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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 16.10.2006
Aktenzeichen: 1 B 310/06
Rechtsgebiete: RL 91/439, FeV


Vorschriften:

RL 91/439 Art. 1 Abs. 2
RL 91/439 Art. 7 Abs. 1
RL 91/439 Art. 8 Abs. 2
FeV § 11 Abs. 8
FeV § 46 Abs. 3
Entsteht nach Erteilung des EU-Führerscheins ein qualifizierter Anlass zur Prüfung, ob von dem Betreffenden eine Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs ausgeht, verbietet Gemeinschaftsrecht es nicht, vor Erteilung des EU-Führerscheins eingetretene Sachverhalte (hier: wiederholte Trunkenheitsfahrten) in die Gefahrenprognose einzubeziehen.
Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: 1 B 310/06

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Stauch, Göbel und Alexy am 16.10.2006 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Bremen - 5. Kammer - vom 10.08.2006 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren ebenfalls auf 2.500,- € festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde bleibt erfolglos. Die in einem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Interessenabwägung fällt zu Ungunsten des Antragstellers aus. Es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Durchsetzung der Verfügung der Verwaltungspolizei Bremerhaven vom 06.04.2006. Diese Verfügung, mit der das Recht des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen im Inland erloschen ist (§ 46 Abs. 5 S. 2 FeV), d. h. mit der die ihm in Tschechien erteilte Fahrerlaubnis räumlich beschränkt wurde, erscheint bei summarischer Überprüfung offenkundig rechtmäßig. Es besteht überdies ein dringendes öffentliches Interesse daran, bereits vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Teilnahme des Antragstellers am motorisierten Straßenverkehr zu verhindern.

Der 32 Jahre alte Antragsteller ist durch drei Trunkenheitsfahrten aufgefallen (Oktober 1993: 1,98 %o ; Februar 1995: 2,78 %o; April 1999: 2,2 - 2,3 %o). Zwischendurch erfolgte eine Verkehrsunfallflucht (Februar 1999). Wegen der letzten Trunkenheitsfahrt ordnete das Amtsgericht Bremerhaven eine 4-jährige Sperre für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis an (Urteil vom 30.05.2000). Am 18.04.2005 erwarb der Antragsteller in Tschechien eine Fahrerlaubnis der Klasse B. Am 09.06.2005 beging er erneut eine Verkehrsunfallflucht: Der Antragsteller kam auf der BAB 27 von der Fahrbahn ab, prallte zunächst gegen die linke Schutzplanke, wurde über die Fahrbahn geschleudert und kam an der rechten Schutzplanke zum Stehen. Er entfernte sich vom Unfallort zu Fuß (Urteil des Amtsgerichts Bremerhaven vom 06.12.2005).

Zu Recht hat die Antragsgegnerin, nachdem sie von der tschechischen Fahrerlaubnis und der erneuten Verkehrsunfallflucht Kenntnis erlangt hatte, den Antragsteller aufgefordert, ein medizinisch-psychologisches Gutachten zu seiner Kraftfahreignung vorzulegen, und zwar insbesondere unter der Fragestellung möglicher weiterer Trunkenheitsfahrten (Schreiben vom 02.02.2006). Rechtsfehlerfrei hat die Antragsgegnerin, nachdem er dieses Gutachten nicht beigebracht hatte, dem Antragsteller das Recht zum Führen von Kraftfahrzeugen im Inland entzogen (Verfügung vom 06.04.2006).

Denn die Verkehrsunfallflucht vom 09.06.2005 begründet in Verbindung mit dem in der Vergangenheit gezeigten Verhalten erhebliche Zweifel an der Kraftfahreignung des Antragstellers (vgl. § 46 Abs. 3 FeV). Sein Verhalten wirft die Frage auf, ob durch das Entfernen vom Unfallort eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit als Unfallursache verborgen werden sollte. Vor dem Hintergrund der in der Vergangenheit erfolgten Trunkenheitsfahrten, die auf eine verfestigte, langjährige Alkoholproblematik, wenn nicht sogar auf eine Alkoholabhängigkeit hinweisen, musste sich die Frage nach einem möglichen Fortbestehen der Suchtproblematik geradezu aufdrängen. Es wäre Sache des Antragstellers gewesen, diese Bedenken zu zerstreuen. Dies ist aber nicht geschehen. Hieraus hat die Antragsgegnerin zu Recht auf das Fehlen der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen geschlossen (vgl. § 11 Abs. 8 FeV).

