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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 26.06.2009
Aktenzeichen: 1 B 552/08
Rechtsgebiete: AufenthG, AufenthVO


Vorschriften:

AufenthG § 5 Abs. 1
AufenthG § 5 Abs. 2
AufenthG § 30 Abs. 1
AufenthVO § 39 Nr. 3
1. Der Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG ist nur erfüllt, wenn der Ausländer zuvor auf die Rechtsfolgen seines Verhaltens hingewiesen wurde. Die Hinweispflicht gilt auch dann, wenn das Visum von einem anderen Anwenderstaat des Schengener Durchführungsübereinkommens erteilt worden ist.

2. § 39 Nr. 3 AufenthG setzt voraus, dass die Ehe, auf die der Anspruch auf Ehegattenachzug gestützt wird, nach der Einreise in das Bundesgebiet geschlossen wurde.

3. Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen bei Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug von einem Sichtvermerksverstoß abgesehen werden kann.


Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen Beschluss

OVG: 1 B 552/08

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Prof. Alexy, Dr. Grundmann und Dr. Bauer am 26.06.2009 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Bremen - 4. Kammer - vom 13.10.2008 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung aufgehoben.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 01.08.2008 wird hinsichtlich der Versagung der Aufenthaltserlaubnis angeordnet und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung wiederhergestellt.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren ebenfalls auf 3750,00 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die am 01.02.1973 geborene Antragstellerin ist ukrainische Staatsangehörige. Sie hat am 07.08.2007 in der Ukraine den am 07.05.1966 geborenen kasachischen Staatsangehörigen A. A. geheiratet. Ihr Ehemann lebt in Deutschland, ist hier als gewerblicher Arbeitnehmer tätig und im Besitz einer Niederlassungserlaubnis.

Die Antragstellerin reiste am 22.03.2008 mit einem von der niederländischen Botschaft in der Ukraine ausgestellten Schengen-Visum, das für die Zeit vom 21.03.2008 bis zum 17.04.2008 einen Besuchsaufenthalt im Schengenraum erlaubte, nach Deutschland ein. Am 31.03.2008 beantragte sie bei der Antragsgegnerin eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, um bei ihrem Ehemann leben zu können.

Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 01.08.2008 ab. Die Antragstellerin müsse wegen des von ihr erstrebten Daueraufenthalts gemäß §§ 5 Abs. 2 S. 1, 6 Abs. 4 S. 1 AufenthG von der Ukraine aus ein Visumverfahren durchführen. Dafür, dass die Nachholung des Visumverfahrens unzumutbar im Sinne von § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG sein könnte, lägen keine Anhaltspunkte vor. § 39 Nr. 3 AufenthV, der die Verteilung eines längerfristigen Aufenthaltstitels auch ohne Durchführung eines Visumverfahrens gestatte, komme nicht zur Anwendung, weil die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in ihrem Fall nicht nach der Einreise entstanden seien. Überdies habe die Antragstellerin, indem sie gegenüber der niederländischen Botschaft bei Beantragung des Schengen-Visums ihre wahre Aufenthaltsabsicht verschwiegen habe, den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG verwirklicht. Von dem Erlass einer Ausweisungsverfügung werde abgesehen, um die Durchführung des Visumverfahrens nicht zu erschweren.

Die Antragstellerin legte Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden ist. Zugleich beantragte sie einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht. Sie machte geltend, dass ihr Ehemann aufgrund seiner Erwerbstätigkeit den Unterhalt der Familie sichern könne. Die Nachholung des Visumverfahrens von der Ukraine aus sei ihr nicht zuzumuten. Ein solches Verfahren dauere erfahrungsgemäß mehrere Monate. Sie betreue die chronisch kranke Tochter ihres Ehemannes aus dessen erster Ehe. Außerdem sei sie seit dem 01.08.2008 als Aushilfe bei einem ambulanten Pflegedienst beschäftigt. Sie verfüge inzwischen über hinreichende Kenntnisse der deutschen Sprache.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung mit Beschluss vom 13.10.2008 abgelehnt. Der Antragstellerin dürfe gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, weil in ihrem Fall ein Ausweisungsgrund gegeben sei, nämlich der des § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG. Sie habe gegenüber der niederländischen Botschaft in der Ukraine bei der Beantragung des Schengen-Visums falsche Angaben zu ihrem Aufenthaltszweck gemacht. Auf die Rechtsfolgen eines solchen Verhaltens sei sie hingewiesen worden. Zwar könne die Ausländerbehörde gemäß § 27 Abs. 3 S. 2 AufenthG in Fällen des Familiennachzugs nach pflichtgemäßen Ermessen von dem Vorliegen des Ausweisungsgrundes absehen und habe die Antragsgegnerin bislang ihr diesbezügliches Ermessen nicht ausgeübt. Dieser Ermessensausfall sei für die getroffene Entscheidung aber nicht kausal geworden. Denn die Behörde habe die für die Ermessenausübung maßgeblichen Gesichtspunkte bereits im Zusammenhang mit der Frage geprüft, ob gemäß § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG von der Durchführung des Sichtvermerksverfahrens abgesehen werden könne.

