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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 30.07.2002
Aktenzeichen: 1 S 244/02
Rechtsgebiete: VwGO, ZPO


Vorschriften:

VwGO § 166
ZPO § 114
ZPO § 124 Nr. 1
1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten nach § 114 ZPO ist Zeitpunkt, zu dem der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe entscheidungsreif ist (Bestätigung des Senatsbeschlusses vom 13.09.1988 (NVwZ-RR 1989,585).

2. Der Entscheidungsreife eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren steht nicht entgegen, dass ein gleichzeitig angestrengtes Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung noch nicht rechtskräftig abgeschlossen worden ist.

3. Verändern sich die Erfolgsaussichten der Klage nach Eintritt der Entscheidungsreife zu Lasten des Klägers, ist dies ohne Einfluss auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, es sei denn, eine Bewilligung zum maßgeblichen Zeitpunkt wäre durch eine unrichtige Darstellung des Streitverhältnisses durch den Kläger bewirkt worden.


OVG 1 S 244/02

Beschluss

In der Verwaltungsrechtssache

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 1. Senat - durch die Richter Stauch, Göbel und Nokel am 30.07.2002 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen - 4. Kammer - vom 10.06.2002 wird aufgehoben.

Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe für das Verfahren 4 K 438/01 bewilligt; ihm wird Rechtsanwalt S. zur Vertretung beigeordnet.

Gründe:

Die Beschwerde des Klägers ist begründet.

I.

Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger zu Unrecht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit der Begründung versagt, die Klage habe keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).

1.

Wie das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss zutreffend ausführt, ist maßgebend für die Beurteilung der Erfolgsaussichten nicht der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, sondern der Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozeßkostenhilfeantrags. Der Senat hat dazu in seinem Beschluss vom 13.09.1988 (NVwZ-RR 1989,585) ausgeführt:

"Das Gericht hat ... über den Antrag zu entscheiden, sobald die Anspruchsvoraussetzungen geklärt sind... Wenn die Rechtsverfolgung zu diesem Zeitpunkt noch beabsichtigt ist, hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint, bewilligt das Gericht - sofern auch die hier nicht in Streit befindlichen subjektiven Voraussetzungen gegeben sind - die beantragte Prozeßkostenhilfe. Stellt sich im weiteren Verlauf des Prozesses heraus, dass die sachlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe doch nicht oder nicht mehr gegeben sind, hat das - abgesehen vom Fall der Täuschung über den Sachverhalt (§ 124 Nr. 1 ZPO) - keinen Einfluss auf die bewilligte Prozesskostenhilfe. Hat das Gericht es im Einzelfall - aus welchen Günden auch immer - versäumt, über einen entscheidungsreifen Prozesskostenhilfeantrag zu beschließen, dürfen der bedürftigen Partei durch diese Verzögerung billigerweise keine Nachteile entstehen, die ihr im Fall der rechtzeitigen Beschlussfassung nicht entstanden wäre. Auch in einem solchen Fall bleibt daher der Zeitpunkt der Entscheidungsreife maßgebend."

Daran ist in Übereinstimmung mit der wohl herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur (vgl. die Nachweise bei Olbertz, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO <Stand Januar 2002>, Rn 52f. zu § 166) festzuhalten.

2.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren war hier spätestens zu dem Zeitpunkt entscheidungsreif, als das Verwaltungsgericht die Beklagte mit Beschluss vom 24.09.2001 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtete, dem Kläger eine Duldung bis zu einem Monat nach der erfolgten Lebertransplantation seiner Tochter, längstens für die Dauer von sechs Monaten, zu erteilen. In der Begründung dieses Beschlusses hat das Verwaltungsgericht nämlich ausgeführt, es sei von einem Duldungsanspruch des Klägers nach § 55 Abs. 3 AuslG auszugehen, weil dringende humanitäre oder persönliche Gründe seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erforderten und das der Behörde eröffnete Ermessen nach den Erkenntnissen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auf "Null" reduziert sei. Das Verwaltungsgericht hat insoweit keine Interessenabwägung bei offenem Sachverhalt vorgenommen, sondern ist bei seiner Entscheidung von einer zu diesem Zeitpunkt als zweifelsfrei festehend angenommenen Tatsachengrundlage ausgegangen. Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, welche Hindernisse einer Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag für das Hauptsacheverfahren noch entgegen standen.

