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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 06.08.2007
Aktenzeichen: 1 B 315/07
Rechtsgebiete: AufenthG


Vorschriften:

AufenthG § 104a Abs. 2
Zu den Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsregelung nach der Altfallregelung des § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (-E).
Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: 1 B 315/07

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richterin Dreger sowie die Richter Göbel und Alexy am 06.08.2007 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen - 4. Kammer - vom 01.08.2007 wird mit Ausnahme der darin enthaltenen Streitwertfestsetzung aufgehoben.

Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, von der für den 09.08.2007 geplanten Abschiebung abzusehen und dem Antragsteller eine Duldung bis zum Ablauf eines Monats nach der Bescheidung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem künftigen § 104a Aufenthaltsgesetz in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (2. Zuwanderungsänderungsgesetz), längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten zu erteilen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Entsprechend einem auf § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gestützten Erlass des Senators für Inneres und Sport vom 17.04.2007 wird im Land Bremen die Abschiebung von Ausländern, die von den Regelungen der §§ 104a und 104b des von der Bundesregierung beschlossenen Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (2. Änderungsgesetz zum Zuwanderungsgesetz; BR-Drs. 224/07) begünstigt werden, für die Dauer von sechs Monaten ausgesetzt. § 104a AufenthG-E enthält eine "Altfallregelung", die in Abs. 2 Satz 1 u.a. bestimmt:

"Dem geduldeten volljährigen ledigen Kind eines geduldeten Ausländers, der sich am 1. Juli 2007 seit mindestens acht Jahren .... ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten hat, kann eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 Satz 1 erteilt werden, wenn es bei der Einreise minderjährig war und gewährleistet erscheint, dass es sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann."

Das Gesetz ist inzwischen von Bundestag (14.06.2007, PlPr 16/103)) und Bundesrat (06.07.2007, PlPr 835) beschlossen, aber noch nicht ausgefertigt und verkündet worden.

Der 1986 geborene Antragsteller reiste 1995 mit seinen Eltern nach Deutschland ein. Die Eltern gaben sich und ihre Kinder zunächst unter falschem Namen als Kurden aus dem Libanon aus und betrieben erfolglos Asylverfahren. Im Jahre 1999 wurden die wahre Identität der Familie und ihre türkische Staatsangehörigkeit aufgedeckt. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts wurde die Familie "seither" geduldet. Die letzte dem Antragsteller erteilte Duldung war bis zum 18.06.2007 befristet. Einen Antrag, ihm in Umsetzung des Beschlusses der Innenministerkonferenz vom 17.11.2006 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, lehnte die Antragsgegnerin mit - bestandskräftigem - Bescheid vom 27.02.2007 ab. Dem Versuch, ihn am 09.05.2007 abzuschieben, entzog sich der Antragsteller. Am 10.07.2007 wurde der Antragsteller in Abschiebehaft genommen; seine Abschiebung ist für den 09.08.2007 geplant. In seinem am 16.07.2007 beim Verwaltungsgericht eingegangenen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung macht der Antragsteller zugleich geltend, er habe einen Anspruch auf Duldung nach dem erwähnten Erlass, da er zu dem von § 104a Abs.2 AufenthG-E begünstigten Personenkreis gehöre. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag abgelehnt. Dagegen richtet sich die Beschwerde vom heutigen Tage. Die Antragsgegnerin hat telefonisch zu der Beschwerde Stellung genommen.

II.

Die Beschwerde ist begründet.

Die Aussetzung der Abschiebung ist geboten, um die Vereitelung eines Rechts des Antragstellers zu verhindern. Zur Abwendung wesentlicher Nachteile von dem Antragsteller ist die Antragsgegnerin zu verpflichten, seinen Aufenthalt einstweilen zu dulden, um eine Entscheidung über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu ermöglichen. Der Anspruch auf eine solche Duldung ergibt sich aus der Verwaltungspraxis der bremischen Ausländerbehörden, wie sie durch den Erlass des Senators für Inneres und Sport vom 17.04.2007 beschrieben wird, in Verbindung mit dem Gleichheitssatz. Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand des Senats, der wegen des unmittelbar bevorstehenden Abschiebungstermins nicht weiter vertieft werden kann, ist zumindest ernsthaft in Betracht zu ziehen, dass der Antragsteller zu dem von § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG-E begünstigten Personenkreis gehört. Es spricht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Antragsgegnerin eine Ermessensentscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wird treffen müssen.