Die Antragstellerin hat rechtzeitig Beschwerde eingelegt. Sie macht geltend, sie habe bei Beantragung des Schengen-Visums keine falschen Angaben gemacht, weil sie den Entschluss, bei ihrem Ehemann zu bleiben, erst nach der Einreise nach Deutschland gefasst habe. Im Übrigen sei sie von der niederländischen Botschaft nicht darauf hingewiesen worden, dass solche Angaben einen Ausweisungsgrund darstellen würden. Weiterhin habe das Verwaltungsgericht ihre familiären Verhältnisse nicht ausreichend berücksichtigt. Sie sei für die chronisch kranke Tochter ihres Ehemannes inzwischen zu einer wichtigen Bezugsperson geworden.

Die Antragsgegnerin ist der Beschwerde entgegengetreten. An dem Sichtvermerksverstoß der Antragstellerin könne kein Zweifel bestehen. Eine Sondersituation, die es rechtfertigen würde, von diesem Verstoß in ihrem Fall abzusehen, sei nicht gegeben.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Das Oberverwaltungsgericht gelangt bei der im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen Interessenabwägung zu dem Ergebnis, dass das Interesse der Antragstellerin, einstweilen von der Durchsetzung der ausländerbehördlichen Verfügung vom 01.08.2008 verschont zu bleiben, das öffentliche Vollziehungsinteresse überwiegt. Im Einzelnen ergibt sich das aus Folgendem:

1. Nach derzeitigem Sachstand drängt sich auf, dass die Antragstellerin einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat.

a) Die speziellen Voraussetzungen für einen Ehegattennachzug sind mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erfüllt.

(1) Der Ehemann der Antragstellerin ist im Besitz eines der in § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG genannten Aufenthaltstitel, nämlich einer Niederlassungserlaubnis.

(2) Überdies liegen deutliche Hinweise dafür vor, dass auch die weitere in § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG genannte Voraussetzung, dass der nachziehende Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann, inzwischen erfüllt ist. Die Antragstellerin hat mit Schreiben vom 29.04.2008 gegenüber der Ausländerbehörde angegeben, täglich einen privaten Sprachkurs zu besuchen. Seit dem 01.08.2008 ist sie als Aushilfe bei einem ambulanten Pflegedienst beschäftigt, was den erfolgreichen Erwerb entsprechender deutscher Sprachkenntnisse indiziert.

b) Weiterhin kann angenommen werden, dass die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG erfüllt sind.

(1) Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Aufgrund der Erwerbstätigkeit des Ehemannes der Antragstellerin ist diese Voraussetzung erfüllt (vgl. Bl. 30 BA)

(2) Darüberhinaus verlangt § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG für den Regelfall, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt. Ist ein Ausweisungsgrund gegeben, ist die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis danach grundsätzlich ausgeschlossen. Sie darf nur ausnahmsweise erteilt werden, wobei die Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, der vollständigen gerichtlichen Überprüfung unterliegt.

Das Verwaltungsgericht hat im vorliegenden Fall den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 1a AufenthG als erfüllt angesehen. Nach dieser Vorschrift kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn er in einem Verwaltungsverfahren, dass von Behörden eines Anwenderstaates des Schengener Durchführungsübereinkommens durchgeführt wurde, im In- oder Ausland falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung - unter anderem - eines Schengen-Visums gemacht hat, soweit der Ausländer zuvor auf die Rechtsfolgen solcher Handlungen hingewiesen worden ist.