Das gilt unbeschadet der Tatsache, dass der Kläger die Erteilung einer Duldung nicht nur für die Zeit bis einem Monat nach der Lebertransplantation, längstens für sechs Monate, sondern ohne zeitliche Befristung beantragt hatte. Zwar hat das Verwaltungsgericht insoweit den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, weil zur Zeit noch nicht prognostiziert werden könne, wie sich das Aufenthaltsrecht des Klägers nach Durchführung der Lebenstransplantation bei seiner Tochter darstelle. Die insoweit bestehende Ungewissheit war durch die Offenheit der zukünftigen Entwicklung bedingt und ließ sich nicht durch weitere Ermittlungen des Gerichts im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens nach § 118 Abs. 2 ZPO beseitigen, so dass sie der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags nicht entgegen stand.

3.

Zu Unrecht meint das Verwaltungsgerichts, es habe die Erfolgsaussichten der Klage nicht hinreichend sicher beurteilen können, weil es "das Ergebnis einer bevorstehenden obergerichtlichen Entscheidung in dem dazugehörigen Eilverfahren" habe abwarten wollen, "um sich mit dieser für die Beurteilung einer streitigen Rechtsfrage auseinanderzusetzen".

Diese Auffassung ist im rechtlichen Ansatz verfehlt. Die Entscheidung über einen Prozesskostenhilfeantrag in einem Klageverfahren kann schon deshalb nicht von der obergerichtlichen Entscheidung über einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz abhängig gemacht werden, weil die Kosten, von denen der Kläger durch die Prozesskostenhilfe entlastet werden soll, bereits durch die Erhebung der Klage ausgelöst werden. Die Klage ist unabhängig davon innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist zu erheben, ob ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt worden ist oder noch gestellt werden kann. Im übrigen wird nicht jedes Klageverfahren notwendigerweise von einem Eilverfahren begleitet. Auch dann, wenn ein Eilverfahren - wie hier - beim Verwaltungsgericht anhängig gemacht worden ist, ist keinesfalls sicher, ob ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eingelegt wird und zu einer obergerichtliche Entscheidung führt. Daraus, dass er oder - wie hier - die Beklagte ein solches Verfahren betreibt, dürfen dem Kläger keine Nachteile für das Hauptsacheverfahren entstehen. Solche Nachteile entstünden aber, wenn über seinen Prozesskostenhilfeantrag wegen des Eilverfahrens nicht entschieden würde, während ein Kläger, der in einem vergleichbaren Fall auf die Einleitung eines Eilverfahrens verzichtet hat, einen Anspruch auf Entscheidung seines Prozesskostenhilfeantrags hätte.

Die Begründung des Verwaltungsgerichts wird aber auch dem tatsächlichen Prozessverlauf nicht gerecht. Die Ablehnung der Prozesskostenhilfe beruht nämlich nicht auf einer Auseinandersetzung mit der Rechtsauffassung, die das Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 07.01.2002 geäußert hat, mit dem der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Beschwerde abgelehnt worden ist, sondern auf der Würdigung des Vortrags neuer Tatsachen im Schriftsatz der Beklagten vom 25.09.2001, den das Verwaltungsgericht in seinem Eilbeschluss vom 24.09.2001 noch nicht berücksichtigen konnte.

4.

Diese neuen Tatsachen sind in der Tat geeignet, die Erfolgsaussichten der Klage in Frage zu stellen. Entsprechendes gilt für den Beschluss des Amtsgerichts Bremerhaven vom 01.11.2001, mit dem der Antrag des Klägers auf Einräumung eines gemeinsamen Sorgerechts für seine Tochter abgelehnt worden ist. Dazu hat der Senat in seinem Beschluss vom 07.01.2001 ausgeführt:

"Der Antragsgegnerin (= Beklagte) ist zuzugestehen, dass die Erklärungen der Kindesmutter die Frage aufwerfen, ob im gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich noch die vom Verwaltungsgericht angenommene Beziehung zwischen dem Antragsteller (= Kläger) und seiner Tochter besteht. Andererseits ist jedoch nicht zu bestreiten, dass der Antragsteller jedenfalls in der Vergangenheit seelische Beistandsleistungen erbracht hat. Selbst nach der Erklärung der geschiedenen Ehefrau hat er bis Ende August 2001 bei deren Eltern gelebt. Angesichts der unterschiedlichen Erklärungen der Ehefrau des Antragstellers lässt sich der Stand der Beziehungen des Antragstellers zu seiner Tochter gegenwärtig nicht ohne weitere Aufklärung des Sachverhalts bewerten."