Das ergibt sich aus den folgenden Erwägungen:

1.

Dem - angekündigten und nach Inkrafttreten des Gesetzes zu bescheidenden - Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG -E steht die Bestandskraft des Bescheids vom 27.02.2007 nicht entgegen. Mit der Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 2 AufenthG-E wird nämlich ein neuer Aufenthaltstitel geschaffen, der sich sowohl nach seinen rechtlichen Voraussetzungen als auch nach seiner inhaltlichen Ausgestaltung von dem Aufenthaltstitel unterscheidet, der dem Antragsteller in Umsetzung der Bleiberechtsregelung der Innenministerkonferenz hätte erteilt werden können.

2.

...

Nach der Stellungnahme, die die Antragsgegnerin gegenüber dem Verwaltungsgericht abgegeben hat, erfüllt der Antragsteller als geduldetes volljähriges lediges Kind eines geduldeten Ausländers die "zeitlichen Voraussetzungen" des § 104a Abs. 2 AufenthG-E.

3.

§ 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG-E verlangt eine "positive Integrationsprognose" (Gesetzesbegründung, BR-Drs. 224/07, S. 367). Nach dem Wortlaut des Gesetzes muss gewährleistet "erscheinen", dass sich der Ausländer "aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann". Ob damit ein Prognosemaßstab aufgestellt werden soll, der gegenüber der Regelung in § 104 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, ("eine Integration zu erwarten ist") abgesenkt ist, kann offen bleiben. Dafür könnte sprechen, dass die Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 2 AufenthG-E - anders als die nach § 104 Abs. 4 Satz 1 AufenthG - nur bis zum 31.12.2009 erteilt und nur verlängert werden kann, wenn es dem Ausländer gelingt, bis dahin die Sicherung seines Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit, also eine erfolgreiche berufliche Integration, nachzuweisen (§ 104a Abs. 5 AufenthG-E).

a)

In jedem Fall sind die Dauer des Aufenthalts, die Sprachkenntnisse des Ausländers und sein Schulabschluss gewichtige Punkte für eine positive Integrationsprognose (vgl. den gegenüber der Antragsgegnerin ergangenen Beschluss des Senats vom 13.07.2007 - 1 B 383/06 - zu § 104 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Der Antragsteller hält sich seit 12 Jahren in Deutschland auf, beherrscht die deutsche Sprache und hat einen Hauptschulabschluss erworben. Ein solcher Abschluss ist entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin keine Selbstverständlichkeit, denn im Jahre 2002 - dem Jahr, in dem der Antragsteller die Schule beendete - verließen fast 20% der ausländischen Jugendlichen das allgemeinbildende Schulsystem ohne jeden Schulabschluss (vgl. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, 2005, S. 53). Zwar hat der Antragsteller nach seinem Schulabschluss weder eine berufliche Ausbildung begonnen noch ist er einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Das kann ihm aber schon deshalb nicht zu seinem Nachteil vorgehalten werden, weil er daran jedenfalls in den letzten Jahren aus Rechtsgründen gehindert war. Seit 2005 enthielt seine Duldung die Nebenbestimmung "Erwerbstätigkeit nicht gestattet". Nach Auffassung der Antragsgegnerin stand und steht der Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis nach § 11 BeschVerfV die Identitätstäuschung bei der Einreise entgegen. Ob dem Antragsteller bis 2004 eine Arbeitserlaubnis erteilt worden wäre, erscheint zweifelhaft, kann aber dahinstehen, weil diese jedenfalls keinen Bestand gehabt hätte. Der Antragsgegnerin ist einzuräumen, dass der Antragsteller rechtlich nicht gehindert gewesen wäre, an berufsvorbereitenden Maßnahmen teilzunehmen. Eine solche Maßnahme mag wünschenswert gewesen sein, sie ist aber - zumal unter Berücksichtigung der damals ungewissen Zukunftsaussichten - keine notwendige Voraussetzung für eine positive Integrationsprognose. Die Motivation eines Jugendlichen, an einer berufsvorbereitenden Maßnahme teilzunehmen, ist verständlicherweise nicht sehr ausgeprägt, wenn er damit rechnen muss, nach Abschluss der Maßnahme keinen Beruf ausüben zu dürfen. Entscheidend für eine positive Prognose ist daher vielmehr, ob der Antragsteller dann, wenn die rechtlichen Hindernisse für eine Erwerbstätigkeit bei Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegfallen, eine Berufstätigkeit wird aufnehmen können. Das hat er durch die Vorlage einer Beschäftigungszusage nachgewiesen.

