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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 18.10.2002
Aktenzeichen: 1 B 315/02
Rechtsgebiete: BremLBO, BauGB


Vorschriften:

BremLBO § 49 Abs. 1
BauGB § 34 Abs. 1
Zu den Voraussetzungen, unter denen das Fehlen ausreichender Stellplätze (hier: für die Erweiterung einer Hochschule durch ein Hörsaal- und Mensagebäude) gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme auf die angrenzende Wohnbebauung verstoßen kann.
OVG: 1 B 315/02

Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Stauch, Göbel und Alexy am 18.10.2002 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen - 1. Kammer - vom 08.08.2002 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen eine Baugenehmigung für die Erweiterung der Hochschule ... am Standort ...

Der Antragsteller ist Eigentümer des Wohnhauses ... Für sein Grundstück und die nähere Umgebung sieht ein übergeleiteter Staffelbau- und Gewerbeplan aus dem Jahre 1960 die Gewerbeklasse IV vor. Ausgenommen von dieser Ausweisung ist das auf der anderen Straßenseite gelegene Areal, auf dem sich früher die Seefahrtschule befand und auf dem heute die nautischen und wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge der Hochschule ... mit etwa 2.800 Studierenden untergebracht sind. Gegenstand der angefochtenen Baugenehmigung ist die Errichtung eines zweigeschossigen Mensa- und Hörsaalgebäudes sowie eines dreigeschossigen Seminargebäudes mit insgesamt 2.224 m2 Nutzfläche. Die Mensa mit 270 Sitzplätzen und einer Kapazität von 700 Essen soll die bisherige Ausgabe von an einem anderen Standort hergestellten Mittagessen ersetzen. Die Hörsäle verfügen über 150 bzw. 70 Plätze. Das Seminargebäude mit 21 Seminarräumen soll in aufgeständerter Form über einer Fläche errichtet werden, die bisher als Parkplatz diente. Dadurch verringert sich die Zahl der Stellplätze von bisher 128 auf künftig 123. Der Antragsteller sieht sich durch den Lärm der Kraftfahrzeuge und das Fehlen weiterer Stellplätze in seinen Rechten verletzt. Seinen Antrag, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Baugenehmigung anzuordnen, hat das Verwaltungsgericht abgegelehnt. Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein Begehren weiter.

II.

Die Beschwerde hat - jedenfalls aus den Gründen, die der Antragsteller dargelegt hat und auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist - keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag zu Recht mit der Begründung abgelehnt, dass der Widerspruch des Antragstellers voraussichtlich nicht zur Aufhebung der Baugenehmigung führen wird.

1.

Die Baugenehmigung ist im Widerspruchsverfahren nicht schon deshalb aufzuheben, weil - wie der Antragsteller meint - Belange des Lärmschutzes im Genehmigungsverfahren ignoriert worden seien.

Eine Aufhebung der Baugenehmigung ist, wie das Verwaltungsgericht im Anschluss an den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 13.01.2000 - 1 B 423/99 - zutreffend ausführt, nur zu erwarten, wenn die Überprüfung der Baugenehmigung im Widerspruchsverfahren ergibt, dass sich bisher vernachlässigten Lärmschutzbelangen nicht durch zusätzliche Vorkehrungen betrieblicher, baulicher oder organisatorischer Art hinreichend begegnen lässt. Der Beschwerdevortrag, eine solche Nachbesserung der Baugenehmigung sei im Baurecht ausgeschlossen, weil es an einer der in § 75 Abs. 1a VwVfG für das Planfeststellungsverfahren getroffenen vergleichbaren Regelung fehle, verkennt Sinn und Zweck des Widerspruchsverfahrens. Es ist Teil des noch nicht abgeschlossenen Verwaltungsverfahrens; in ihm wird die Recht- und Zweckmäßigkeit der Baugenehmigung umfassend überprüft (§ 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dabei ist die Widerspruchsbehörde nicht auf die Bestätigung oder Kassation des ursprünglichen Bescheids beschränkt. Sie hat vielmehr, sofern dies erforderlich ist, den Sachverhalt durch eigene Ermittlungen weiter aufzuklären und, wenn dazu Veranlassung besteht, den ursprünglichen Verwaltungsakt abzuändern. Erst der Widerspruchsbescheid gibt dem angefochtenen ursprünglichen Bescheid die maßgebliche Gestalt (vgl. § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).