Dementsprechend hat das Verwaltungsgericht dem Kläger am 28.05.2002 aufgegeben, über die aktuellen Kontakte zu seiner Tochter vorzutragen. Dem ist der Kläger bisher nicht nachgekommen. Der Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die Klage gegenwärtig keine Aussicht auf Erfolg verspreche, ist deshalb nicht zu widersprechen.

5.

Für die Entscheidung über die Prozesskostenhilfe kommt es darauf aber nicht an, weil diese Entwicklung nach dem maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Antrags liegt. Danach eingetretene Veränderungen können, wie das Oberverwaltungsgericht bereits in dem zitierten Beschluss vom 13.09.1988 ausgeführt hat, nur unter den Voraussetzungen berücksichtigt werden, unter denen eine rechtzeitige Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 124 Nr. 1 ZPO aufgehoben werden könnte. Erforderlich dafür ist, dass die Partei durch unrichtige Darstellung des Streitverhältnisses die für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe maßgebenden Voraussetzungen vorgetäuscht hat. Eine solche Feststellung kann hier aber nicht getroffen werden. Zwar ist die Richtigkeit der Erklärung des Klägers in seinem Schriftsatz vom 05.03.2001, er besuche seine Tochter in der Regel wöchentlich, seit sie sich wieder (seit dem 29.11.2000) in stationärer Behandlung im Universitätskrankenhaus ... befinde, dadurch in Zweifel gezogen worden, dass das Amtsgericht Bremerhaven in seinem Sorgerechtsbeschluss vom 01.11.2001 ausgeführt hat, dass sich der Kläger seit Januar (2001) nicht mehr um Kontakte zu seiner Tochter bemüht habe. Aus der - nicht näher belegten - Feststellung des Amtsgerichts allein kann aber schon deshalb nicht geschlossen werden, eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife wäre durch eine unrichtige Darstellung des Klägers bewirkt worden (zum Erfordernis der Ursächlichkeit vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 60. Aufl. 2002, Rn 32 zu § 124), weil dem Verwaltungsgericht neben den eigenen Angaben des Klägers auch eine eidesstattliche Versicherung seiner Schwiegermutter vom 22.02.2001 vorlag, derzufolge der Kläger guten und intensiven Kontakt zu seiner Tochter habe und sie nahezu jedes Wochenende besuche, seit er Ende Oktober 2000 Haftlockerungen bekommen habe. Anhaltspunkte dafür, dass (auch) diese eidesstattliche Versicherung, deren unrichtige Abgabe strafbar ist, auf eine Täuschungshandlung des Klägers zurückzuführen sein könnte, sind nicht ersichtlich. Im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens besteht deshalb keine Veranlassung, die Frage aufzuklären, ob und wann der Kläger die Kontakte zu seiner Tochter eingestellt hat.

6.

Für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Kläge zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags ist unerheblich, dass der Kläger seinen Antrag, die Beklagte zu Erteilung einer Duldung ohne zeitliche Befristung gestellt hatte. Nach § 55 Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 AuslG ist die Duldung zeitlich zu befristen. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger ein von dieser gesetzlichen Regelung abweichendes Ziel verfolgen und eine unbefristete Duldung begehren wollte, ließen sich seinem Vorbringen nicht entnehmen. Das galt umso mehr, als er im Behördenverfahren selbst nur die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis, hilfsweise einer Duldung für die Dauer des von ihm angestrengten Verfahrens wegen Befristung seiner Ausweisung bis zur damals angeblich beabsichtigten erneuten Eheschließung mit seiner geschiedenen Frau beantragt hatte. Es sprach deshalb jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags alles dafür, dass das Begehren des Klägers in der mündlichen Verhandlung auf entsprechenden Hinweis des Vorsitzenden (vgl. § 86 Abs. 3 VwGO) im Sinne einer Befristung präzisiert und dadurch eine Teilabweisung der Klage vermieden worden wäre.

II.

Die Entscheidung über die Beiordnung von Rechtsanwalt S. beruht auf § 166 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

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