Das Oberverwaltungsgericht folgt dem Verwaltungsgericht darin, dass sich im vorliegenden Fall die Schlussfolgerung aufdrängt, dass die Antragstellerin gegenüber der niederländischen Botschaft in der Ukraine falsche Angaben zu ihrem Aufenthaltszweck gemacht hat. Ihr ist auf ihren Antrag ein Visum für einen Kurzaufenthalt vom 21.03.2008 bis 17.04.2008 erteilt worden, tatsächlich hat sie aber nach Lage der Dinge einen Daueraufenthalt in Deutschland angestrebt. Das Verwaltungsgericht hat dies in dem angefochtenen Beschluss im Einzelnen begründet; der Senat nimmt hierauf Bezug. In der Beschwerde werden stichhaltige Gründe, die diese Einschätzung in Zweifel ziehen könnten, nicht genannt.

Allerdings fehlt es an der weiteren Voraussetzung für die Erfüllung des Ausweisungstatbestandes, nämlich des ausdrücklichen Hinweises auf die ausweisungsrechtlichen Folgen solcher Angaben. Die Hinweispflicht ist bei Einfügung der Vorgängerregelung des jetzigen § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG in das damalige Ausländergesetz (Neufassung von § 46 Nr. 1 AuslG durch Art. 11 des Terrorismusbekämpfungsgesetzes vom 09.01.2002, BGBl. 1, S. 361) bewusst als weitere Voraussetzung in den Ausweisungstatbestand aufgenommen worden. Zu einer Ausweisung als Sanktion auf die falsche oder unvollständige Angabe soll es nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers nur kommen, wenn zuvor ein entsprechender Hinweis erfolgt ist (vgl. BT-Drs 14/7386 (neu), S. 56, zu Art. 11 Nr. 7). Aus diesem Grund ist es auch nicht statthaft, bei einem Ausländer, der die in § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG genannten Verhaltensweisen gezeigt hat, aber nicht zuvor auf die ausweisungsrechtlichen Folgen diesen Verhaltens hingewiesen worden ist, "jedenfalls" den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG als erfüllt anzusehen - hier in Form eines Verstoßes gegen den Straftatbestand des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (vgl. OVG Bremen, B. v. 31.03.2003 - 1 B 348/02 - NordÖR 2003, 211).

Die Antragstellerin ist bei Beantragung des Schengen-Visums nicht auf die ausweisungsrechtlichen Folgen falscher oder unvollständiger Angaben hingewiesen worden. Der harmonisierte Vordruck für die Beantragung eines einheitlichen Visums im Schengen-Raum (veröffentlicht im Europäischen Amtsblatt vom 16.12.2002, C 313) enthält einen solchen Hinweis nicht. Dort wird zwar unter Nr. 44 ausgeführt, dass falsche Angaben zur Aufhebung des Visums führen können oder eine Strafverfolgung zur Folge haben können, von einer Ausweisung ist aber nicht die Rede. Bei der Ausweisung handelt es sich um eine ordnungsrechtliche Maßnahme mit spezifischen aufenthaltsrechtlichen Wirkungen. Die fehlende Nennung unter der Nr. 44 des harmonisierten Vordrucks bedeutet, dass damit nicht auf diese Maßnahme hingewiesen worden ist. Die deutschen Auslandsvertretungen ergänzen den harmonisierten Vordruck deshalb anscheinend, wie dem Oberverwaltungsgericht aus anderen Verfahren bekannt ist, (vgl. Verfahren Az. 1 B 172/09), um eine vom jeweiligen Antragsteller zu unterzeichnende zusätzliche Erklärung mit dem Inhalt, dass eine Belehrung über die ausweisungsrechtlichen Folgen falscher Angaben erfolgt sei.

Das Merkblatt, das der Antragstellerin nach Auskunft der niederländischen Botschaft an das Verwaltungsgericht bei Aushändigung des Schengen-Visums übergeben worden ist, enthält ebenfalls keinen Hinweis auf die ausweisungsrechtlichen Folgen.