Zutreffend hat das Verwaltungsgericht auch angenommen, es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich , dass zusätzliche Vorkehrungen gegen den Lärm, soweit sie überhaupt erforderlich sein sollten, im Widerspruchsbescheid nicht mehr wirksam getroffen werden könnten. Auch die Beschwerde trägt solche Anhaltspunkte nicht vor. Ohne solche Anhaltspunkte kann es aber nicht als wahrscheinlich angesehen werden, dass die Baugenehmigung aufzuheben sei, weil die Verwirklichung des Vorhabens zu unzumutbaren Lärmeinwirkungen für den Antragsteller führe.

Zur Klärung der Frage, ob überhaupt Vorkehrungen gegen den Kraftfahrzeugverkehr zu treffen sind, der einem Vorhaben zuzurechnen ist, bedarf es im übrigen nicht in jedem Fall der vom Antragsteller vermissten Lärmprognose nach den Regeln der TA Lärm (Nummer 2.A des Anhangs). Eine solche detaillierte Prognose ist nach Nr. 4. 2. b) TA Lärm entbehrlich, wenn auf Grund von Erfahrungen an vergleichbaren Anlagen zu erwarten ist, dass der erforderliche Lärmschutz sichergestellt ist.

2.

Ob die nach § 49 Abs. 1 BremLBO notwendigen Stellplätze in ausreichender Zahl nachgewiesen worden sind, hat das Verwaltungsgericht offen gelassen. Nach § 49 Abs. 1 Satz 2 BremLBO richtet sich die Anzahl der notwendigen Stellplätze nach der "Anzahl der vorhandenen und zu erwartenden Fahrzeuge der ständigen Benutzer und der Besucher der Anlage". Dieser Vorgabe wird nur eine Berechnung gerecht, die die Zahl der tatsächlich vorhandenen Studierenden und Bediensteten der Hochschule einbezieht. Es genügt deshalb nicht, sich an den Richtwerten für den Raumbedarf im Hochschulrahmenplan zu orientieren und nur 1.382 Studierende zu berückischtigen. Ein darin liegende Verstoß gegen § 49 Abs. 1 BremLBO führt aber nicht zu einer Verletzung der Rechte des Antragstellers, denn die bauordnungsrechtlichen Stellplatzvorschriften sind nicht nachbarschützend. Das hat das Oberverwaltungsgericht bereits zur früheren Fassung der Bremischen Landesbauordnung entschieden (Beschl.v.08.09.1982 - 1 B 37/82), und daran ist auch für die jetzige Fassung der Landesbauordnung vom 27.03.1995 festzuhalten. Dies gilt umso mehr, als der Bauherr nunmehr nach § 49 Abs. 6 Satz 1 BremLBO frei wählen kann, ob er die notwendigen Stellplätze tatsächlich herstellt oder durch Zahlung eines Geldbetrages für die in § 49 Abs. 9 BremLBO bestimmten Zwecke ablöst (vgl. dazudie Gesetzesbegründung, Bremische Bürgerschaft <Landtag>, Drs. 13/1176, S. 127). Auf die Ausübung dieses Wahlrechts hat der Nachbar keinen Einfluss. Auch die strikte Beachtung der Vorschrift stellt deshalb nicht sicher, dass Stellplätze in der konkreten Nachbarschaft des Vorhabens geschaffen werden. Die Vorschrift bezweckt also erkennbar nicht den Schutz des Nachbarn, sondern dient ausschließlich öffentlichen Interessen.

3.

Unbeschadet der bauordnungsrechtlichen Vorschriften kann es allerdings aus Gründen des Bauplanungsrechts zu Gunsten des Nachbarn geboten sein, ein Vorhaben nur dann zuzulassen, wenn zugleich Stelllplätze in hinreichender Zahl auf dem betroffenen Grundstück oder in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nachgewiesen werden. Die Genehmigung eines Vorhabens ohne die erforderlichen Stellplätze kann im Einzelfall gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme verstoßen. Dies hat das Oberverwaltungsgericht bereits für den Anwendungsbereich des § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO entschieden (Urt.v.13.10.1995 - 1 BA 10/94 - , ZfBR 1997,166 <nur Leitsatz>; vgl. auch Niedersächsisches OVG, Beschl.v.14.03.1997 - 1 M 6589/96 <juris>), und dies gilt auch für den Fall, dass sich das Gebot der Rücksichtnahme - wie hier - aus § 34 Abs. 1 BauGB ergibt (ebenso OVG Nordrhein-Westfalen NVwZ-RR 1999,365 <366>).