Das Vorgehen der Antragsgegnerin verstößt nicht gegen Art. 1 Abs. 2 RL 91/439/EG (Führerscheinrichtlinie). Nach dieser Vorschrift werden die von den Mitgliedsstaaten der EU ausgestellten Führerscheine gegenseitig anerkannt. Anerkennung bedeutet, dass grundsätzlich davon auszugehen ist, dass der ausstellende Mitgliedsstaat die inhaltlichen Voraussetzungen, die in Art. 7 Abs. 1 RL 91/439 für die Erteilung des Führerscheins vorgesehen sind, geprüft hat. Art. 1 Abs. 2 RL 91/439 schreibt in diesem Sinne eine Anerkennung ohne jede Formalität vor und verwehrt es anderen Mitgliedsstaaten, die Anerkennung von einer eigenen "Nachprüfung" der Erteilungsvoraussetzungen abhängig zu machen. Auch ist es unzulässig, die Anerkennung an die Erfüllung der möglicherweise strengeren nationalen Erteilungskriterien zu knüpfen. Dies gilt auch dann, wenn dem Betreffenden in dem Mitgliedsstaat, in dem er jetzt wieder lebt, in der Vergangenheit die Fahrerlaubnis entzogen worden war (EuGH, U. v. 29.04.2004, C - 476/01, NJW 2004, 1725, Rn. 45, 49, 76).

Das bedeutet aber nicht, dass gegen den Inhaber eines EU-Führerscheins von Seiten der Behörden seines jetzigen Aufenthaltsstaats nicht eingeschritten werden dürfte, wenn der Betreffende nach der Erteilung ein Verhalten zeigt, dass seine Kraftfahreignung in Frage stellt. Art. 8 Abs. 2 RL 91/439 verleiht für diesen Fall ausdrücklich die Ermächtigung, im Interesse der Sicherheit des Straßenverkehrs Maßnahmen zu ergreifen (EuGH, B. v. 06.04.2006, C - 227/05, NJW 2006, 2173, Rn. 38).

Hat bei dem Betreffenden vor Erteilung des EU-Führerscheins eine Suchtproblematik bestanden, die zu Verkehrsdelikten geführt hat, und zeigt er jetzt ein Verhalten, das konkrete Hinweise für einen Rückfall bietet, ist es danach der Behörde nicht verwehrt, den neu aufgetretenen Zweifel an der Kraftfahreignung nachzugehen, etwa durch die Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (OVG Lüneburg, B. v. 15.08.2006 - 12 ME 123/06 - juris; OVG Greifswald, B. v. 30.08.2006 - 1 M 50/06 - juris; OVG Koblenz, B. v. 11.09.2006 - 10 B 10734/06 - juris). Dabei handelt es sich nicht um eine - unzulässige - inhaltliche Nachprüfung des von einem anderen Mitgliedsstaat erteilten EU-Führerscheins, sondern um die durch die erneute Verkehrsauffälligkeit ausgelöste Prüfung der aktuellen Gefährdungslage. Diese lässt sich bei einer Suchtproblematik wegen der erheblichen Rückfallgefahr nur unter Einbeziehung des in der Vergangenheit gezeigten Verhaltens beurteilen. Der EU-Führerschein führt in diesem Fall also nicht etwa dazu, dass die von dem Betreffenden in der Vergangenheit begangenen, durch Alkohol- oder Drogensucht verursachten Verkehrsdelikte bei der aktuellen Gefahrenprognose nicht berücksichtigt werden dürften, sie also im Ergebnis quasi einem Verwertungsverbot unterfallen würden. Die Verwertbarkeit von Verkehrsdelikten bestimmt sich vielmehr nach den hierfür maßgeblichen Tilgungsvorschriften des Straßenverkehrsgesetzes (vgl. § 29). Entsteht nach Erteilung des EU-Führerscheins ein qualifizierter, auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ausreichend gewichtiger Anlass zur Prüfung, ob von dem Betreffenden eine Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs ausgeht, verbietet Gemeinschaftsrecht es mithin nicht, vor Erteilung des EU-Führerscheins eingetretene Sachverhalte in die Gefahrenprognose einzubeziehen. Die knapp drei Monate nach Erteilung der tschechischen Fahrerlaubnis begangene Verkehrsunfallflucht des Antragstellers stellt einen solchen qualifizierten Anlass dar.