Der Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kann unter diesen Umständen mangels der in dieser Vorschrift verlangten Belehrung nicht als erfüllt angesehen werden. Damit steht § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis entgegen.

Ob und unter welchen Voraussetzungen im Falle falscher Angaben bei Beantragung eines SchengenVisums eine Ausnahme von der Regel des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG angenommen werden kann (vgl. dazu BayVGH, B. v. 18.05.2009 - 10 CS 09.853 - Juris, Rn. 21), kann deshalb im vorliegenden Fall dahinstehen.

2. Gemäß § 39 Nr. 3 AufenthV kann ein Ausländer, der im Besitz eines gültigen Schengen-Visums für kurzfristige Aufenthalte ist und der die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erfüllt, diesen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen, wenn die Anspruchsvoraussetzungen nach der Einreise entstanden sind. § 39 AufenthV beruht auf der Ermächtigung in § 99 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.

Die Antragstellerin war zwar, als sie die Aufenthaltserlaubnis beantragte, im Besitz eines gültigen Schengen-Visums. Sie kann sich aber gleichwohl nicht auf § 39 Nr. 3 AufenthV berufen.

Diese Vorschrift stellt maßgeblich darauf ab, dass die Anspruchsvoraussetzungen für den längerfristigen Aufenthaltstitel nach der Einreise entstanden sind. Welche subjektiven Vorstellungen der Ausländer bei der Beantragung des Schengen-Visums gehabt hat, ist dabei unbeachtlich. Aus diesem Grund steht der Anwendung der Vorschrift nicht entgegen, dass der Ausländer möglicherweise bereits bei Beantragung des Visums einen längerfristigen Aufenthalt erstrebte (BayVGH, B. v. 18.05.2009 - 10 CS 09.853 - Rn. 17, Juris; VGH Mannheim, B. v. 08.07.2008 - 11 S 1041/08 - Rn. 17 InfAuslR 2008, 444).

Im Falle der Antragstellerin sind die Anspruchsvoraussetzungen jedoch nicht nach der Einreise entstanden. Die Eheschließung (07.08.2007) ist vor der Einreise (22.03.2008) erfolgt, so dass die Anwendung von § 39 Nr. 3 AufenthV ausscheidet. Eine vor der Einreise geschlossene Ehe fällt nicht in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift, eine andere Sichtweise ließe sich kaum mit Wortlaut und Zweck der Vorschrift vereinbaren (vgl. BayVGH, B. v. 18.05.2009 - 10 CS 09.853 Rn. 17, Juris, B. v. 23.12.2008 - 19 CS 08.577 - Rn. 15, Juris; OVG Lüneburg, B. v. 28.08.2008 - 13 ME 131/08 - Rn. 8, Juris). Aus diesem Grund führt auch der Umstand, dass die Anspruchsvoraussetzungen hier - in Gestalt des Erwerbs deutscher Sprachkenntnisse (§ 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG) - teilweise erst nach der Einreise entstanden sind, nicht zur Anwendbarkeit von § 39 Nr. 3 AufenthV (a. A. VGH Mannheim, B. v. 08.07.2008 - 11 S 1041/08 - Rn. 18, InfAuslR 2008, 444).

3. Soweit die speziellen Voraussetzungen des § 39 AufenthV nicht gegeben sind, ist der Aufenthaltstitel für einen längerfristigen Aufenthalt gemäß § 6 Abs. 4 S. 1 AufenthG vor der Einreise einzuholen. Dementsprechend sieht § 5 Abs. 2 S. 1 AufenthG vor, dass die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels nur in Betracht kommt, wenn der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist und die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat. Die Vorschrift soll gewährleisten, dass bei längerfristigen Aufenthalten das Visumverfahren beachtet wird. Abzustellen ist dabei im Hinblick auf die "Erforderlichkeit" eines Visums auf Zweck und Dauer des aktuell begehrten Aufenthaltstitels (OVG Lüneburg, B. v. 28.08.2008 - 13 ME 131/08 - Rn. 3, Juris; VGH Mannheim, B. v. 30.03.2006 - 13 S 389/06 - Rn. 10, InfAuslR 2006, 323; B. v. 14.03.2006 - 11 S 1797/05 - Rn. 12, Juris).