Die Pflicht zur Rücksichtnahme nach § 34 Abs. 1 BauGB gilt nicht nur im Verhältnis des Bauherrn zum Nachbarn, sondern ist eine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme. Einerseits kann umso mehr Rücksicht verlangt werden, je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des betroffenen Nachbarn ist; andererseits braucht der Bauherr umso weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die mit seinem Vorhaben verfolgten Interessen sind. Erforderlich ist deshalb eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Bauherrn und andererseits dem betroffenen Nachbarn im Einzelfall zuzumuten ist (BVerwGE 52,122 <126>).

a)

Voraussetzung für eine solche Abwägung ist aber, dass der Nachbar überhaupt eine abwägungserhebliche Position gegenüber dem Vorhaben besitzt, denn Rücksicht nehmen muss der Bauherr nur auf solche Positionen des Nachbarn, die wehrfähig sind, weil sie nach der gesetzgeberischen Wertung, die im materiellen Recht ihren Niederschlag gefunden hat, schützenswert sind (BVerwG NVwZ 1994,686 <687>).

Auf die Pflicht, ausreichenden Parkraum für die Nutzer der Hochschulgebäude zu schaffen, kann sich der Antragsteller deshalb nur insoweit berufen, als deren Verletzung geeignet ist, die bestimmungsgemäße Nutzung seines eigenen Grundstücks zu beeinträchtigen. Eine solche Beeinträchtigung liegt - jedenfalls solange der freie Zugang zum Grundstück des Antragstellers möglich ist - nicht schon darin, dass die angrenzenden Straßen durch Fahrzeuge von Nutzern der Hochschule frequentiert, insbesondere zum Parken in Anspruch genommen werden und ihm selbst nur noch mit den daraus folgenden Einschränkungen zur Verfügung stehen (BVerwG GewArch 1998,254 <255>). Das durch das Eigentum und die Baugenehmigung vermittelte Recht des Antragstellers zur bestimmungsgemäßen Nutzung seines Grundstücks begründet kein Recht auf bevorzugte Nutzung des angrenzenden öffentlichen Straßenraums. Probleme, die sich aus der Verteilung knappen öffentlichen Straßenraums auf verschiedene Verkehrsteilnehmer ergeben, sind mit den Mitteln des Straßenverkehrsrechts zu lösen (vgl. für den ruhenden Verkehr die Anwohnerparkregelung in § 45 Abs. 1b Nr. 2a StVO).

Der Hinweis der Beschwerde auf die "völlige Überlastung der angrenzenden Wohnstraßen" vermag deshalb noch keine Verletzung des Rücksichtnahmegebots zu begründen. Als rücksichtslos kann der Verzicht auf die notwendigen Stellplätze nur dann gerügt werden, wenn der durch ihn bewirkte parkende Verkehr und Parksuchverkehr den Nachbarn in der Wohnnutzung seines Grundstücks beeinträchtigt. Dies setzt in der Regel entsprechende Immissionen, insbesondere Lärm- und Abgaseinwirkungen, voraus.

b)

