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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 07.09.2007
Aktenzeichen: 1 B 242/07
Rechtsgebiete: GG, BremSchulG


Vorschriften:

GG Art. 6 Abs. 2
BremSchulG § 23
1. Die Einrichtung einer Ganztagsschule unterliegt dem Gesetzesvorbehalt. Der Gesetzgeber muss unter anderem regeln, ob der Besuch der Ganztagsschule freiwillig oder verpflichtend ist.

2. Nach § 23 BremSchulG ist der Besuch einer Ganztagsschule freiwillig. Der Angebotscharakter ist auch bei Umwandlung einer bestehenden Halbtagsschule in eine Ganztagsschule zu beachten.


Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: 1 B 242/07

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Stauch, Göbel und Alexy am 07.09.2007 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Bremen - 1. Kammer - vom 08.06.2007 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird im Wege einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, bis spätestens zum 05.11.2007 in der 8. Jahrgangsstufe des Alten Gymnasiums einen Klassenverband mit Halbtagsschulbetrieb einzurichten, sofern mindestens 23 Schülerinnen und Schüler für eine solche Klasse angemeldet werden. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren ebenfalls auf 5.000,- € festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sind in diesem Umfang gegeben (vgl. §§ 123 Abs. 1, Abs. 3 VwGO i. V. m. 920 Abs. 2 ZPO). Die Antragsteller haben glaubhaft gemacht, dass sie die Einrichtung eines Klassenverbandes mit Halbtagsschulbetrieb in der 8. Jahrgangsstufe des Alten Gymnasiums verlangen können, sofern mindestens 23 Schülerinnen und Schüler für eine solche Klasse angemeldet werden.

1.

Ganztagsschulen dehnen den Unterricht und weitere Förder- und Betreuungsangebote der Schule auf die Nachmittage aus. Sie ermöglichen damit eine intensive Förderung der Schülerinnen und Schüler. Wegen des ganztägigen Schulbetriebs erleichtern sie den Elternteilen darüber hinaus die Aufnahme einer Berufstätigkeit.

Andererseits berührt eine der Schulpflicht unterliegende ganztägige Erziehung der Kinder das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG). Deshalb bedarf die Einführung der Ganztagsschule einer gesetzlichen Regelung, die den Umfang und die Gestaltungsmöglichkeiten der auf den Nachmittag ausgedehnten Unterrichts- und Erziehungsarbeit, die vom Ganztagsunterricht erfassten Schularten sowie den Pflicht- oder Angebotscharakter der Ganztagsschule bestimmt. Das gilt wegen der Zurückdrängung des elterlichen Erziehungsrechts insbesondere für die Einführung einer Ganztagsschule in verpflichtender Form. Von Verfassungs wegen ist geboten, dass der Gesetzgeber selbst die genannten Regelungen trifft und sie nicht der Verwaltung überlässt (VerfGH Saarland, U. v. 14.07.1987 - Lv 4/86 -, S. 116 UA; LVerfG Sachsen-Anhalt, U. v. 15.01.2002 - LV 69/01 und 12/01 - Rn 149, 154; Avenarius/Heckel, Schulrechtskunde, 7. Aufl., S. 83, 246).

2.

Das Bremische Schulgesetz - BremSchulG - enthält in § 23 eine Regelung über die Einrichtung von Ganztagsschulen. Dieser Regelung ist zu entnehmen, dass die Ganztagsschule Angebotscharakter besitzen, der Besuch also freiwillig sein soll.

In § 23 Abs. 2 S. 1 BremSchulG heißt es:

Wird eine Schule ganz oder zum Teil als Ganztagsschule betrieben, ist die Wahrnehmung des entsprechend gekennzeichneten Angebots mindestens für ein Schuljahr verpflichtend, wenn sich die Erziehungsberechtigten für dieses Angebot entschieden haben.

Nach dieser Vorschrift soll es von der Entscheidung der Eltern abhängen, ob ihr Kind das Angebot der Ganztagsschule nutzt. Haben sie sich für das Angebot entschieden, sind sie allerdings an diese Entscheidung gebunden. Der Ganztagsschulbesuch unterliegt dann aufgrund dieser Selbstbindung der Schulpflicht, wie § 23 Abs. 2 S. 2 BremSchulG durch die Bezugnahme auf § 58 BremSchulG verdeutlicht.

Ganztagsschulen i. S. von § 23 BremSchulG sind dadurch gekennzeichnet, dass zwischen dem Unterricht, den ergänzenden Lern- und den Betreuungsangeboten der Schule eine pädagogische Einheit besteht. Die Verordnung zur Regelung der Ganztagsschule vom 30.01.2007 - GanztagsschulVO - führt dazu aus, dass die Lernzeit in Ganztagsschulen durchgängig "rhythmisiert" wird, d. h. die vormittäglichen und mittäglichen Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler in einem konzeptionellen Zusammenhang stehen (§ 2 Abs. 1 GanztagsschulVO: integrative im Unterschied zur bloß additiven Ganztagsschule). Die Lernzeit selbst umfasst an mindestens 3 Wochentagen täglich mindestens 7 Zeitstunden (§ 2 Abs. 2 S. 2 GanztagsschulVO). Damit erstreckt sich die Ganztagsschule nach Bremischen Schulrecht auf mindestens drei Nachmittage einer Woche.