Die vom Verwaltungsgericht aufgeworfene allgemeine Frage, ob die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung von EU-Führerscheinen auch in Fällen des sogenannten "Führerscheintourismus" gilt, stellt sich im vorliegenden Fall nicht. Das Verwaltungsgericht hat insoweit mit durchaus beachtlichen Erwägungen in Betracht gezogen, dass für eine bloße formale gegenseitige Anerkennung dann kein Raum mehr sei, wenn der den Führerschein ausstellende Mitgliedsstaat die nach den Verhältnissen des Einzelfalls notwendige Überprüfung der gesundheitlichen Anforderungen des Führerscheinbewerbers nicht vorgenommen hat (zur Überprüfung dieser Anforderung vgl. Art. 7 Abs. 1 RL 91/439 i. V. m. Anhang III Nr. 14 und 15). Das gelte zumal dann, wenn die nach Gemeinschaftsrecht gebotene Überprüfung aufgrund von unvollständigen oder wahrheitswidrigen Angaben des Führerscheinbewerbers unterblieben sei. Zur Frage dieser sogenannten Missbrauchsfälle haben in jüngster Zeit wiederholt auch Obergerichte Stellung genommen (vgl. OVG Weimar, B. v. 29.06.2006 - 2 EO 240/06 - juris; OVG Münster, B. v. 13.09.2006 - 16 B 989/06 - juris). Der EuGH ist seit kurzem durch einen Vorlagebeschluss mit dieser Frage befasst (VG Chemnitz, B. v. 03.08.2006 - 2 K 1093/05 -www.fahrerlaubnisrecht.de). Da im vorliegenden Fall aber, wie dargelegt, aufgrund eines neuerlichen Verkehrsverstoßes ein qualifizierter Anlass zu einer aktuellen Gefahrenprognose bestand, braucht dem hier nicht weiter nachgegangen zu werden.

Es besteht ein dringendes öffentliches Interesse daran, die offenkundig rechtmäßige Verfügung vom 06.04.2006 sofort durchzusetzen. Aufgrund des von ihm gezeigten Verhaltens muss beim Antragsteller mit weiteren alkoholbedingten Verkehrsauffälligkeiten gerechnet werden. Damit sind elementare Interessen der Verkehrssicherheit berührt. Ihnen kann nur dadurch begegnet werden, dass die weitere Teilnahme des Antragstellers am Straßenverkehr unverzüglich beendet wird.

Die jetzt im Beschwerdeverfahren vorgelegten Laborergebnisse über zwei (am 24.08. und 25.09.2006 entnommene) Blutproben können zu keiner anderen Beurteilung führen. Zwar haben die Blutwerte bei beiden Blutproben im Normbereich gelegegen. Eine verläßliche Alkoholabstinenz lässt sich daraus, schon weil der Erhebungszeitraum zu kurz ist, aber nicht ableiten. Abgesehen davon liegt beim Antragsteller, dem es in der Vergangenheit sogar schon gelungen war, über längere Zeiträume abstinent zu leben, der dann aber doch wieder in sein Suchtverhalten zurückfiel (vgl. das MPI-Gutachten vom 03.12.1997 und die nachfolgende Trunkenheitsfahrt vom April 1999), der Schwerpunkt der Überprüfung im psychischen Bereich. Entscheidendes Kriterium ist, ob die Suchtproblematik wirklich dauerhaft und stabil überwunden ist. Das lässt sich nur durch ein medizinisch-psychologisches Gutachten klären.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO; die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 GKG.

Ende der Entscheidung

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