzungen der §§ 30, 31 Abs. 1 AuslG erteilt werden (BVerwG, U. v. 19.09.2000 - 1 C 19/99 - NVwZ 2001, S. 210). Ob die oberste Landesbehörde eine Anordnung nach § 32 AuslG trifft, steht in ihrem Ermessen. Dementsprechend kann die oberste Landesbehörde den von der Anordnung erfassten Personenkreis bestimmen. Sie kann dabei positive Kriterien (Erteilungsvoraussetzungen) und negative Kriterien (Ausschlussgründe) aufstellen. Die Anordnung der obersten Landesbehörde bindet als ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift die Ausländerbehörden des Landes. Gerichtlich ist sowohl die Anordnung als auch die sie umsetzende Ermessenspraxis der Verwaltung nur eingeschränkt überprüfbar. Der Ausländer hat lediglich einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch darauf, dass ihm gegenüber aus Gründen der Gleichbehandlung die von der Behörde aufgestellten Maßstäbe eingehalten werden und dass weitere Differenzierungen jedenfalls nicht sachwidrig und willkürlich erfolgen. Dabei hat das Gericht zu beachten, dass Anordnungen nach § 32 AuslG nicht wie eine Rechtsvorschrift aus sich heraus, sondern als Willenserklärung der obersten Landesbehörde unter Berücksichtigung des wirklichen Willens des Erklärenden und ihrer tatsächlichen Handhabung, d. h. der vom Urheber gebilligten oder geduldeten tatsächlichen Verwaltungspraxis auszulegen und anzuwenden sind (BVerwG, U. v. 19.09.2000, a.a.O.).
Die Altfallregelung vom 23.11.1999 umschreibt die betroffene Ausländergruppe zunächst nach dem Einreisemotiv (Asylbewerber und Vertriebenenbewerber). Sie grenzt den begünstigten Personenkreis durch positive Erteilungsvoraussetzungen (Aufenthaltsdauer, Integration, Bedürftigkeit) und negative Ausschlussgründe näher ein und regelt insoweit das bei der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis auszuübende Ermessen. Hinsichtlich der Kriterien, die für die Sicherung des Lebensunterhaltes gelten, hat die oberste Landesbehörde darüber hinaus durch Erlass vom 09.01.2001 ergänzende Regelungen getroffen (vgl. dazu auch OVG Bremen, B. v. 28.01.2000 - 1 B 406/99 - NordÖR 2000, S. 270).
Danach spricht einiges dafür, dass der Antragsteller die allgemeinen Voraussetzungen der Altfallregelung für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis erfüllt. Er ist 1988 im Alter von 7 Jahren als Asylbewerber (zusammen mit seiner Familie) nach Deutschland eingereist. Er ist während des Aufenthalts im Bundesgebiet volljährig geworden und konnte zum maßgeblichen Stichtag - dem 19.11.1999 - als beruflich eingegliedert angesehen werden. Seit April 1999 ist er unbefristet als Arbeitnehmer in einer Tankstelle angestellt. Die nach dem Stichtag eingetretene Entwicklung belegt, dass diese Tätigkeit tatsächlich als Ausdruck einer beruflichen Integration angesehen werden kann. Damit zählt der Antragsteller zu dem Personenkreis, der nach Ziff. 1 Abs. 1 S. 3 ausdrücklich in die Altfallregelung einbezogen ist ("In die Regelung sind die während ihres Aufenthalts im Bundesgebiet volljährig gewordenen Kinder einzubeziehen, die eine Ausbildung durchlaufen, die zu einem anerkannten Bildungs- bzw. Ausbildungsabschluss führt, oder die bereits beruflich eingegliedert sind").
Mit Rücksicht auf den ergänzenden Erlass vom 09.01.2001 spricht einiges dafür, dass der Antragsteller mit seinem Einkommen den Lebensunterhalt seiner Familie sichern kann.
b) Den genannten positiven Erteilungsvoraussetzungen, die im Rahmen dieses Eilverfahrens summarisch gewürdigt werden können, ist die Antragsgegnerin bislang jedoch nicht weiter nachgegangen, weil sie im Falle des Antragstellers einen negativen Ausschlussgrund als erfüllt ansieht. Der Antragsteller sei von den Vergünstigungen der Altfallregelung ausgeschlossen, weil zunächst seine Eltern und später auch er selbst durch Verschweigen ihrer wahren türkischen Identität eine frühere Aufenthaltsbeendigung verhindert hätten (Ablehnungsbescheid vom 17.10.2001, Seite 3).
In der Tat zählt die Altfallregelung zu den Ausschlussgründen an erster Stelle die vorsätzliche Hinauszögerung der Aufenthaltsbeendigung (Ziff. 1 Abs. 2). Dieses Kriterium wird durch Beispiele erläutert: selbst verursachte Passlosigkeit, Aufgabe der Staatsangehörigkeit, verzögerte sukzessive Asylanträge, wiederholte Folgeanträge sowie zwischenzeitliches Untertauchen. Dass die Antragsgegnerin auch das Verschweigen der wahren Identität hierzu rechnet, leuchtet unmittelbar ein und kann nicht als ermessenswidrig angesehen werden.