An der Angebotsform dieser Ganztagsschule, d. h. dem Prinzip der Freiwilligkeit, kann nach dem Wortlaut von § 23 Abs. 2 S. 1 BremSchulG kein Zweifel bestehen. Im Gesetz fehlt jeder Hinweis auf einen verpflichtenden Charakter von Ganztagsschulen. Eine solche verpflichtende Form bedürfte mit Rücksicht auf den Vorbehalt des Gesetzes, dem diese schulorganisatorische Maßnahme unterliegt, einer eindeutigen gesetzlichen Regelung. Eine derartige Regelung ist beispielsweise in § 14 des Schulgesetzes des Landes Rheinland-Pfalz getroffen worden. § 14 Abs. 1 Nr. 1 dieses Gesetzes betrifft die Ganztagsschule in Angebotsform; die Regelung entspricht inhaltlich dem § 23 Abs. 2 BremSchulG. § 14 Abs. 1 Nr. 2 betrifft die Ganztagsschule in verpflichtender Form. Eine vergleichbare Bestimmung ist im Bremischen Schulgesetz nicht enthalten.

Ein verpflichtender Charakter der Ganztagsschule lässt sich auch nicht daraus ableiten, dass § 23 Abs. 2 S. 1 BremSchulG neben Schulen, die "zum Teil" als Ganztagsschule eingerichtet sind (teilgebundene Form) auch das Vorhandensein von Schulen voraussetzt, die "ganz" als Ganztagsschule betrieben werden (gebundene Form). Das Vorhandensein einer ausschließlich als Ganztagsschule betriebenen Schule muss nicht mit dem Prinzip der Freiwilligkeit kollidieren. Das Wahlrecht der Erziehungsberechtigten erstreckt sich in diesem Fall auf die Schulauswahl, was allerdings voraussetzt, dass in zumutbarer Entfernung eine Halbtagsschule als Alternative zur Verfügung steht (vgl. dazu etwa die Wahlregelung in § 63 Abs. 4 Nr. 1 des Niedersächsischen Schulgesetzes). Die Schulverwaltung hat dafür Sorge zu tragen, dass entsprechende Alternativen bestehen (vgl. zum nieders. Recht Seydenhelm/Nagel/Brockmann, § 63 NdsSchulG, Ziff. 6).

3.

Das Bremische Schulgesetz enthält keine Bestimmungen über die Umwandlung einer bestehenden Halbtagsschule in eine Ganztagsschule (anders als das Schulgesetz des Landes Rheinland-Pfalz, vgl. dort § 14 Abs. 3 S. 1). Das bedeutet, dass auch bei einer Umwandlung der Angebotscharakter der Ganztagsschule zu wahren, also das Prinzip der Freiwilligkeit zu beachten ist. Das Prinzip der Freiwilligkeit ist verletzt, wenn Erziehungsberechtigte, die mit der Umwandlung nicht einverstanden sind, vor die Alternative gestellt werden, entweder einen Schulwechsel vorzunehmen oder, um dem Kind einen solchen Wechsel zu ersparen, gegen ihren Willen am Ganztagsschulbetrieb teilzunehmen. Selbst wenn eine vergleichbare Schule in zumutbarer Entfernung zur Verfügung stehen sollte, lässt sich eine solche Zwangssituation nicht mit dem Angebotscharakter der Ganztagsschule vereinbaren. Nach geltendem Bremischen Schulrecht fehlt die Rechtsgrundlage für einen derartigen Eingriff. Das kann insbesondere der Umwandlung einer bestehenden Halbtagsschule in eine Schule mit ausschließlichem Ganztagsbetrieb Grenzen setzen.

4.

Diesen Rechtsfragen braucht hier aber nicht weiter nachgegangen zu werden. Denn am Alten Gymnasium, das vom Sohn der Antragsteller seit dem Schuljahr 2004/05 besucht wird, ist der Ganztagsschulbetrieb nach der Errichtungsverfügung des Senators für Bildung und Wissenschaft vom 12.02.2007 rückwirkend zum 01.08.2006 lediglich in teilgebundener Form eingeführt worden. Entgegen der Ansicht der Antragsteller ist diese Errichtungsverfügung in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden (a). Sie lässt es zu, dass bei der Errichtung des Ganztagsschulbetriebs das Prinzip der Freiwilligkeit beachtet wird, was in der konkreten Umsetzung bislang aber nicht ausreichend geschehen ist (b).

a)