Die Visumspflicht gilt auch bei der Familienzusammenführung. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, dass es mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG grundsätzlich vereinbar ist, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Das Visumverfahren biete Gelegenheit, die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu prüfen. Das Aufenthaltsgesetz trage dabei dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, indem es unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG im Einzelfall erlaube, von dem grundsätzlichen Erfordernis der Einreise mit dem erforderlichen Visum abzusehen (vgl. BVerfG, B. v. 10.05.2008 - 2 BvR 588/08 - InfAuslR 2008, 347; B. v. 04.12.2007 - 2 BvR 2341/06 - InfAuslR 2008, 239; OVG Bremen, B. v. 17.11.2008 - 1 B 542/08).

Die Antragstellerin unterliegt danach wegen des von ihr erstrebten längerfristigen Aufenthalts grundsätzlich der Visumpflicht.

Gemäß § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG kann von der Durchführung eines Visumverfahrens abgesehen werden, wenn - 1. Alternative - die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt sind oder - 2. Alternative - es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Die Vorschrift trägt insoweit dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung. Die Ausländerbehörde hat, sofern eine der beiden genannten tatbestandlichen Alternativen erfüllt ist, sich diese verfassungsrechtliche Vorgabe zu vergegenwärtigen und eine sorgfältige, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgerichtete Ermessensentscheidung zu treffen.

Die Antragsgegnerin hat im Ablehnungsbescheid vom 01.08.2008 beide tatbestandlichen Alternativen des § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG als nicht erfüllt angesehen. Weder seien die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt noch sei der Antragstellerin die Nachholung des Visumverfahrens von der Ukraine aus unzumutbar.

Jedenfalls in Bezug auf die 1. Alternative des § 5 Abs. 2 S. 1 AufenthG ist diese Annahme nicht haltbar. Die Antragstellerin erfüllt, wie dargelegt, die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Sie hat deshalb einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung, ob in ihrem Fall von der Durchführung eines Visumverfahrens abgesehen wird. Eine solche Ermessensentscheidung ist bislang nicht getroffen worden. In ihrem Rahmen sind der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie Art. 6 GG zu berücksichtigen. In den vom Bundesministerium des Inneren erarbeiteten "Vorläufigen Anwendungshinweisen zum Aufenthaltsgesetz" (VAH-AufenthG) heißt es dazu, dass in Fällen, in denen die materielle Prüfung der Ausländerbehörde bereits zugunsten des Ausländers abgeschlossen ist, vermieden werden soll, dass das Visumverfahren lediglich als leere Förmlichkeit durchgeführt werden muss (Nr. 5.2.2). Das in § 5 Abs. 2 S. 2 1. Alternative AufenthG eröffnete Ermessen ist dabei nicht nur dann eröffnet, wenn der Entschluss zu einem Daueraufenthalt erst nach der Einreise entstanden ist.

Ob darüber hinaus auch die 2. Alternative des § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG erfüllt ist, mag dahinstehen. Die Antragstellerin hatte insoweit gegenüber der Antragsgegnerin unter anderem geltend gemacht, die Durchführung eines formellen Visumverfahrens in der Ukraine würde wegen der erfahrungsgemäß langwierigen Dauer eine mehrmonatige Trennung von ihrem Ehemann zur Folge haben. Sollte diese Angabe zutreffen, wäre zu erwägen, ob noch von einer allgemein hinnehmbaren Dauer eines Visumverfahrens ausgegangen werden kann (vgl. dazu BVerfG, B. v. 10.05.2008 - 2 BvR 588/08 - InfAuslR 2008, 347), was für die Frage der Zumutbarkeit eine Rückkehr relevant sein könnte. Wegen der Erfüllung bereits der 1. Alternative des § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG kann dies hier aber auf sich beruhen.

4. Die Ermessensentscheidung über das Absehen von der Visumpflicht wird im Widerspruchsverfahren nachzuholen sein. Nach Vorstehendem ist ernsthaft in Betracht zu ziehen, dass diese Entscheidung zugunsten der Antragstellerin ausfällt. Aus diesem Grund überwiegt das private Interesse der Antragstellerin, einstweilen von der Durchsetzung der Verfügung vom 01.08.2008 verschont zu bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 GKG.

Ende der Entscheidung

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