Im Rahmen der Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Bauherrn und andererseits dem Nachbarn nach Lage der Dinge zuzumuten ist, ist auch die Situationsvorbelastung des Grundstücks des Nachbarn zu berücksichtigen. Diese ist hier dadurch gekennzeichnet, dass das Wohngebiet, zu dem das Grundstück des Antragstellers gehört, seit Jahrzehnten dadurch belastet ist, dass sich in seiner Mitte eine Ausbildungseinrichtung befindet, die örtlichen und überörtlichen Verkehr anzieht. Die Belastung schlägt sich insbesondere darin nieder, dass der Besucherverkehr der Hochschule im Zuge der fortschreitenden Motorisierung allmählich gestiegen ist, ohne dass der Raum für ihn, insbesondere für die Aufnahme des ruhenden Verkehrs, in gleicher Weise hätte vergrößert werden können. Diese Problematik besteht seit langem und wird nicht erst durch das hier in Streit stehende Vorhaben geschaffen. Die vorhandene Vorbelastung muss der Antragsteller hinnehmen. Der jetzt genehmigte Erweiterungsbau ist nur dann rücksichtlos, wenn er zu einer Steigerung der vorhandenen Beeinträchtigungen führt, die entweder erstmals die Schwelle der Unzumutbarkeit übersteigt oder aber eine zuvor schon unzumutbare Belastung spürbar verschärft. Dass dieser rechtliche Ausgangspunkt des Verwaltungsgerichts (vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen NVwZ-RR 1999, 365 <367>) zutreffend ist, stellt auch die Beschwerde nicht in Abrede.

Eine Steigerung des Verkehrs, die diese Voraussetzungen entgegen der Annahme der Verwaltungsgerichts erfüllen würde, zeigt sie aber nicht auf. Die Erweiterung der Hörsaal- und Seminarraumkapazität am Standort ... dient der Deckung des Raumbedarfs der dort bisher schon vorhandenen nautischen und wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge. Die Erwartung des Antragstellers, allein die Erweiterung der Nutzfläche dieser Gebäude werde eine größere Zahl von Studenten anziehen, ist deshalb nicht gerechtfertigt. Sie beruht auf der irrigen Annahme, die Nachfrage nach Studienplätzen und deren tatsächliche Inanspruchnahme werde allein von der räumlichen Kapazität der Hochschulgebäude bestimmt. Auch der Vortrag der Beschwerde, die Eröffnung der Mensa werde zusätzlichen Verkehr von anderen Standorten der Hochschule anziehen, vermag nicht zu überzeugen. Der Antragsteller übersieht, dass am Standort ... eine Mensa vorhanden ist. Warum Studenten von dort in großer Zahl die Mensa am Standort ... aufsuchen sollten, ist nicht ersichtlich. Wahrscheinlicher ist eher die umgekehrte Annahme des Verwaltungsgerichts, mit der Eröffnung der Mensa am Standort ...- anstelle der bisherigen Ausgabe vorgefertigter Mahlzeiten - entfalle ein Anreiz für die Studenten, sich zum Mittagessen vom Standort ... zum Standort ... zu begeben und anschließend zurückzukehren. Die Plausibilität dieser Erwägungen hat der Antragsteller nicht erschüttert.

Zu Unrecht wendet er sich auch gegen die weitere Erwägung des Verwaltungsgerichts, angesichts der bekannten Parkplatzprobleme, der Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs und der Möglichkeit, diesen ohne Mehrkosten mit dem Semester-Ticket zu benutzen, sei zu erwarten, dass die Studenten im innerstädtischen Verkehr verstärkt auf Busse und Bahnen umsteigen würden. Die Beschwerde verkennt den Argumentationszusammenhang des Verwaltungsgerichts, wenn sie kritisiert, dies laufe darauf hinaus, dass nicht mehr die Nachfrage nach Stellplätzen das vorzuhaltende Angebot bestimme, sondern führe dazu, dass umgekehrt die Weigerung, das erforderliche Angebot an Stellplätzen einzurichten, die Vernachlässigung der vorhandenen Nachfrage rechtfertige. Dem Verwaltungsgericht geht es in diesem Zusammenhang aber erkennbar nicht um eine Reduzierung der Stellplatzpflicht, sondern um die weitere tatsächliche Entwicklung des Besucherverkehrs im Rahmen der Frage, ob dieser die - bisher nicht erreichte - Schwelle der Unzumutbarkeit überspringt. Dabei ist sein Hinweis auf die zunehmende Attraktivität des öffentlichen Personennahverkehrs eine von mehreren Erwägungen. Gründe, warum diese Annahme in der Sache unzutreffend sein sollte, zeigt die Beschwerde nicht auf.

Eine Steigerung des Verkehrsaufkommens, die zu unzumutbaren Beeinträchtigungen des Grundstücks des Antragstellers führen könnte, ist vom Verwaltungsgericht daher zu Recht verneint worden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 13 Abs. 1, 20 Abs. 3 GKG.

Ende der Entscheidung

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