Das Oberverwaltungsgericht folgt dem Verwaltungsgericht darin, dass der Senator für Bildung und Wissenschaft für die Errichtungsverfügung vom 12.02.2007 zuständig war. Bei der Einrichtung einer Ganztagsschule handelt es sich um eine schulorganisatorische Maßnahme nach § 4 des Bremischen Schulverwaltungsgesetzes - BremSchulVwG -, die zur äußeren Schulverwaltung zählt und bei der der Schulträger nicht zuletzt Fragen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel zu prüfen hat. Das Verwaltungsgericht hat näher dargelegt, dass hier die innerhalb der Stadtgemeinde vorgeschriebenen Zuständigkeitsregelungen gewahrt worden sind und die getroffene Entscheidung schließlich mit der Errichtungsverfügung vom 12.02.2007 formell korrekt umgesetzt worden ist. Die Bedenken, die die Antragsteller diesbezüglich gegen das Verfahren richten, dringen nicht durch.

b)

Die Errichtungsverfügung gestattet es, bei der Einrichtung des Ganztagsschulbetriebs das Prinzip der Freiwilligkeit zugrunde zu legen. Denn die Verfügung sieht einen solchen Betrieb nicht für die Schule als Ganzes, sondern, wie erwähnt, in teilgebundener Form vor. Teilgebundene Form bedeutet gem. § 2 Abs. 2 S. 1 GanztagsschulVO, dass die Schule nur für einzelne Klassenverbände als Ganztagsschule eingerichtet wird.

Das Prinzip der Freiwilligkeit verlangt unter diesen Umständen, dass dem Wunsch von Teilen der Eltern, am Halbtagsschulbetrieb festzuhalten, Rechnung getragen wird. Das lässt sich in der Weise verwirklichen, dass der Ganztagsschulbetrieb nicht - wie aber geschehen - für die gesamte Jahrgangsstufe eingeführt wird, sondern je nach der Zahl der Anmeldungen Klassenverbände davon ausgenommen werden. Bei Einführung des Ganztagsschulbetriebs zum Schuljahr 2006/2007 hatten immerhin die Eltern von 33 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe (von insgesamt 111 Schülerinnen und Schülern) erklärt, dass sie am Halbtagsschulbetrieb festhalten möchten. Die stattdessen erfolgte Einführung des Ganztagsschulbetriebs für die gesamte Jahrgangsstufe zwingt diese Eltern, entweder einen Schulwechsel vorzunehmen oder gegen ihren Willen an diesem Betrieb teilzunehmen.

Allerdings können die Antragsteller die Schaffung eines Klassenverbandes mit Halbtagsschulbetrieb im Rahmen dieser einstweiligen Anordnung nur verlangen, wenn auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt die dafür vorgesehene Klassenfrequenz noch erreicht wird. Nach den einschlägigen Vorgaben (Richtlinie über die Klassenfrequenzen der allgemeinbildenden Schulen der Stadtgemeinde Bremen bis zur Jahrgangsstufe 10 vom 08.06.2004) beträgt die Bandbreite der Klassenfrequenz an Gymnasien 23 - 33 Schülerinnen und Schüler. Die Einrichtung steht deshalb unter der Bedingung, dass aufgrund der Anmeldungen der Eltern diese Klassenfrequenz erreicht wird.

Da aufgrund dieser Anmeldungen unter Umständen Wechsel zwischen den vorhandenen Klassenverbänden erforderlich sein werden, können die Antragsteller nicht verlangen, dass der konkrete Klassenverband, den ihr Sohn zur Zeit besucht (Klasse 8 b), zum Halbtagsschulbetrieb zurückkehrt. In diesem Umfang ist die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin ist verpflichtet, bei entsprechenden Anmeldungen bis spätestens zum 05.11.2007 (erster Schultag nach den Herbstferien) einen solchen Klassenverband einzurichten.

5.

Das Oberverwaltungsgericht hat im Hinblick auf den für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsgrund erwogen, ob die tatsächliche Beeinträchtigung der Antragsteller, die vom Ganztagsschulbetrieb ausgeht, tatsächlich so gewichtig ist, dass sie einen Eingriff in den laufenden Schulbetrieb rechtfertigt. Der für den Sohn der Antragsteller mit Beginn der 8. Jahrgangsstufe geltende Stundenplan weist 34 Unterrichtsstunden auf. Ein ergänzendes schulisches Angebot neben dem Unterricht ist lediglich im Umfang von einer Stunde vorgesehen (Lernhilfe in der 8. Stunde am Dienstag). Der Ganztagsschulbetrieb erschöpft sich damit im Wesentlichen darin, dass für die - ganz erhebliche - Zahl an Unterrichtsstunden neben 5 Vormittagen 3 Nachmittage in Anspruch genommen werden. Bei Halbtagsschulbetrieb könnten nur maximal 2 Nachmittage in Anspruch genommen werden, was, solange nicht auf den Samstagvormittag zurückgegriffen wird, auch praktisch unumgänglich ist. Andererseits hat die Antragsgegnerin ausdrücklich gegenüber den Antragstellern erklärt, dass sie sich für berechtigt halte, für die gesamte Jahrgangsstufe einen "regulären Ganztagsbetrieb" einzurichten. Die Antragsteller wenden sich gegen diese Strukturentscheidung, die auch eine stärkere Inanspruchnahme der Nachmittage als derzeit geschehen zulässt. Unter diesem Gesichtspunkt ist ein Anordnungsgrund für die beantragte einstweilige Anordnung gegeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 S. 3 VwGO; die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 GKG.

Ende der Entscheidung

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