Danach haben die Eltern des Antragstellers, die die Ausländerbehörde über ihre wahre Identität getäuscht haben und die inzwischen auch in die Türkei zurückgekehrt sind, einen Ausschlussgrund erfüllt.
Zu der weiteren Frage, ob ein von den Eltern verwirklichter Ausschlussgrund sich auch auf die Kinder erstreckt, enthält die Altfallregelung allerdings keine ausdrückliche Bestimmung. Soweit die Kinder minderjährig sind, ist insoweit in Rechnung zu stellen, dass das aufenthaltsrechtliche Schicksal minderjähriger Kinder aus Gründen der Familieneinheit grundsätzlich an das der Eltern geknüpft ist. Aus diesem Grund kann es kaum als ermessensfehlerhaft angesehen werden, wenn die Behörde, sofern die Eltern von der Altfallregelung ausgeschlossen sind, auch die minderjährigen Kinder hiervon ausnimmt. Der Grundsatz der Familieneinheit stellt in diesem Zusammenhang einen sachgerechten, an objektive Sachverhalte anknüpfenden Zurechnungsmaßstab dar, der allerdings nicht ausschließt, dass im Einzelfall in der Person des minderjährigen Kindes eigenständige Aufenthaltsgründe gegeben sein können (vgl. OVG Bremen, B. v. 07.03.2002 - 1 B 4/02 -).
Anders stellt sich die Situation bei volljährig gewordenen Kindern dar. Die Altfallregelung erkennt insoweit ausdrücklich deren eigene aufenthaltsrechtliche Position an. Sie trägt auf diese Weise dem Tatbestand der Volljährigkeit und der damit einhergehenden Selbstverantwortung junger Erwachsener Rechnung. Ob eine Zurechnung des Verhaltens der Eltern auch bei volljährigen Kindern ermessensfehlerfrei möglich ist, kann im Rahmen dieses Eilverfahrens jedoch auf sich beruhen. Denn eine gerichtlich überprüfbare, abschließende Ermessensentscheidung ist im Falle des Antragstellers, wie dargelegt, bislang noch nicht ergangen. Auch sonst liegen dem OVG verbindliche, im Bewußtsein des zustehenden Ermessensspielraums ergangene Regelungen der obersten Landesbehörde zu dieser Frage nicht vor. Soweit sich das Verwaltungsgericht auf eine Stellungnahme des Senators für Inneres, Kultur und Sport in einem früheren Verfahren bezieht, liegt hierin noch keine verläßliche allgemeine Regelung und Verwaltungspraxis zur Personengruppe des Antragstellers. Der Senator für Inneres, Kultur und Sport wäre nach dem Wortlaut der Altfallregelung nicht gehindert, einen volljährigen erwerbstätigen Ausländer, der den Lebensunterhalt seiner Familie selbst bestreiten kann und nicht wegen der Begehung von Straftaten von der Altfallregelung ausgeschlossen ist, in die Altfallregelung einzubeziehen. Allein die Täuschung seiner Eltern, bei deren Einreise der Antragsteller 7 Jahre alt war, begründet nach dem Wortlaut der Altfallregelung nicht zwingend auch den Ausschluss des Antragstellers aus der Regelung. Insoweit besteht - für den eng begrenzten Personenkreis, der Merkmale erfüllt wie der Antragsteller - jedenfalls ein Handlungsspielraum, in dessen Rahmen die Widerspruchsbehörde (Senator für Inneres, Kultur und Sport) nach sachgerechten Kriterien über die Einbeziehung oder Nichteinbeziehung zu entscheiden hat.
Dass der Antragsteller vor Bekanntwerden der von seinen Eltern begangenen Täuschung im Jahre 1998 - als im Haushalt der Eltern lebender Minderjähriger - das Verhalten der Eltern nicht gegenüber der Ausländerbehörde aufgedeckt hat, kann ihm als eigener Ausschlussgrund kaum vorgehalten werden.
3.
Für eine Aussetzung der sofortigen Vollziehung, die über den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids hinausgeht, besteht nach derzeitigem Sach- und Streitstand kein Anlass. Soweit der Antragsteller auf die bislang noch nicht abgeschlossene Klärung der Staatsangehörigkeit seiner nach islamischem Recht mit ihm verheirateten Ehefrau sowie der Kinder hinweist, hat das Verwaltungsgericht ihm zu Recht entgegengehalten, dass es wesentlich an ihm und seiner Ehefrau liegt, die notwendigen Klärungen bei den zuständigen Stellen voranzutreiben, insoweit aber bislang keine zielgerichteten Anstrengungen erkennbar sind. Dafür, dass die Ehefrau und die Kinder langfristig gehindert wären, dem Antragsteller in die Türkei zu folgen, ist wenig ersichtlich (vgl. zu den Obliegenheiten, die ausländische Eheleute bei ungeklärter Staatsangehörigkeit eines der Ehegatten treffen vgl. OVG Bremen, B. v. 10.01.2002 - 1 B 8/02 -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG.
Ende der Entscheidung
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