b)

Auch die Tatsache, dass der Antragsteller mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, steht einer positiven Integrationsprognose nicht entgegen. Eine strafgerichtliche Verurteilung des Antragstellers liegt nicht vor. Straftaten dürfen aber auch dann zu Lasten des Ausländers berücksichtigt werden, wenn sie nicht zu einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe von mindestens 50 Tagessätzen geführt haben. Die entsprechende Einschränkung des Ausschlusstatbestands in § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG-E begründet insoweit keine Sperrwirkung für § 104a Abs. 2 AufenthG-E. Erforderlich ist aber, dass sich aus den festgestellten Taten persönliche Defizite ergeben, die eine positive Prognose ausschließen (vgl. für die vergleichbare Regelung in § 104 Abs. 2 Satz 2 AufenthG den bereits zitierten Beschluss des Senats vom 13.07.2007). Entsprechende Feststellungen hat das Verwaltungsgericht nicht getroffen. Sie lassen sich auch weder aus seiner Sachverhaltsdarstellung noch aus den - notgedrungen lückenhaften - Informationen in den Behördenakten entnehmen. Aus den Vorkommnissen, die zur Einstellung des Verfahrens geführt haben, lässt sich - jedenfalls ohne nähere Kenntnis des Sachverhalts - keine durchgängige Entwicklungstendenz in dem Sinne ableiten, dass damit gerechnet werden müsse, der Antragsteller werde auch in Zukunft dazu neigen, mit dem Strafgesetz in Konflikt zu geraten. Schwerwiegender sind die Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung und eines Verstoßes gegen das Waffengesetz. Beide Ermittlungsverfahren sind aber noch nicht abgeschlossen, und das dem Antragsteller zur Last gelegte Verhalten ist - jedenfalls soweit sich dies aus der Behördenakte ergibt - noch nicht hinreichend aufgeklärt, um daraus Rückschlüsse ziehen zu können. Die Antragsgegnerin wird, wenn sie sich bei ihrer Entscheidung über die Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers auf diese Verfahren stützen will, die Strafakten beiziehen und den aktuellen Stand des Verfahrens berücksichtigen müssen.

4.

Liegen die Voraussetzungen des § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG-E vor, wird in Zukunft eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt werden können. Ob darin eine "Rechtsfolgenverweisung" zu sehen ist (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 104a Abs. 1, a.a.O., S. 367) oder ob mangels eines ausdrücklichen Ausschlusses auch noch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG zu prüfen sind (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 104a Abs. 2 , a.a.O., S. 367), kann hier offen bleiben. Nach § 5 Abs. 3 AufenthG kann nämlich bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG von der Anwendung der Absätze 1 und 2 des § 5 AufenthG abgesehen werden. Erforderlich ist daher zumindest eine Ermessensentscheidung, deren Ergebnis gegenwärtig nicht vorweggenommen werden kann. Bei dieser Entscheidung ist dem humanitären Sinn und Zweck der Altfallregelung Rechnung zu tragen. Der Vortrag der Antragsgegegnerin gibt darüber hinaus Veranlassung, auf Folgendes hinzuweisen: Es wäre ermessensfehlerhaft, die Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung abzulehnen, der Lebensunterhalt sei nicht gesichert (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), weil der Ausländer keiner Erwerbstätigkeit nachgehe, obwohl dem Ausländer eine Erwerbstätigkeit bisher aus Rechtsgründen verwehrt war. Zur Beschaffung eines Passes (§ 5 Abs. 1 i.V.m. § 3 AufenthG) ist dem Ausländer vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens hinreichend Gelegenheit zu geben (vgl. den gegenüber der Antragsgegnerin ergangenen Beschluss vom 14.12.2006 - 1 B 437/06 -).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 GKG.

Ende der Entscheidung

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